Klimaneutralität in Europa gegen Mitte des Jahrhunderts erfordert die Ablösung fossiler Energieträger durch die direkte oder indirekte Nutzung regenerativ erzeugten Stroms in den Sektoren Wärme und Mobilität sowie der Industrie. Die direkte Elektrifizierung und der indirekte Weg über Wasserstoff sind dabei komplementär. Die Elektrifizierung muss in allen Sektoren ambitioniert vorangetrieben werden. In einem integrierten Energiesystem wird dabei die indirekte Sektorenkopplung – über Wasserstoff und wasserstoffbasierte Energieträger – die Elektrifizierung optimal ergänzen.
In welchem Umfang Wassersoff zum Einsatz kommen wird, ist heute offen. In der Industrie wird Wasserstoff sowohl energetisch, als auch in der stofflichen Nutzung zum Einsatz kommen. In der Mobilität ist es bei hoher Antriebsleistung und Fahrstrecke – wie etwa im Schwerlastverkehr – vorteilhaft, wasserstoffbasierte Antriebe einzusetzen, ebenso wie im Schiffs- und Flugverkehr. In der Wärmeversorgung kann der Einsatz von Wasserstoff abhängig von dem Anteil der Prozesswärmenachfrage, Einwohnerdichte, Gebäudestruktur vorteilhaft oder notwendig sein. Auch in der Stromerzeugung dürfte der Wasserstoffbedarf ansteigen, um Gaskraftwerke mittelfristig klimaneutral betreiben zu können.
Prognosen sehen den Wasserstoffbedarf für ein klimaneutrales Energiesystem in Deutschland zwischen 225 TWh und 800 TWh pro Jahr, was bei einer elektrolytischen Erzeugung in etwa einem Strombedarf von 375 TWh bis 1.333 TWh gleichkommt (der deutsche Bruttostromverbrauch lag im Jahr 2022 bei etwa 550 TWh). Die im Jahr 2030 notwendige Menge an grünem (oder klimafreundlichem) Wasserstoff schätzt der Nationale Wasserstoffrat auf 53 TWh bis 90 TWh. Die Bundesregierung strebt derzeit die Installation von 10 GW Elektrolysekapazitäten bis 2030 an, womit sich jährlich etwa 28 TWh bis 35 TWh Wasserstoff produzieren lassen. Das bedeutet, dass ein signifikanter Teil des Wasserstoffbedarfs durch Importe gedeckt werden muss.
Der Import großer Wasserstoffmengen ist per Pipeline oder auf dem Seeweg möglich. Der Pipelinetransport erlaubt den Transport von gasförmigem Wasserstoff vergleichsweise kostengünstig, insbesondere wenn auf bestehende Gasinfrastrukturen aufgebaut werden kann. Nicht von überall ist jedoch der Import über Pipelines realisierbar. Auf dem Seeweg kann Wasserstoff – wie heute LNG oder Erdöl – per Schiff aus Regionen weltweit importiert werden. Allerdings muss der Wasserstoff für den Schiffstransport in einen geeigneten flüssigen Energieträger umgewandelt werden. Kurzfristige Optionen sind Ammoniak oder Methanol, mittelfristig dürfte die Verflüssigung des Wasserstoffs zu Liquid H₂ (LH₂) oder Liquid Organic Hydrogen Carriers (LOHC) an Bedeutung gewinnen. Der optimale Transportpfad hängt nicht zuletzt von der geplanten Anwendung des Wasserstoffs ab. Während einige Anwendungen reinen Wasserstoff benötigen (etwa die Stahlerzeugung), ist bei anderen Anwendungen zu erwarten, dass Importe von Wasserstoffderivaten (Ammoniak) die heimische Produktion ablösen werden.
Eine Importstrategie sollte einen schnellen Hochlauf der Importe anstoßen und dabei gleichzeitig für Diversifizierung der Lieferbeziehungen sorgen. Geht man nur nach dem Preis, so besteht die Gefahr, dass erneut Energieabhängigkeiten entstehen, die nur schwer wieder abgebaut werden können. Eine günstige Ausgangsposition als zukünftige Wasserstofflieferanten haben insbesondere Staaten, die heute fossile Energieträger exportieren und gleichzeitig bereits umfangreich in den Aufbau einer nachhaltigen Wasserstoffproduktion investieren, beispielsweise die Staaten der MENA-Region oder Kanada. Zu Recht wurden hier jüngst Partnerschaften initiiert, jedoch sollten zugleich weitere Partnerschaften mit Ländern aus anderen Regionen weltweit aufgebaut werden.
Auch die Energiesicherheit muss bedacht werden. Der Pipelinetransport ist zwar häufig günstiger als der Schiffstransport, Pipelineinfrastrukturen sind jedoch anfälliger für Anschläge. Insbesondere beim Pipelinetransport durch politisch instabile Regionen muss daher sorgfältig abgewogen werden. Die Resilienz des Schiffstransports hat sich nicht zuletzt in der aktuellen Energiekrise gezeigt. Der Import über den Seeweg ermöglicht Partnerschaften mit zahlreichen Ländern weltweit, die über exzellente Bedingungen für die Produktion von grünem Wasserstoff verfügen. In den vergangenen Jahren wurden in diesem Sinne bereits Gespräche oder Kooperationen etwa mit Australien, Island, Canada, Chile oder Namibia aufgenommen.
Über die Diversifizierung der Lieferbeziehungen hinaus sollte der Wasserstoffimport mit anderen Themen zusammengedacht werden, z.B. der Diversifizierung von Bezugsquellen für kritische Rohstoffe, der Entwicklungspolitik oder mit der Vertiefung von Handelsbeziehungen. Die zunehmende Bedeutung globaler öffentlicher Güter macht es trotz der aktuellen geopolitischen Veränderungen immer wichtiger, internationale Kooperationen zu stärken. So kann der Einstieg in Wasserstoffpartnerschaften auch mit dem Ausstieg aus fossilen Energieträgern in Schwellen- und Entwicklungsländern verknüpft werden und dort Zukunftschancen eröffnen. Entwicklungs- und Schwellenländer könnten im Zuge von Wasserstoffkooperationen ihre eigene Versorgung mit grüner Energie oder auch mit Süßwasser verbessern, indem die Erneuerbare-Energien-Anlagen oder Entsalzungsanlagen größer dimensioniert werden.
Damit Investitionen in die Anwendung von Wasserstoff in Europa tatsächlich getätigt werden, müssen potenzielle Abnehmer erwarten können, den Wasserstoff zeitnah auch an ihrem Standort zu erhalten. Dafür ist der Ausbau eines Wasserstoff-Backbonenetzes, möglichst europaweit, notwendig. Positiv ist, dass man ein leistungsfähiges paneuropäisches Wasserstoffnetz aus Teilen des Gasnetzes errichten kann und nach aktuellen Berechnungen nur etwa 40 % der Leitungsinfrastruktur neu zugebaut werden müsste. Erste Vorschläge der europäischen Fernleitungsnetzbetreiber für ein europäisches Wasserstoff-Backbonenetz inklusive Speicherinfrastruktur liegen bereits vor. Jedoch stehen regulatorische Entscheidungen noch aus, ohne die ein Fortschritt beim Ausbau nicht zu erwarten ist.
Prognosen der Internationalen Energie Agentur (IEA) gingen noch im Jahr 2022 davon aus, dass die Produktionskapazitäten für Elektrolyseanlagen insbesondere in Europa und Asien deutlich ansteigen werden. Mit dem Inflation Reduction Act (IRA) haben nun auch die USA einen deutlichen Impuls für die Entwicklung einer eigenen Wasserstoffwirtschaft gesetzt. Die dortige Förderung für erneuerbare Energien und Wasserstoff dürfte in den USA nach aktuellen Schätzungen eine Nachfrage nach Elektrolysekapazität auslösen, die die bisher für den weltweiten Hochlauf prognostizierte Elektrolysekapazität übersteigt. Im Vorteil sind die USA aufgrund der geringen Komplexität der dortigen Rahmenbedingungen, die einen schnellen Hochlauf erwarten lassen. Für Europa ergibt sich dadurch ein Handlungsdruck, die regulatorische Komplexität deutlich zu reduzieren und Importe sowie den Netzausbau mit hohem Tempo gemeinsam voranzutreiben. Eine darüberhinausgehende fiskalische Reaktion auf den IRA kann im Bereich des Wasserstoffhochlaufs insbesondere dann einen Hebel entfalten, wenn die regulatorischen Hemmnisse zuvor deutlich reduziert werden.