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Robert Habeck hat den Zeitpunkt für seine Industriestrategie gut gewählt. Weltweit erlebt Industriepolitik eine Renaissance: „Made in China 2025“, der amerikanische Chips Act oder der Inflation Reduction Act mit seinen Auflagen für lokale Produktion sind Ausdruck dieser Bewegung. In der Wissenschaft sind in den vergangenen Jahren neue Arbeiten dazu entstanden, sei es in der Evaluierung von industriepolitischen Maßnahmen, bei wirtschaftshistorischen Arbeiten zu Industriepolitik in Schwellenländern und und neuen konzeptionellen Arbeiten zu Abhängigkeiten in Lieferketten. Und es gibt neue bzw. wieder aktuelle Gründe für industriepolitische Eingriffe: Die angestrebte schnelle Transformation der Wirtschaft hin zu Klimaneutralität sowie das Absichern von geopolitischen Risiken werden sich ohne aktives Steuern durch den Staat nicht bewältigen lassen. Kein gutes Argument für eine Industriestrategie ist allerdings, was Habeck in seinem Vorwort schreibt: „Die Bedeutung der Industrie geht … weit über das Ökonomische hinaus. … [Sie] ist Teil der sozialen und kulturellen Identität unseres Landes.“ Da mag das Herz des Industrieromantikers höherschlagen, als Leitbild für die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts taugt dies nicht.

Die vorgelegte Industriestrategie zeigt auf, was bereits getan wird und was beabsichtigt ist und stößt damit eine notwendige Diskussion an: Es geht weniger um das „Ob“ als um das „Wie“. Was ist nötig, um die Transformation erfolgreich zu gestalten und um sich unabhängiger von Lieferkettenunterbrechungen zu machen? Was wirkt, was wirkt nicht? Was wirkt besser? Die Messlatte ist dabei sehr hoch anzusetzen, da industriepolitische Eingriffe gravierende Probleme mit sich bringen können. Unproduktive Subventionswettläufe und massive Wettbewerbsverzerrungen haben nicht zuletzt dazu geführt, dass Subventionen eines Landes ein Grund für Strafzölle im internationalen Handel sein können. Die EU hat mit der Beihilfenkontrolle ein striktes Regime eingeführt, um den Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt vor verzerrenden Subventionen zu schützen.

Zur Sache: Die „horizontalen“ Maßnahmen der vorgelegten Industriestrategie, d. h. Maßnahmen, die allen Unternehmen zugutekommen, sind weitgehend unkritisch und positiv zu bewerten. Planungs- und Genehmigungsverfahren vereinfachen, In-
frastruktur weiter ausbauen sowie Restriktionen am Arbeitsmarkt abbauen: das alles stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland. Es verwundert, dass die hohe Steuerbelastung – „Deutschland [belegt] im OECD-Vergleich einen der vorderen Plätze“ – zwar als einer von fünf Standortnachteilen gesehen wird, der Wirtschaftsminister sich aber nicht durchringen kann, eine Senkung der Steuern zu empfehlen. Problematischer sind die „vertikalen“ Maßnahmen, die gezielt der Förderung einzelner Sektoren oder gar Unternehmen dienen.

Die Transformation der Industrie ist ein Hauptanliegen der Industriestrategie. Inwiefern der Brückenstrompreis dazu beitragen kann, bleibt unklar. Als temporäre Maßnahme stärkt er nicht den Standort – kaum ein Unternehmen wird investieren, nur weil ihm für einige Jahre günstige Strompreise zugesagt werden. Als langfristige Maßnahme ist er nicht beabsichtigt und wäre auch nicht zu empfehlen, da dadurch Strukturen gefestigt würden, die ansonsten nicht lebensfähig sind. Da Deutschland auch langfristig nicht die günstigsten Strompreise haben wird – Sonne und Wind gibt es woanders mehr – ist davon auszugehen, dass energieintensive Produktion mit geringer Wertschöpfung das Land verlassen wird. Eine Industriestrategie sollte diesen Strukturwandel zulassen.

Die Klimaschutzverträge, für die ein „mittlerer zweistelliger Milliardenbetrag zur Verfügung“ steht, sind ein wesentliches Instrument für die Transformation: Unternehmen erhalten Mittel für eine klimafreundliche Produktion von z. B. grünem Stahl, grünem Zement oder grünem Glas. Die Mittel sollen durch Auktionen vergeben werden, um Kosteneffizienz zu erreichen. Der Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hatte empfohlen, von Klimaschutzverträgen zeitnah auf grüne Leitmärkte umzusteigen. Wenn etwa bei jeder Verwendung von Stahl ein gewisser über die Zeit steigender Anteil Grünstahl dabei sein müsste, würde ein neuer Markt geschaffen, der offen ist für neue Anbieter und internationale Wettbewerber. Solche Leitmärkte würden Innovationen belohnen, Klimaschutzverträge hingegen belohnen die Produktion. Bestrebungen, damit es zu solchen Leitmärkten kommt, werden in der Industriestrategie angekündigt; ihnen ist viel Erfolg zu wünschen.

Neben der Transformation der Industrie ist die Geoökonomie – die Vorsorge gegen mögliche Lieferkettenunterbrechungen – ein zweiter wichtiger Grund für staatliche Eingriffe. Weltweit ist derzeit eine Diskussion dazu im Gange: Unter welchen Umständen ist eine weitere Diversifizierung der Lieferketten besser? Wann sollte die Produktion in den Binnenmarkt verlagert werden? Welchen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten Unternehmen auch ohne weitere Maßnahmen? Wo muss der Staat eingreifen? „No-regret“-Maßnahmen sind weitere Handelsabkommen, um Diversifizierung von Lieferketten einfacher zu machen. Auch die vorgelegte Industriestrategie spricht sich dafür aus. Es ist umso bedauerlicher, dass die Verhandlungen mit Australien abgebrochen wurden und die Implementierung des Mercosur-Abkommens nicht vorankommt.

Der Sicherung der technologischen Souveränität sollen auch die Förderprogramme für Halbleiterchips dienen, zumal „Risiken von Lieferkettenstörungen oder Abhängigkeiten“ vorliegen. Die USA haben dafür einen eigenen 50 Mrd. US-$ schweren Chips Act aufgelegt. Die Gefahr eines Subventionswettlaufs ist hoch. Positiv bewertet: Die europäische Abhängigkeit von Taiwan wird dadurch reduziert. Angesichts dieser Entwicklungen hätte man sich eine sorgsamere Begründung gewünscht, warum auch Deutschland Milliarden in diese Industrie investiert. Das Argument, dass „Mikroelektronik … der Schlüssel für viele Digitalisierungs- und Transformationsprozesse und das entscheidende Ausgangsprodukt für die meisten Industrieprodukte der Zukunft [ist]“, ist zwar unstrittig. Allerdings gibt es noch einige andere Technologien, auf die das auch zutrifft. Ein internationaler Subventionswettlauf ist eine berechtigte Sorge, und es wäre hilfreich, wenn eine Industriestrategie auch darauf eingehen würde. Zunächst sollte sie europäisch eingebunden sein, da beide Ziele – Transformation und Resilienz – alle Länder betreffen. In dieser Hinsicht fällt die vorgelegte Strategie recht knapp aus, neue europäische Initiativen fehlen. Zudem wäre die Ankündigung einer konsequenten Anwendung des Anti-Subventionsinstruments der WTO sowie eine Selbstdisziplinierung bei der Verwendung von eigenen Subventionen hilfreich. Förderungen einzelner Unternehmen können zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Insbesondere große Unternehmen sind schnell dabei, gute Gründe zu finden, wa-
rum genau sie gefördert werden sollen, zum Nachteil der kleinen Unternehmen. Die vorgelegte Industriestrategie öffnet dafür viele Türen, da sie in ihren Kriterien, unter welchen Umständen sie welche Maßnahmen empfiehlt, vage bleibt.

Industriepolitik ist nicht neu, aber dennoch sind viele Fragen zu ihrer Gestaltung offen. Eine Evaluierung der Maßnahmen ist zu empfehlen, ein Bekenntnis dazu fehlt in der Industriestrategie. Die Monopolkommission oder die Expertenkommission Forschung und Innovation könnten eigenständig untersuchen, ob die vollzogenen Maßnahmen den Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt behindern oder fördern, und ob sie Innovationen anregen oder eher strukturbewahrend wirken. Ein Kollege äußerte einmal, dass Industriepolitik ordnungspolitisch unerwünscht sei, man aber schon immer ein Auge zugedrückt habe. Umso wichtiger ist es, mit dem anderen Auge genauer hinzuschauen.

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© Der/die Autor:in 2023

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DOI: 10.2478/wd-2023-0197