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Forderungen nach kürzeren tariflichen Arbeitszeiten waren nie konfliktarm. Besonders heftig ging es zu im erbittert, mit wochenlangen Streiks und Aussperrungen geführten Tarifkonflikt um die 35-Stunden-Woche Mitte der 1980er Jahre. Zunächst hatten sich die Tarifvertragsparteien in fundamental oppositionellen Positionen verschanzt. Die Arbeitgeberverbände, eingeschworen auf einen sogenannten Tabukatalog, verteidigten die 40-Stunden-Woche; die Gewerkschaften wollten fünf Stunden weniger Arbeitszeit pro Woche mit vollem Lohnausgleich.

Letztlich aber kam ein Tarifkompromiss zustande. Er sah einen Einstieg in die 35-Stunden-Woche auf zunächst 38,5 Stunden mit vollem Lohnausgleich vor. Im Gegenzug machten die Gewerkschaften Zugeständnisse bei der flexiblen Verteilung der Wochenarbeitszeit. Ferner wurden Einkommenssteigerungen vereinbart, die allerdings geringer ausfielen, als dies ohne kürzere Arbeitszeiten der Fall gewesen wäre (SVR, 1985).

An den damaligen Tarifstreit erinnert die jüngst entflammte Debatte um die Vier-Tage-Woche. Die Pro- und Contra-Argumente ähneln sich. Erstaunlich ist, wie wenig die Erfahrungen der Vergangenheit in Erinnerung gerufen werden, um die Kontroverse zu entschärfen. Insofern erscheint es lohnenswert, die damaligen Vereinbarungen über kürzere tarifliche Arbeitszeiten und deren Effekte auf Beschäftigung, Produktivität und Kosten zu rekapitulieren und sie auf die aktuelle Diskussion über die 32-Stunden-Woche zu beziehen.

Moderierende Effekte der 35-Stunden-Woche

Im Rückblick auf die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektroindustrie1 lässt sich resümierend festhalten, dass dieser Schritt weder, wie von den Gegnern befürchtet, den Standort ruiniert, noch, wie von den Befürwortern erhofft, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre hohe Arbeitslosigkeit signifikant verringert hat. Moderierend auf Kosten- und sicherlich auch Beschäftigungseffekte hat zweifellos gewirkt, dass sich der Weg von der 40- zur 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie über vier Etappen von 40 auf 38,5, weiter auf 37, auf 36 und schließlich auf 35 Stunden erstreckte. Er dauerte insgesamt zehn Jahre von 1985 bis 1995. Der Wechsel von der 35- zur 32-Stunden-Woche, wie ihn die Gewerkschaft IG Metall aktuell für die Stahlindustrie anstrebt, ist kürzer und dürfte sicherlich rascher erreichbar sein.

Kosten moderierend hat ferner die flexible Verteilung der kürzeren Arbeitszeiten gewirkt. Dieser Tarifkompromiss bescherte den Betrieben die Möglichkeit, mit Hilfe von Zeitkonten die Arbeitszeit besser an Schwankungen der betrieblichen Produktion anzupassen, einen vorübergehend hohen Arbeitsanfall ohne Überstunden zu bewältigen, und zu vermeiden, bei phasenweiser geringerer Auslastung ungenutzte Arbeitskraft vorzuhalten und Leerzeiten zu bezahlen (SVR, 1984, Ziffer 131). Die Flexibilisierung der Arbeitszeit erwies sich aber nicht nur für die Betriebe als vorteilhaft. Unter günstigen betrieblichen Bedingungen konnten und können Beschäftigte mit Hilfe von Arbeitszeitkonten an Zeitautonomie gewinnen (Seifert, 2019).

Für die Arbeitskosten ist ferner die Frage zentral, wie die Arbeitszeitverkürzungen Beschäftigung und Produktivität beeinflussten. Die auf unterschiedlichen Methoden basierenden Berechnungen klaffen weit auseinander, kommen insgesamt bei beiden Größen aber zu positiven Effekten. Auch die im Vorfeld skeptischen Arbeitgeberverbände beziffern in einer Unternehmensbefragung die Beschäftigungswirkungen positiv (Geer, 1993). Deren geschätzte Werte liegen deutlich unter denen der Gewerkschaften, dazwischen bewegen sich die Werte anderer Institutionen (SVR, 1984, Ziffer 369; im Überblick: Seifert, 1993; Zwiener, 1993). Methodisch fällt es schwer, die Beschäftigungswirkungen der kürzeren Arbeitszeiten von denen der gleichzeitig vereinbarten flexibleren Arbeitszeiten zu trennen. Ähnlich stellt sich diese Problematik auch bei dem Versuch dar, die durch Arbeitszeitverkürzungen induzierten Produktivitätseffekte zu beziffern. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall schätzte, dass rund zwei Drittel der Arbeitszeitverkürzungen durch Rationalisierungen aufgefangen wurden (Geer, 1993).

Zu ebenfalls positiven Effekten kommt die Begleitforschung bei einem aktuellen Großversuch über die probeweise Einführung der Vier-Tage-Woche in Großbritannien (Lewis et al., 2023). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass sich die produktivitätssteigernden Wirkungen nicht automatisch einstellen, sondern durch neue Arbeitszeitstrukturen angestoßen werden, die wie ein Katalysator Veränderungen der gesamten Arbeitsorganisation in Gang setzen.

Nach den bisherigen Erfahrungen ist davon auszugehen, dass die durch Arbeitszeitverkürzungen angestoßenen Produktivitätseffekte in einem reziproken Verhältnis zu den Beschäftigungseffekten zu quantifizieren sind, sofern die Betriebe nicht (dauerhaft) auf Überstunden ausweichen. Dementsprechend dämpften sie den Anstieg der Arbeitskosten. Da zugleich die Einkommenssteigerungen in den Jahren 1984 und 1985, die über den Lohnausgleich für die Arbeitszeitverkürzung hinausgingen, für die beiden Jahre moderat ausfielen, blieb auch der durchschnittliche Anstieg der Lohnstückosten mit jährlich 1 % gemäßigt (SVR, 1985, Ziffer 281).

Resümierend urteilt der Sachverständigenrat über die Arbeitszeitverkürzungen und Streiks, dass sie sich weniger ungünstig ausgewirkt hätten als befürchtet (SVR, 1985, Ziffer 279). Ähnlich bewertet eine andere Analyse die Arbeitszeitverkürzungen im Verbund mit den gleichzeitigen stufenweisen Erhöhungen der tariflichen Stundenlöhne als „faktisch etwa verteilungs- und kostenneutral“ (Zwiener, 1993, 93).

Tarifliche Arbeitszeiten noch weit entfernt von 32 Stunden

Aktuell geht es um die Einführung der Vier-Tage-Woche oder genauer der 32-Stunden-Woche allein in der Stahlindustrie und nicht der gesamten Wirtschaft, wie manche Kommentare nahelegen. Andere Tarifbereiche sind von diesem Ziel noch weit entfernt. Allerdings könnte der von Arbeitgeberverbänden geäußerte Widerstand gegen die Viertagewoche in der Stahlindustrie auch damit zu tun haben, dass sie fürchten, dieses Vorhaben könnte eine breitere Debatte um weitere Arbeitszeitverkürzungen auch in anderen Bereichen anstoßen. Denn für neue arbeitszeitpolitische Initiativen sprechen nach wie vor gute Gründe, die im Grundsatz breiten gesellschaftlichen Konsens finden: Kürzere Arbeitszeiten dienen gleichstellungs- und familienpolitischen Zielen ebenso wie vermehrtem zivilgesellschaftlichen Engagement. Sie können helfen, Belastungen zu mindern, den längeren Verbleib im Erwerbsleben fördern, Sozialkosten für Gesundheit und vorzeitige Verrentungen senken, um nur einige seit Langem diskutierte Ziele zu nennen.

Arbeitszeitpolitischen Nachholbedarf signalisieren die stark differierenden Ausgangsbedingungen bei der tariflichen Arbeitszeit. Noch ist die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten weit von der 35-Stunden-Woche entfernt. Für etwa 80 % gelten längere Arbeitszeiten. Die Hälfte hat sogar 39 und mehr Stunden pro Woche zu leisten (vgl. Abbildung 1). Angesichts dieser Ausgangslage liegt die Viertagewoche für die meisten Beschäftigten noch in weiter Ferne. Für sie ist das nächste Etappenziel die 35-Stunden-Woche.

Abbildung 1
Anteil der Beschäftigten nach der vereinbarten tariflichen Wochenarbeitszeit in Stunden, 2022
Anteil der Beschäftigten nach der vereinbarten tariflichen Wochenarbeitszeit in Stunden, 2022

Quelle: Schulten und WSI-Tarifarchiv (2023); eigene Darstellung.

Kürzere Arbeitszeiten sichern Beschäftigung in der Stahlindustrie

Anders sieht die Situation in dem wertschöpfungsmäßig bedeutsamen, beschäftigungsmäßig aber mit gut 90.000 Beschäftigten vergleichsweise kleinen Bereich der Stahlindustrie aus. Hier gilt die tarifliche 35-Stunden-Woche. Hinzu kommen weitere Verringerungen der Arbeitszeit. Seit 2020 erhalten Beschäftigte eine zusätzliche tarifliche Urlaubsvergütung, die in bis zu fünf zusätzliche freie Tage umgewandelt werden kann (Schulten und WSI-Tarifarchiv, 2020). Außerdem wurden in einzelnen Unternehmen, wie bei Arcelor-Mittal Eisenhüttenstadt, die Arbeitszeiten abgesenkt (IG Metall, o. J.).

Der Weg zur 32-Stunden-Woche ist nicht mehr weit und beschäftigungspolitisch auch angezeigt. Denn in der Stahlindustrie trüben auf mittlere Sicht dunkle Wolken die Beschäftigungsperspektiven. Die ökologisch erforderliche Transformation zum grünen Stahl, der Einsatz von Wasserstoff statt Kohle werden einige Produktionsbereiche (beispielsweise Kokereien) entbehrlich und Arbeitskräfte überzählig machen. Vor diesem Hintergrund sind kürzere Arbeitszeiten nicht nur defensiv, denn sie dienen nicht nur der längerfristigen Sicherung der Arbeitsplätze, sondern machen diese zukunftsfest und damit auch für Nachwuchskräfte attraktiv.

Fazit

Auch die tarifpolitische Geschichte wiederholt sich nicht. Gleichwohl könnte aktuell in der Stahlindustrie ähnlich wie vor knapp 40 Jahren, ein tarifpolitisches Gesamtpaket mit beiderseitigen Konzessionen den Weg zu einem neuen Arbeitszeitarrangement freimachen. In das Paket gehören Vereinbarungen über das Tempo der Verkürzungen, die Höhe des Lohnausgleichs und der tariflichen Einkommenssteigerungen sowie eine die 32-Stunden-Woche flankierende flexible Neugestaltung des Arbeitszeitregimes. Ferner sollte sich die Einführung kürzerer Arbeitszeiten zeitlich in etwa nach den jeweiligen betrieblichen Arbeitskräftebedarfen richten. Vor der Dekarbonisierung der Stahlproduktion mindert sich dadurch das Risiko, auf Arbeitskräfteknappheit zu stoßen. In der anschließenden Transformationsphase lassen sich Entlassungen und Abwanderungen sowie Konflikte um Sozialpläne vermeiden und Entlassungskosten einsparen. Da die Tarifparteien mit den jeweiligen Arbeits- und Organisationsbedingungen der insgesamt überschaubaren Stahlindustrie gut vertraut sein dürften, müssten sie in der Lage sein herauszufinden, welche Schritte der Neugestaltung der Arbeitszeit deren Verkürzung flankieren können und wie der Zeitplan zu gestalten ist.

Für Arbeitszeitverkürzungen, wie auch den tarifpolitischen Kompromiss Mitte der 1980er Jahre, lässt sich sagen, dass sie grosso modo der ökonomischen Theorie folgen, die es den Beschäftigten überlässt, den Produktivitätsfortschritt für die Mehrung des Geld- oder des Zeitwohlstands zu nutzen. Und wenn in diesem Sinne die Mehrheit der Beschäftigten für die Zeitkomponente votiert, lassen sich fundamentale Blockaden kaum noch begründen.

  • 1 Neben der Metallindustrie wurden im Jahr 1984 nach teilweise wochenlangen Arbeitskämpfen außerdem tarifliche Arbeitszeitverkürzungen in der Druck- und der Holzindustrie sowie im Einzelhandel erzielt.

Literatur

Geer, R. (1993), Die 35-Stundenwoche ist und bleibt falsch – Eine „Zwischenbilanz“ aus Sicht der Arbeitgeber, in P. Hampe (Hrsg.), Zwischenbilanz der Arbeitszeitverkürzung, 75-89.

IG Metall (o. J.), 80 Prozent entschieden sich für Zeit und gegen Geld, https://www.igmetall.de/tarif/80-prozent-entschieden-sich-fuer-zeit-und-gegen-geld2 (18. September 2023).

Lewis, K., M. Stronge, J. Kellam, L. Kikuchi et al. (2023), The Results are in: The UK’s Four-Day Week Pilot, https://autonomy.work/wp-content/uploads/2023/02/The-results-are-in-The-UKs-four-day-week-pilot.pdf (26. September 2023).

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1984), Jahresgutachten 1984/85, Bundestags-Drucksache 10/2541, https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/gutachten/1002541.pdf (18. September 2023).

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1985), Jahresgutachten 1985/86, Bundestags-Drucksache 10/4295, https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/gutachten/1004295.pdf (18. September 2023)

Schulten, T. und WSI-Tarifarchiv (2020): Tarifpolitischer Jahresbericht 2020, Düsseldorf, https://www.boeckler.de/fpdf/HBS-007980/p_ta_jb_2020.pdf (18.September 2023).

Schulten, T. und WSI-Tarifarchiv (2023), Tarifpolitischer Jahresbericht 2022, https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008584 (18. September 2023).

Seifert, H. (1993), Ausmaß und Effekte der Arbeitszeitverkürzung, in P. Hampe (Hrsg.), Zwischenbilanz der Arbeitszeitverkürzung, 11-28.

Seifert, H. (2019), Wie viel Zeitautonomie bieten flexible Arbeitszeiten?, WSI-Mitteilungen, 72(6), 431-439.

Zwiener, R. (1993), Zu den Effekten der Arbeitszeitverkürzung in den achtziger Jahren, in P. Hampe (Hrsg.), Zwischenbilanz der Arbeitszeitverkürzung, 91-103.

Title:What Lessons Can Previous Reductions in Working Hours Teach for the Debate on the 32-Hour Week?

Abstract:This article asks what lessons can be learned from the introduction of the 35-hour week for the current debate in the steel industry. In retrospect, it can be shown that a compromise in collective bargaining policy cleared the way from the 40- to the 35-hour week. A package of shorter and more flexible working hours could also make the 32-hour week possible in the steel industry in a similarly cost- and distribution-neutral way, especially as large sections of the workforce there already work less than 35 hours.

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© Der/die Autor:in 2023

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DOI: 10.2478/wd-2023-0195