Im Sommer 2022 hat die EZB die Inflationsbekämpfung per Zinserhöhung für sich wiederentdeckt. Nach mehr als zehn Jahren Abstinenz. Allerdings deutlich verspätet, denn die Inflation stand schon Ende 2021 bei 6 %. Das war noch vor Putins Angriff auf die Ukraine und vor der Gaskrise, die die Inflationsraten auf über 10 % getrieben hat. Seit dem 20. September 2023 ist der Einlagezinssatz der EZB bei 4 %. Das ist der Zins, der unter dem derzeitigen Operationsmodus entscheidend für den Geldmarkt ist. Aber das soll es nun gewesen sein – sagen zumindest die Finanzmärkte. Die Zins-Futures liegen bis ins nächste Jahr bei 4 %. Im Verlauf dieses zwar kurzen, aber tatsächlich rasanten Zinserhöhungszyklus von 4,5 Prozentpunkten lagen die Märkte jedoch öfters daneben. So zeigten die Futures etwa im Mai einen baldigen Höhepunkt von 3,5 % an, gefolgt von raschen Zinssenkungen noch in diesem Jahr. Ebenso haben die finanzmarktbasierten Inflationsprognosen in den vergangenen zwei Jahren das Ausmaß des Inflationsanstiegs stark unterschätzt.
Diese Prognosen sollten deshalb niemanden in Sicherheit wiegen. Trotzdem sind sich mehr und mehr EZB-Ratsmitglieder scheinbar sicher, das Zinsniveau sei hoch genug. Im Zweifel würde es reichen, den Notenbankzins länger auf diesem Niveau zu lassen – so etwa EZB-Ratsmitglied Fabio Panetta und sein Kollege Ignazio Visco von der Banca d’Italia bereits vor der letzten Sitzung am 14. September 2023. Auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte davor schon signalisiert, man fahre jetzt auf Sicht und müsse nach den neuesten Daten entscheiden. Die betreffende Sitzung nutzte sie dann doch für einen weiteren Zinsschritt. Im Nachgang ließ auch der französische Notenbankchef Villeroy de Galhau verlauten, es gäbe jetzt keine Rechtfertigung mehr für eine weitere Anhebung der Notenbankzinsen. Das dürfte Musik in den Ohren von Immobilienentwicklern und -finanziers sein. Denn für sie ist die Schmerzgrenze längst überschritten – schließlich ist ihr Geschäft praktisch zum Stillstand gekommen. Aber mal ehrlich, der Boom der vergangenen zehn Jahre mit Nahe-Nullzinsen und rasant steigenden Immobilien- und Baupreisen musste zu einem Ende kommen.
So schrieb der Sachverständigenrat bereits 2015 in seinem Jahresgutachten: „Eine erneute Finanzkrise könnte bei einem raschen Zinsanstieg nach einer langen Niedrigzinsphase drohen. Dieser könnte die Solvenz großer Teile des Bankensystems bedrohen […] Zudem kann bereits eine kleine Veränderung der Zinsen einen erheblichen Preisverfall in Vermögensmärkten auslösen.“ Und er hat diese Warnung regelmäßig wiederholt. Mit Zinsanstieg und Finanzmarktstress war irgendwann zu rechnen. Die Bankenprobleme im Frühjahr 2023 rührten von Risiken, die sich über lange Zeit sichtbar aufgebaut hatten. Sie sind auch noch nicht ausgestanden. Es sind weiterhin hohe Vermögensverluste zu verarbeiten. Immerhin – bisher scheinen die Finanzinstitute im Euroraum den Stress vergleichsweise gut auszuhalten. Und der EZB-Rat hat einen Beweis für seinen Willen zur Inflationsbekämpfung geliefert, also die Zinsen erhöht, auch wenn es im Finanzsystem kräftig rumpelt. Das war nötig. Denn man hatte bis Ende 2021 versucht, die Inflation als temporär abzutun – übrigens genauso wie die Fed.
Nun heißt es regelmäßig, die Modelle seien schuld gewesen. Sie hätten die Notenbanken in falscher Sicherheit gewogen. Man habe sich zu sehr auf deren Prognosen verlassen. Nun müsse man sich mehr an den aktuellen Daten, sprich der sichtbaren Inflation orientieren. Es wäre demnach kein Fehler der Damen und Herren auf der Kommandobrücke gewesen, sondern die ökonomischen Techniker, die die Instrumente der Wirtschaftsanalyse zu warten und regelmäßig auszulesen haben, hätten sie in die Irre geführt. Da machen sie es sich zu einfach. Die Modelle der monetären Ökonomie sind immer nur so gut, wie die Fragen, die man ihnen stellt. Und für die Fragen ist die Chefetage verantwortlich. Wenn man ein Modell, das postuliert, dass die Inflation vor allem durch die Inflationserwartungen bestimmt wird, mit den finanzmarktbasierten Prognosen füttert, dann sagt es natürlich eine schnelle Rückkehr zu langfristig 2 % voraus. Dagegen würde ein Modell mit sich selbst verstärkender Inflationspersistenz – etwa wegen des adaptiven Verhaltens bei Preis- und Lohnsetzung – das Risiko eines anhaltenden Inflationsanstiegs anzeigen. Darin spiegelt sich, was schon in den 1970er Jahren zu beobachten war. Und ein Modellrahmen, der die Geldmenge oder die Staatsverschuldung berücksichtigt, hätte 2020/2021 Alarm geschlagen, als die öffentlichen Kredite das Geldmengenwachstum in den zweistelligen Bereich katapultierten. Deshalb muss die Notenbank eine Bandbreite von Modellen, basierend auf historischen Erfahrungen, in Betracht ziehen und ihre Entscheidung mit Strategien abgleichen, die über unterschiedliche Modelle hinweg gute Ergebnisse liefern.
Tatsächlich folgt aus fast allen Modellen, die heutzutage im Modellbaukasten der Notenbanken zur Verfügung stehen, ein Prinzip für eine Geldpolitik, die die Inflation erfolgreich stabilisiert: dass der Notenbankzins um mehr als 1 : 1 mit der Inflation oder der kurzfristigen Inflationserwartung steigen muss. Es handelt sich um das sogenannte Taylor-Prinzip, benannt nach dem US-Ökonomen John Taylor, das zumindest perspektivisch eingehalten werden muss, damit in den Modellen die Inflation stabil bleibt. Und die Evaluation geldpolitischer Strategien mittels monetärer Modelle hat gezeigt, dass die Notenbank bei der Umsetzung dieses Prinzips in die Praxis nicht zu weit in die unsichere Zukunft blicken sollte. Sie sollte sich nicht an Prognosen, wo die Inflation in zwei oder drei Jahren liegen könnte, orientieren, sondern daran, wo sie jetzt steht oder in den nächsten ein, zwei Quartalen stehen dürfte.
Der EZB-Rat hat also mit dem Wechsel hin zu einer Politik, die sich an der näheren Inflationsentwicklung orientiert, ein wesentliches Prinzip der monetären Modelle für sich wiederentdeckt. Dabei geht es aber nicht um den Anteil der volatilen Energiepreise im Verbraucherpreisindex, sondern um die persistenteren Inflationsmaße, wie die Kerninflation, d. h. die Verbraucherpreise ohne Energie- und Lebensmittelpreise, oder die inländische Inflation, die die Preisentwicklung beim Konsum, bei Investitionsgütern, Bau sowie staatlichen Gütern und Dienstleistungen berücksichtigt abzüglich der Importpreise. Die Kerninflation ist im September 2023 erstmals nennenswert von 5,3 % auf 4,5 % gefallen. Die inländische Inflation, gemessen am BIP-Deflator, stand zuletzt im zweiten Quartal noch bei gut 6 %. Der Geldmarktzins ist somit nicht über das Niveau der Inflation gestiegen, wie es das Taylor-Prinzip erfordern würde. Demnach sollte die EZB mit weiteren Zinsschritten in Richtung 5 % sicherstellen, dass die Inflation nachhaltig zurückgeht. Im Sinne eines Risikomanagements wäre es besser, etwas mehr als zu wenig zu straffen. Vermutlich pausiert die EZB bei der nächsten Sitzung. Aber sie sollte spätestens danach weitere Zinserhöhungen ins Auge fassen, falls die Kern- und die inländische Inflation nicht stark nachgeben. Angesichts der Arbeitskräfteknappheit dürfte der verständliche Wunsch, den Kaufkraftverlust auszugleichen, für anhaltenden Lohn- und damit auch Preisdruck sorgen. Mancher verweist darauf, dass die Geldmenge, beispielsweise in Form des M3-Konzepts, wieder schrumpft. Im Verhältnis zum Nominaleinkommen ist das Geldangebot aber noch lange nicht normalisiert. Insofern ist dies für sich genommen noch kein Grund zur Entwarnung.