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Dieser Beitrag ist Teil von Was kann gegen die Investitionsschwäche in Deutschland getan werden?

Die deutsche Konjunktur steckt fest, so scheint es. War es bereits im Schlussquartal des vergangenen Jahres zu einer Schrumpfung der gesamtwirtschaftlichen Leistung gekommen, so ist nach einer Stagnation zu Jahresbeginn die wirtschaftliche Entwicklung seit dem zweiten Quartal in einer technischen Rezession gelandet. Es ist nicht ausgemacht, dass es dabei bleibt, auch wenn die Prognosen für das kommende Jahr überwiegend eine konjunkturelle Erholung erwarten lassen. Stagnation und leichte Schrumpfung gehören zu den Konjunkturphänomenen, die das Potenzial nachhaltiger Schleifspuren in der Volkswirtschaft haben. Es fehlt der Trigger für eine Wende zum Besseren, die Fantasie dafür erhält jedenfalls derzeit keine Nahrung.

Konjunkturell ist das Bild klar konturiert: Der Konsum leidet unter realen Kaufkraftverlusten. Die Nettoexporte der deutschen Volkswirtschaft sanken bereits im Jahr 2022 auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren durch verteuerte Importe und die Nachfrageschwäche unserer Exportzielländer. Die Bauinvestitionen sind durch steigende Zinsen und hohe Baukosten deutlich unter Druck geraten. Die Bruttoausrüstungsinvestitionen des Verarbeitenden Gewerbes liegen (preisbereinigt) im Jahr 2022 immer noch 8 % unter dem Niveau des Vor-Corona-Jahres 2019. Auf der Produktionsseite zeigt sich ein massiver Einbruch bei den energieintensiven Industrien infolge der hohen Energiekosten, was sich auch in den geringen Investitionen in den energieintensiven Industrien im Vergleich zu den anderen Branchen widerspiegelt (vgl. Abbildung 1). So investieren die energieintensiven Branchen schon seit längerer Zeit weniger, als es zum Substanzerhalt notwendig wäre. All das zeigt, wie sehr die gesamtwirtschaftliche Lage durch seit Längerem wirksame Schwierigkeiten auf der Angebotsseite geprägt ist.

Abbildung 1
Bruttoausrüstungsinvestitionen im Verarbeitenden Gewerbe

preisbereinigt, Index 2000 = 100

Bruttoausrüstungsinvestitionen im Verarbeitenden Gewerbe

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Schon damit wird deutlich, dass es bei der Frage nach der angemessenen wirtschaftspolitischen Reaktion nicht um die Mobilisierung nachfragepolitischer Instrumente gehen kann. Dies wird umso klarer, wenn einerseits die Vorgeschichte der schwierigen Lage berücksichtigt und andererseits ein Blick auf die strukturellen Herausforderungen gerichtet wird. Das Verarbeitende Gewerbe ist nicht erst mit der Pandemie oder dem Energiepreisschock in eine rezessive Entwicklung gekommen, sondern bereits seit 2018 (vgl. Abbildung 2). Seitdem vollzieht der Produktionsindex in der Industrie einen beachtlichen Rückgang. Offenkundig liegen die Probleme des deutschen Geschäftsmodells mit seinem Industrie-Dienstleistungsverbund tiefer als es die beiden Schocks vermuten lassen. Und die Unsicherheiten über den Fortgang der Globalisierung angesichts der Global Power Competition im Systemkonflikt zwischen China und dem transatlantischen Westen belasten vor allem den großen Gewinner der fortgeschrittenen weltwirtschaftlichen Integration: die deutsche Wirtschaft.

Abbildung 2
Industrierezession seit 2018

Produktionsindex Verarbeitendes Gewerbe, saison- und kalenderbereinigt, quartalsweise, Q1/2018 = 100 und Trendlinie seit 2018

Industrierezession seit 2018

Linearer Trend ab Q1/2018: y = -0,005x + 312,94.

Quellen: Statistisches Bundesamt, Macrobond.

Prognosen zufolge wird das Erwerbspersonenpotenzial bis 2060 um 11,7 % sinken, denn die steigende Erwerbsquote kann den deutlichen Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nur sehr begrenzt abfedern (Hellwagner et al., 2023). Bereits seit Längerem belastet der Fachkräftemangel die Unternehmen in ihrer Anpassungsflexibilität und trübt die Aussichten auf einen angemessenen Erhalt oder gar Ausbau der Kapazitäten; die knappheitsbedingten Lohnprämien sind angestiegen. Zu alledem kommt hinzu, dass die deutsche Volkswirtschaft in einem forcierten Strukturwandel steckt – ein Strukturwandel per Termin, denn im Jahr 2045 sollen laut Klimagesetz Produktion und Konsum klimaneutral sein. Die Unternehmen müssen darauf alle ihre Anstrengungen richten. Doch das erfordert klare, konsistente und verlässliche Rahmenbedingungen bei ohnehin bestehenden Unsicherheiten über die technischen Möglichkeiten.

Erschwert wird die Transformation zur Klimaneutralität dadurch, dass zum einen die Interdependenzen entlang der Wertschöpfungskette und in den Produktionsverbünden sehr groß sind und damit wechselseitige Abhängigkeiten den Erfolg des einzelnen Unternehmens bestimmen. Zum anderen sind die international tätigen Unternehmen von unterschiedlichen politischen Priorisierungen des Ziels der Klimaneutralität unmittelbar in ihrer Wettbewerbsfähigkeit betroffen. Angesichts gezielter wirtschaftspolitischer Ambitionen anderer Länder, vor allem aber angesichts der günstigeren Energiekosten in den meisten Industriestaaten haben sich die Bedingungen für die deutschen Unternehmen seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine dramatisch verändert.

Das hat zu einer intensiven politischen und ökonomischen Diskussion über das Risiko einer Deindustrialisierung in Deutschland geführt (Hüther et al., 2023b, 3 ff.). Jüngst hat die Deutsche Bundesbank (2023, 15 ff.) im Monatsbericht dieses Risiko als nachrangig und zugleich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit trotz einer beachtlichen Verschlechterung am aktuellen Rand als „im Mittel noch eher günstig“ bewertet. Überzeugend sind diese Relativierungen nicht, denn es mangelt einer konzeptionellen Fassung der Deindustrialisierung und der Blick auf eine Art realer Wechselkurse kann die Standortbedingungen nicht erfassen. Der Sachverständigenrat hat mit Blick auf die Transformation in den neuen Bundesländern seinerzeit „die Gefahr einer Deindustrialisierung“ als „einen nachhaltigen, irreversiblen Verfallsprozess“ beschrieben, der weit über das Schrumpfen im normalen Strukturwandel hinausgeht. Das wäre zu befürchten, „wenn man davon ausgehen müsste, dass die Standortbedingungen in den jungen Bundesländern auf längere Sicht erheblich schlechter blieben als in den alten“ (SVR, 1993).

Entsprechend sind gegenwärtig in der skizzierten Situation die allgemeinen Standortbedingungen als zentraler Ansatzpunkt der Wirtschaftspolitik zu sehen. Die Vielfältigkeit der besonderen Herausforderungen, denen die Unternehmen sich gegenübersehen, verlangt eine breit angelegte Verbesserung. Denn die strukturellen Belastungen für die deutsche Wirtschaft – politisch forcierter Strukturwandel bei Erosion der globalen wie nationalen Grundlagen für das Geschäftsmodell – manifestieren sich in deutlich verminderten Prognosen für das Potenzialwachstum, das mit rund 0,5 % spürbar geringer sein wird als bis zur Pandemie (1,5 % bis 1,75 %) (Boysen-Hogrefe et al., 2023).

Das Wachstumschancengesetz

Die Bundesregierung hat seit ihrem Amtsantritt wenig Augenmerk auf die Standortbedingungen gelegt. Einerseits war der Druck groß, das Tempo für die Dekarbonisierung der Volkswirtschaft zu erhöhen, um die Vorgaben des Klimagesetzes von 2021 zu erfüllen, andererseits war mit dem Kriegsbeginn Russlands gegen die Ukraine Krisenmanagement zur Vermeidung einer Gasmangellage gefordert. Das aber ändert nichts an dem zuvor ermittelten Handlungsbedarf. Im Gegenteil: Es wird immer deutlicher, dass die Transformation nur gelingen kann, wenn sie wachstumspolitisch gerahmt wird. Es funktioniert nicht, diesen Umbau der Volkswirtschaft von den Voraussetzungen für Wertschöpfung und Wachstum zu entkoppeln. Die Bundesregierung sieht sich deshalb mehrfach gefordert (Hüther et al., 2023a):

  • Erstens ist sie an die eigenen Versprechen auf mittelfristig günstige Energie gebunden und wird aufgefordert, die Zeit bis dahin – Anfang bis Mitte der 2030er Jahre – durch entsprechende Unterstützung für die Unternehmen (Brückenstrompreis, Stromsteuerabsenkung auf EU-Niveau, Reform der Netzentgelte) zu überbrücken. Da die Unternehmen nun vor großvolumigen Investitionsentscheidungen stehen, um die Transformation leisten zu können, ist es entscheidend, dafür verlässliche Aussichten zu schaffen.
  • Zweitens sind allgemein die Investitionsbedingungen am Standort Deutschland zu verbessern. Entscheidend ist dafür, das immanente Kostenproblem in den Griff zu bekommen. Deutschland war auch bisher kein kostengünstiger Standort, konnte diesen Nachteil aber durch andere Vorteile ausgleichen. Dies gelingt immer weniger, weil die anderen Standortvorteile schwinden und die Kostennachteile weiter ansteigen. Handlungsbedarf besteht – abgesehen von den Energiekosten – insbesondere bei der Steuer- und Abgabenbelastung der Unternehmen.
  • Drittens müssen bestehende Stärken des Standorts gesichert und ausgebaut werden. Dazu gehört eine Intensivierung von Forschung und Entwicklung ebenso wie die Modernisierung der alternden Verkehrsnetze und die Stärkung digitaler Infrastrukturen. Aufgrund der demografischen Entwicklung droht der Fachkräftemangel sich zu verschärfen. Qualifizierte Zuwanderung, Stärkung der Bildungserfolge sowie längere Lebens- und Wochenarbeitszeit sind Ansatzpunkte, bei denen Verbesserungen notwendig sind, um die hohen Kosten am Standort und damit auch die hohen Gehälter weiterhin rechtfertigen zu können.
  • Viertens müssen für einen dynamischen Wettbewerb umfangreiche bürokratische Lasten reduziert, vereinfacht und digitalisiert werden, um unternehmerische Anpassungen und Neugründungen zu ermöglichen. Die Fokussierung der Ressourcen auf die produktiv­sten Verwendungen ist essenziell für die Transformation und Sicherung einer wettbewerbsfähigen Industrie.

Daran gemessen bleiben das Wachstumschancengesetz der Bundesregierung (BMF, 2023c, 8 ff.) und der Deutschland-Pakt des Bundeskanzlers unzureichend. Das gilt vor allem mit Blick auf die steuerliche Entlastung der Unternehmen. Zwar wurden mit der neuen Investitionsprämie für Klimaschutz und der stärkeren steuerlichen Förderung von Ausgaben für Forschung und Entwicklung wichtige Akzente gesetzt, doch bleiben die Impulse zu schwach. Denn die Eingrenzung des neuen Instruments der Investitionsprämie – sofortige Liquiditätswirkung, gewinnunabhängig – auf energieeffizienzsteigernde Investitionen ist viel zu eng und verkennt den oben hergestellten Zusammenhang der grünen Transformation mit den allgemeinen Wachstumsbedingungen. Hier ist im Wachstumschancengesetz eine wirkliche Chance vertan worden.

Und die immer wieder in konjunkturellen Krisen von der Politik bemühte degressive Abschreibung wird angesichts des damit einhergehenden Liquiditätseffekts, verbunden mit einem überschaubaren Zinseffekt, nichts an den Wachstumsperspektiven der deutschen Volkswirtschaft ändern können. Positiv bleibt die Verbesserung der Forschungszulage durch Ausweitung der förderfähigen Aufwendungen auf bestimmte Sachkosten, doch wird das wenig an der insgesamt nicht sehr attraktiven Ausgestaltung der im Jahr 2020 eingeführten steuerlichen FuE-Förderung ändern. Bislang blieb die Nutzung weit hinter den Erwartungen hierzulande und den Erfahrungen anderer Länder zurück. Dass der während der Pandemie im Jahr 2020 erhöhte Maximalbetrag beim Verlustrücktrag beibehalten sowie der Verlustrücktragzeitraum auf drei Jahre ausgeweitet wird, ist letztlich aber nicht mehr als die Aufrechterhaltung des bestehenden Rechtsstatus. Hier wäre mehr möglich und sinnvoll gewesen.

So ist das Gesetz – gerade mit Blick auf die Steuervereinfachung – zwar eine Ansammlung richtiger und wichtiger Änderungen des Steuerrechts, doch ohne einen zu erwartenden durchschlagenden volkswirtschaftlichen Effekt (vgl. Tabelle 1). Da hilft es wenig, wenn das Finanzministerium betont, dass dieses Gesetz „eine ordnungspolitischen Prinzipien folgende angebotsorientierte Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik“ (BMF, 2023c, 14) verkörpere. Zu wenig bleibt zu wenig. Fragwürdig ist darüber hinaus das Plädoyer des Ministeriums für „eine klare Ausrichtung der Finanzpolitik am Ziel fiskalischer Resilienz und finanzpolitischer Solidität“ (BMF, 2023c, 14). Denn solide wird eine Finanzpolitik, wenn sie sich langfristig als tragfähig erweist.

Tabelle 1
Makroökonomische Wirkung des Wachstumschancengesetzes

Simulation der Abweichung gegenüber der Situation ohne Gesetz

    2024 2025 2026 2027 2028
Reales BIP Mrd. Euro 2,4 2,7 2,6 2,2 1,9
Reale BIP-Rate Prozentpunkte 0,07 0,01 0 -0,01 -0,01
Erwerbstätige 1.000 Personen 6 10 11 11 10
Arbeitslosenquote Prozentpunkte 0 -0,1 -0,1 -0,1 -0,1
Staatseinnahmen Mrd. Euro 0,9 1,1 1,3 1,5 1,6

Quelle: vfa, Simulation des Wachstumschancengesetzes: Richtung stimmt, Effekte zu gering, vfa Economic Policy Brief 09-23.

Relevant ist dafür vor allem die Zins-Steuer-Quote. Diese wird sich – laut Bundesfinanzministerium (2023a, 24 ff.) – im Jahr 2023 auf rund 8,4 % erhöhen und sich damit gegenüber dem Vorjahr (3,2 %) mehr als verdoppeln. Die hohen Schuldenaufnahmen in den Pandemiejahren wirken sich hier ebenso aus wie die Aufkommenseffekte des Inflationsausgleichsgesetzes sowie das Jahressteuergesetz 2022 (BMF, 2023b, 24 ff.). Allerdings dürfte in den kommenden Jahren die zu erwartende Wachstumsschwäche zu deutlich geringeren Steuereinnahmen führen, sodass deren Bekämpfung auch durch eine mutigere Steuer- und Finanzpolitik sowie damit eine Anregung der Unternehmensinvestitionen, die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen stärken dürfte.

Chancen für mehr Wachstum durch eine mutige Steuer- und Finanzpolitik

Dass der wirtschaftspolitische Handlungsbedarf angesichts der sich abzeichnenden Wachstumsschwäche mit dem Wachstumschancengesetz nicht gedeckt ist, wurde zuletzt für jeden an der aufkeimenden Debatte darüber erkennbar, ob Deutschland nach 25 Jahren erneut der „Kranke Mann Europas“ sei. Anders als seinerzeit formulierte der Economist (2023) diesmal seine These als Frage: „Is Germany once again the sick man of Europe? Its ills are different from 1999. But another stiff dose of reform is still needed“. In der Tat gibt es Unterschiede, doch in ihrer Tiefe und Breite unterscheidet sich die Herausforderung grundsätzlich nicht (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2
„The sick man of Europe“ – revisited

Vergleich der deutschen Wachstumskrise 1998 und 2023

  1998 2023
Externe Heraus-forder-ungen Wiedervereinigung, Finanzkrisen (Asien- und Russlandkrise, Dotcom-Bubble-Burst), Abschwächung der Exportmärkte, Vorschatteneffekte der Einführung des Euro Erschütternde Geopolitik, grüne und digitale Transformation, demografischer Wandel, Verlangsamung des Welthandels
Interne Probleme hohe Sozialversicherungsbeiträge, sklerotischer Arbeitsmarkt, überhöhte Arbeitskosten und Lohnnebenkosten, hohe Staatsverschuldung, hohe Bundesbankzinsen aufgrund der Wiedervereinigung, PISA-Schock 2000 Energiepreisschock, überhöhte Energiepreise, Lieferkettenprobleme, Abhängigkeiten (China, Russland), finanzpolitische Vorsicht, Fachkräftemangel, Infrastrukturmängel, aufstrebende populistische radikale Rechte (AfD), Bürokratie
Folgen Arbeitslosenquote im zweistelligen Bereich (> 10 %), Rezession/niedrige Wachstumsaussichten, Problem der Wettbewerbsfähigkeit Hohe Inflation, Rezession/geringe Wachstumsaussichten, geringes Potenzialwachstum, zu wenig Investitionen, Problem der Wettbewerbsfähigkeit
Deutsche Industrie reagiert mit verstärkten Auslandsinvestitionen. Deutsche Industrie reagiert verstärkt mit Verlagerungen (relative Standortkosten).

Quelle: eigene Zusammenstellung.

Ende der 1990er Jahre erschien die deutsche Volkswirtschaft sklerotisch und persistent durch hohe strukturelle Arbeitslosigkeit geprägt; verursachend wirkten dabei zusammen die Finanzierungsfolgen der Wiedervereinigung, die globalen Krisen mit der Folge deutscher Exportschwäche und die Zinskonvergenz auf dem Weg zur Europäischen Währungsunion. Mit den Reformen der Agenda 2010 am Arbeitsmarkt und im Sozialsystem kam Deutschland in einem wieder dynamischeren weltwirtschaftlichen Umfeld zu neuer Wachstumsdynamik, sodass es dabei von 2006 bis 2017 seine größten Partner übertraf und mit den USA Schritt halten konnte. Das hat sich seit der Pandemie grundlegend verändert. Deutschland, genauer das deutsche Geschäftsmodell – industriebasiert und exportorientiert – scheint aus dem Takt gekommen zu sein. „To be sure, things are not as alarming as they were in 1999. Unemployment today is around 3%; the country is richer and more open. But Germans increasingly complain that their country is not working as well as it should“ (The Economist, 2023).

Gemessen an der Situation vor einem Vierteljahrhundert unterscheidet sich die gegenwärtige Lage vor allem durch die Beschäftigungsentwicklung und die Arbeitslosigkeit; beide Indikatoren entwickelten sich bis zuletzt positiv und robust. Die nun am Arbeitsmarkt wirksam werdende demografische Alterung ist – wie angedeutet – der wesentliche Treiber für die Abschwächung des Potenzialwachstums. Daraus folgt, dass anders als seinerzeit nicht Strukturreformen am Arbeitsmarkt oder ein Umbau des Wohlfahrtsstaats vordringlich zu bewältigen sind, sondern eine umfassende Agenda der Investitionsstärkung, wie sie oben mit den vier Handlungssträngen skizziert wurde. Dabei gewinnt die Steuerpolitik eine besondere Bedeutung. Der mit dem Wachstumschancengesetz begonnene Weg sollte zu einer großen Steuerreform führen. Es sind zwar nicht alle zentralen Wachstumshemmnisse steuerlicher Herkunft, aber dort liegt ein großer Hebel. Die letzte größere Reform der Unternehmensbesteuerung wurde 2008 auf den Weg gebracht, andere Staaten haben sich zwischenzeitlich bewegt. So lag die effektive Steuerbelastung für Unternehmen 2022 hierzulande bei 28,8 %, im Durchschnitt der Europäischen Union hingegen bei 18,8 %.

Schnell und transparent könnte die Bundesregierung den Rest-Solidaritätszuschlag – weitgehend eine Unternehmenssondersteuer – abschaffen und eine Entlastung von 13 Mrd. Euro (2023) gewähren. Diese wäre kombiniert mit einer breit angelegten Investitionsprämie, die vor allem digitale Neuerungen nicht ausschließt, der Verbesserung der steuerlichen Forschungsförderung und einer großzügigen Ausweitung des steuerlichen Verlustabzugs ein gesetzlicher Aufschlag, der den Unternehmen in der Transformation mehr Raum für die notwendigen Anstrengungen ließe. Doch schon dieses Paket scheitert an den Möglichkeiten des Bundeshaushalts. Denn die jährlichen Mindereinnahmen beliefen sich insgesamt auf rund 20 Mrd. Euro. Vergleichbare Ausgabeneinsparungen sind nicht zu sehen, zudem sind für Verteidigung und Innere Sicherheit zweifellos zusätzliche Beträge aufzubringen.

Die dringend gebotene Abflachung des anreizfeindlichen Mittelstandsbauchs im Einkommensteuertarif – durch einen linear-progressiven Verlauf und eine Verschiebung des Spitzensteuersatzes – würde zusätzlich hohe Steuerausfälle verursachen. In den Wahlprogrammen für 2021 aller Koalitionsparteien waren in diese Richtung weisende Tarifreformen in Aussicht gestellt worden (Beznoska und Hentze, 2021). Davon ist nicht mehr die Rede. Auch die Möglichkeit einer dreistufigen Steuerreform wie 1986/1988/1990 und erneut 2001/2003/2005 wird offensichtlich nirgends erwogen. Politisch gibt es keinen Weg, eine solche Steuerentlastung im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse umzusetzen. Möglich sind Einmalausgaben, die in vielfältigen Sondervermögen verbucht werden. Ansonsten gilt: Steuerreformen müssen vorfinanziert werden, eine Selbstfinanzierung ist nicht mehr möglich.

Insofern ist das Gebotene heute politisch unwahrscheinlicher als vor 25 Jahren, wenngleich die Reformen am Arbeitsmarkt und in der sozialen Sicherung gesellschaftlich und politisch Sprengstoff in sich hatten. Das ist bei einer Reform der Schuldenbremse nicht zu erwarten. Denn es geht nicht darum, auf Schuldenregeln zu verzichten, sondern aus den Erfahrungen der vergangenen Dekade angesichts der großen Transformation zu lernen. Jedenfalls entpuppt die Schuldenbremse sich als effektive Steuersenkungsbremse und ist damit wachstumspolitisch bedenklich. Hinzu kommen die zu geringen öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur, die den zitierten Eindruck begründen, dass unser Land nicht so gut funktioniert, wie es sollte.

Betrachtet man beispielsweise die Entwicklung des Kapitalstocks pro Beschäftigten in den vergangenen zwei Jahrzehnten in wichtigen europäischen Volkswirtschaften, dann zeigt sich, dass Deutschland seit dem Jahr 2003 im Vergleich zu Frankreich, Spanien und Italien hierbei ins Hintertreffen geraten ist. So schwankt der Kapitalstock je Beschäftigten bei uns zwischen 200.000 und 205.000 Euro, während er in Frankreich bei 274.000 Euro, in Italien bei 244.000 Euro und Spanien bei 214.000 Euro liegt. Deshalb kommt zum steuerpolitischen Handlungsbedarf ein infrastrukturpolitischer Auftrag, der sicherlich nicht nur zusätzliche finanzielle Mittel erfordert, aber allein über Verfahrensbeschleunigung auch nicht zu bewältigen ist. Kurzum: Eine Reform der Schuldenbremse steht für einen wachstumspolitischen Aufbruch.

Literatur

Beznoska, M. und T. Hentze (2021), Einkommensteuerpolitik im Bundestagswahlkampf, IW-Policy Paper, 19.

BMF – Bundesministerium der Finanzen (2023a), Sollbericht 2023: Ausgaben und Einnahmen des Bundeshaushalts, Monatsbericht Februar.

BMF – Bundesministerium der Finanzen (2023b) Bundesfinanzministerium, Ergebnisse der Steuerschätzung vom 9. bis 11. Mai 2023, Monatsbericht Juni.

BMF – Bundesministerium der Finanzen (2023c), Mehr Chancen für Wachstum: mehr Investitionen, Innovationen und ein einfacheres Steuersystem, Monatsbericht September.

Boysen-Hogrefe, J., K.-J. Gern, D. Groll, N. Jannsen, S. Kooths, J. Reents, N. Sonnenberg, U. Stolzenburg, T. Hoffmann und V. Stamer (2023), Mittelfristprojektion im Frühjahr 2023: Wachstumspfad flacht sich merklich ab, Institut für Weltwirtschaft, Kieler Konjunkturberichte Mittelfristprojektion, 102.

Deutsche Bundesbank (2023), Wirtschaftsstandort Deutschland: ausgewählte Aspekte der aktuellen Abhängigkeiten und mittelfristigen He­rausforderungen, Monatsbericht September.

Hellwagner, T., D. Söhnlein und E. Weber (2023), Modeling Migration Dynamics in Stochastic Labor Supply Forecasting, IAB Discussion Paper, 202305.

Hüther, M., H. Bardt, C. Bähr, J. Matthes, K.-H. Röhl, C. Rusche und T. Schaefer (2023a), Industriepolitik in der Zeitenwende, IW Policy Paper, 7/2023.

Hüther, M., S. Bialek, C. Schaffranka, M. Schnitzer, S. Müller, E. Heymann, T. Maier, O. Falck, L. Flach, C. Pfaffl und C. Schneider (2023b), Deindustrialisierung: Schreckgespenst oder notwendiger Schritt im Strukturwandel der deutschen Wirtschaft?, ifo-Schnelldienst, 76(3).

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1993), Zeit zum Handeln – Antriebskräfte stärken, Jahresgutachten.

The Economist (2023), Is Germany once again the sick man of Europe?, The Economist, 17. August.

Title:Opportunities for More Growth Through Bold Fiscal and Financial Policies

Abstract:Germany’s manufacturing sector still shows gross fixed capital formation below pre-coronavirus levels and has been stuck in a recessionary trend since 2018. The advantages of German industry are at risk. Therefore, the federal government has to i) ensure that time is bridged and companies are supported until cheap energy is available, ii) improve investment conditions, iii) eliminate locational disadvantages (tax burdens, energy costs) and strengthen advantages (R&D, human capital) and iv) reduce bureaucratic costs. There is need for tax and growth policy reform. In this regard, the debt brake turns also acts as an effective brake on tax cuts and is thus questionable in terms of growth policy.

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© Der/die Autor:in 2023

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DOI: 10.2478/wd-2023-0185