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In der Märzausgabe 2023 veröffentlichte der Wirtschaftsdienst einen Aufsatz mit dem Titel „Schuldentragfähigkeit mit impliziten Staatsschulden – Leitbild oder Irrlicht?“ von Jan Priewe. Hagen Krämer und Carl Christian von Weizsäcker vertreten in einer Replik eine andere Auffassung, im Anschluss erläutert Jan Priewe seinen Standpunkt in einer Erwiderung.

Implizite Staatsschulden und die Kontroverse um die Zins-Wachstums-Differenz

Von Hagen Krämer, Carl Christian von Weizsäcker

Jan Priewe (2023a) setzt sich in seinem Beitrag für den Wirtschaftsdienst kritisch mit dem sogenannten Nachhaltigkeitsindikator S2 auseinander, mit dem die EU-Kommission, ähnlich wie das Bundesministerium für Finanzen und der Sachverständigenrat, die langfristige Tragfähigkeit von Staatsverschuldung misst. Er kritisiert an diesem Indikator vor allem zwei Dinge. Zum einen das Konzept der impliziten Staatsverschuldung, die sich durch die Höhe des Barwerts der zukünftigen Zahlungsströme aus den Sozialversicherungen (hier vor allem aus der gesetzlichen Rentenversicherung) ergibt. Zum anderen hinterfragt Priewe die bei der Berechnung dieses Nachhaltigkeitsindikators zugrunde gelegte Annahme, dass die Zins-Wachstums-Differenz grundsätzlich positiv ist, also dass der Zinssatz auf Staatsschulden (r) größer als die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (g) ist. Im Folgenden wollen wir zunächst das Konzept der impliziten Staatsverschuldung dem Grundsatz nach verteidigen – ohne dabei jedoch auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit der damit durchgeführten Tragfähigkeitsanalyse im Sinne der drei oben genannten Institutionen näher einzugehen. Anschließend werden wir einige Anmerkungen zur Frage machen, ob die Zins-Wachstums-Differenz positiv oder negativ ist.

Was ist Vermögen?

Die Frage, ob künftige sozialstaatliche Leistungsverpflichtungen des Staates zu den impliziten Staatsschulden gerechnet werden sollten, hängt maßgeblich davon ab, ob man die diesen Verpflichtungen gegenüberstehenden Rechte der Bürger als Vermögen ansieht oder nicht. Priewe zählt die Unterschiede auf, die zwischen Finanzvermögen im überkommenen Sinne und den Rentenansprüchen der Bürger bestehen. So ist ersteres vielfach nominal festgelegt und vererbbar. Beides trifft auf die Rentenansprüche nicht zu. Daraus mag man ableiten, dass diese Ansprüche nicht zum Finanzvermögen im engeren Sinne gehören. Jedoch ist ökonomische Begriffsbildung eine Zweckmäßigkeitsfrage. Und hier divergieren wir mit Priewes Begriffsbildung.

Was ist Vermögen? Es gibt nur weniges, das den Bürgern wichtiger ist als die Perspektive einer gesicherten Rente und Gesundheitsversorgung im Alter. Auf dieser Klaviatur spielt der sozialpolitische Populismus. Er will Wählerstimmen gewinnen, indem er immer noch großzügigere Altersrenten verspricht. Er gaukelt den Wählern vor, dass auch noch weitergehende Rentenzusagen dem Spruch „Die Renten sind sicher“ nicht im Wege stehen. Wenn aber den Bürgern fast nichts wichtiger ist als die Perspektive einer gesicherten Rente und einer gesicherten Gesundheitsversorgung im Alter, dann sind in einem funktionsfähigen Sozialstaat diese Rentenansprüche dem Bürger mindestens so wichtig wie es ein Vermögensstand gleichen Wertes wäre. Wenn überhaupt Zweifel am Vermögens-Charakter dieser Ansprüche berechtigt sind, dann deshalb, weil sie subjektiv mehr wert sind als ihr nach üblichen Methoden abgezinster heutiger Kapitalwert. Die Tatsache, dass sie nicht veräußerbar, nicht handelbar sind, ist irrelevant: denn praktisch niemand würde sie veräußern wollen. Das Faktum, dass die Rentenansprüche in Nominalwerten nicht genau festgelegt sind, ist im Übrigen ein Vorteil dieser Ansprüche, kein Nachteil. Die von Adenauer vor sechseinhalb Jahrzehnten eingeführte dynamische Rente bewirkt einen weitgehenden (keinen vollkommenen) Inflationsschutz, den Nominalwertansprüche gerade nicht haben.

Es ist nützlich, diese Ansprüche des sozialstaatlichen Rentensystems mit zwei Formen privaten Vermögens zu vergleichen, deren Charakter als privates Vermögen völlig unstrittig ist. Da sind einmal Ansprüche aus der privaten Lebensversicherung zu nennen. Niemand bestreitet, dass diese eine Form privaten Vermögens bilden. Hierzu kann man auch die privaten Betriebsrentenansprüche zählen. Auch hier gibt es je nach Vertragsgestaltung einen mehr oder weniger starken Inflationsschutz. Die im angelsächsischen Bereich ganz üblichen privaten Lebensversicherungsverträge, die vom Versicherer durch Aktienkäufe unterlegt sind, versprechen einen besseren Inflationsschutz als die nur in Nominalwerten zugesagten Leibrenten. Es ist völlig abwegig, diese privaten Absicherungsansprüche zwar dem privaten Vermögen zuzurechnen, aber den entsprechenden sozialstaatlichen Ansprüchen den Vermögens-Charakter abzusprechen.

Die andere unstrittige Form privaten Vermögens ist die selbstbewohnte Wohnung oder das selbstbewohnte Eigenheim. Auch hier ist eines der Hauptmotive für diese Form des Eigentums der Inflationsschutz. Wenn aber die dynamische Rente diesen Inflationsschutz ebenfalls bietet, ist es wiederum absurd, die eine Form der Zukunftssicherung dem privaten Vermögen zuzuschlagen, die andere jedoch nicht.

Das Konzept implizite Staatsschulden

Betrachten wir nun die Volkswirtschaft als Ganzes. Kein Ökonom würde behaupten, dass durch den Abschluss eines privaten Lebensversicherungsvertrags das Volksvermögen uno actu verändert wird. Auch ein schon seit einiger Zeit laufender Lebensversicherungsvertrag erbringt keinen Zusatz an Volksvermögen. Das kommt in der Praxis der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen darin zum Ausdruck, dass dem Kapitalwert dieser künftigen Leibrentenansprüche beim Versicherten eine gleichwertige Rückstellung beim Versicherer gegenübersteht. Analoges gilt auch für die sozialstaatlichen Rentenansprüche. Sie erhöhen das Volksvermögen nicht. Wenn sie aber aufgrund ihres Vorteils sinnvollerweise zum Vermögen des Versicherten gehören, dann muss es einen negativen Gegenposten in gleicher Höhe beim Versicherer geben. Diesen Gegenposten nennen wir „implizite Staatsschulden“.

Gäbe es noch, wie vor langer Zeit, eine soziale Altersrentenversicherung in der Form des Kapitaldeckungsverfahrens, dann wäre jedem sonnenklar, dass sich die Leistungsverpflichtungen des Sozialstaates als Passivposten in der Vermögensbilanz des Fiskus und als Gegenposten des Deckungsstocks dieser Versicherung auf der Aktivseite wiederfänden. Das Faktum, dass es diesen Deckungsstock heutzutage nicht mehr gibt, ändert aber nichts daran, dass diese sozialstaatlichen Leistungsverpflichtungen nach wie vor existieren. Das Umlageverfahren ist im Grunde nichts anderes als ein Versicherungssystem ohne Deckungsstock. Quod licet Jovi, non licet bovi. Der private Versicherer muss den Deckungsstock vorhalten. Der Staat braucht das nicht, weil er angesichts seines Gewaltmonopols (in Grenzen) die Rentenzusagen durch entsprechende fiskalische Gesetzgebung garantieren kann.

Priewe argumentiert, dass die Leistungsverpflichtungen der gesetzlichen Rentenversicherung keine Staatsschulden seien, weil der Staat ja die Gesetze ändern könne, sodass diese Ansprüche beschnitten werden. Und aus demselben Grund seien die entsprechenden gesetzlichen Rentenansprüche kein Vermögen. Diese Argumentation ist konträr zu den im Rechtsstaat üblichen Bilanzierungsmethoden. Und sie ist vor allem völlig konträr zur politischen Realität. Keine politische Partei beabsichtigt, die Rentner zu enteignen. De facto kann durch Gesetzgebung eine Verkürzung von Rentenansprüchen stattfinden. Aber jede Art von Vermögen ist diesem Risiko einer Wertverkürzung durch staatliches Handeln ausgesetzt. Inhaber von Nominalwerten sind dem Risiko ausgesetzt, dass durch staatliche Politik Inflation entsteht. Kein Immobilienbesitzer ist dagegen geschützt, dass der Fiskus die Grundsteuer anhebt, die im Falle eines funktionierenden Marktes für Gebäudemieten dann nicht auf die Mieter abgewälzt werden kann, wenn es sich bei den Mieten zum Teil um Lagerenten handelt (Weizsäcker und Krämer, 2021, Kapitel 5). Kein Immobilienbesitzer ist sicher vor klimapolitisch motivierten, wertmindernden Eingriffen des Staates in sein Eigentum. Kein Aktionär ist dagegen geschützt, dass der Staat die Steuersätze auf Dividenden anhebt oder eine Vermögenssteuer einführt. Dass es staatlichen Einfluss auf Vermögenswerte gibt, ist damit kein Grund, diese nicht als Vermögenswerte anzuerkennen.

Bilanzierung von impliziten Staatsschulden

Es ist immer sehr nützlich, die Bilanzierungsmethoden der Privatwirtschaft als Vorbild für die Bilanz des Fiskus zu betrachten. Selbstverständlich muss jedes Unternehmen den Gegenwartswert zugesagter Betriebsrenten als Pensionsrückstellungen auf der Passivseite seiner Bilanz einstellen. Analog dazu sollten in der Bilanz des Staates die kapitalisierten Leistungsverpflichtungen der gesetzlichen Rentenversicherung als Passivposten erscheinen. Das Umlageverfahren kann hiervon nicht befreien. Erstens sind die zu erwartenden künftigen Rentenbeiträge nicht deckungsgleich mit den zu erwartenden Leistungsverpflichtungen. Zweitens passt eine Saldierung künftiger Leistungsverpflichtungen mit künftig zu erwartenden Einnahmen des Staates nicht zu den Bilanzierungsverfahren in der Privatwirtschaft. Der Fall Enron und das damit zusammenhängende Ende der internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen zeigen dies mit aller Deutlichkeit. Das Stromversorgungsunternehmen Enron wollte die schon vertraglich fixierten Langfristlieferverträge für Elektrizität in Höhe des Kapitalwerts der aus diesen Verträgen resultierenden künftigen Deckungsbeiträge in seiner Bilanz aktivieren, um damit den Anschein einer höheren Eigenkapitalbasis zu erwecken. Dies aber widerspricht den Bilanzierungsregeln, auch wenn solche Lieferverträge natürlich einen Einfluss auf die Firmenwertbeurteilung des Kapitalmarktes haben. Dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen diese Bilanzierungspraxis nicht beanstandete, führte letztlich zur Auflösung dieses seinerzeit höchst renommierten Prüfungsunternehmens.

Ein Saldieren der künftigen Leistungsverpflichtungen aus den gesetzlichen Rentenzusagen mit den künftig zu erwartenden Rentenbeiträgen ist bilanzierungsmäßig eigentlich noch problematischer als das Enron-Verfahren. Denn während die zu erwartenden Deckungsbeiträge aus Enrons Langfristverträgen keine die Zukunft noch weiter belastenden Leistungsverpflichtungen mit sich bringen, finanziert sich beim Umlageverfahren die künftige Rentenzahlung aus Mitteln, die ihrerseits noch weiter in der Zukunft liegende zusätzliche Leistungsverpflichtungen mit sich bringen. Die Bezeichnung dieses Systems als „Generationen-Vertrag“ dient der Vernebelung der Tatsache, dass diese künftigen Leistungsverpflichtungen aus schon erbrachten Leistungen der Arbeitnehmer einfach Staatsschulden sind.

Zins-Wachstums-Differenz

Jan Priewe setzt sich in seinem Beitrag des Weiteren kritisch mit der in den diskutierten Tragfähigkeitsanalysen gemachten Annahme auseinander, dass die Zinsen auf Staatsanleihen (r) auf Dauer und im Durchschnitt größer als die Wachstumsrate des BIP (g) sind, (r – g) > 0. Priewe weist zurecht darauf hin, dass der risikofreie Zins empirisch betrachtet in der Vergangenheit in den OECD-Ländern größtenteils unterhalb der Wachstumsrate des BIP lag. Ob bzw. unter welchen Umständen die Zins-Wachstums-Differenz aus theoretischer Sicht positiv oder negativ ist, lässt er jedoch offen (Priewe, 2023b, 34 f.). Diese Frage ist in der Tat von grundlegender Bedeutung für die makroökonomische und wohlfahrtstheoretische Beurteilung von Staatsverschuldung (Weizsäcker und Krämer, 2020a). Wir vertreten die Auffassung, dass im 21. Jahrhundert die Zins-Wachstums-Differenz die Tendenz hat, negativ zu sein, also dass meistens (r – g) < 0 gilt. Ist dies der Fall, kann man nicht davon sprechen, dass die Staatsverschuldung spätere Generationen belastet. Im Gegenteil führt dann die Ausweitung der Staatsschuld – bis zu einer bestimmten Grenze – sowohl zu einer Verbesserung der Wohlfahrt der gegenwärtigen Generation als auch der zukünftigen Generationen. Immer wieder wurde behauptet, dass (r – g) < 0 in einer Marktwirtschaft prinzipiell nicht möglich sei, da eine solche Situation nicht Pareto-optimal und dynamisch ineffizient wäre (Sinn, 2020). Man spricht von dynamischer Ineffizienz, wenn es zu einer Überakkumulation von Kapital gekommen ist, sodass auch ein durch Schulden finanzierter erhöhter Konsum die Wohlfahrt sowohl der jetzigen als auch der kommenden Generationen erhöht. Unserer Ansicht nach kann dynamische Ineffizienz durchaus auftreten (Weizsäcker und Krämer, 2020b; Blanchard, 2023, 89 ff.).

Natürlicher und neutraler Zins

Im Mittelpunkt unserer Analyse steht der sogenannte natürliche Zins. Hierunter verstehen wir anknüpfend an Knut Wicksell den hypothetischen Realzins einer geschlossenen Volkswirtschaft ohne Staatsverschuldung, in der Vollbeschäftigung herrscht. Wir leiten in unserem Buch (Weizsäcker und Krämer, 2021) detailliert her, warum der natürliche Zins im 21. Jahrhundert negativ ist. Wir begründen dies damit, dass einerseits der Kapitalkoeffizient langfristig konstant ist, was bedeutet, dass die Kapitalnachfrage relativ zum Sozialprodukt bzw. zum gesamtwirtschaftlichen Konsum weder zu- noch abnimmt. Andererseits wächst aufgrund der zunehmenden Lebenserwartung der Menschen in allen Ländern des Raums der OECD-Länder plus China der Vorsorgewunsch der Bürger:innen immer weiter an, weshalb die private Ersparnis relativ zum Sozialprodukt bzw. zum gesamtwirtschaftlichen Konsum trendartig zunimmt. Dies führt im Ergebnis dazu, dass Kapital nicht länger knapp, sondern im Gegenteil im Überschuss vorhanden ist. Dieses Phänomen ist unter dem Begriff der „savings glut“ in den vergangenen Jahren breit in der internationalen Literatur diskutiert worden.

Unser analytischer Referenzrahmen ist ein Steady State. Hierbei geht es um die langfristigen Trends zentraler makroökonomischer Größen, für deren Analyse das Konzept des natürlichen Zinses ein nützliches Instrument ist. Der natürliche Zins ist ein hypothetischer Zins, der sich empirisch nicht beobachten lässt. Empirisch messen kann man dagegen den risikofreien Kapitalmarktzins, der in einer engen Verbindung mit dem natürlichen Zins steht. Der risikofreie Kapitalmarktzins entspricht am ehesten den Anleihen von Staaten mit höchster Bonität, da diese als sichere Schuldner gelten können. Wir sehen die Existenz von negativen Realzinsen bei risikofreien Staatsanleihen als Ausdruck des negativen natürlichen Zinses an. Die häufig gescholtene Negativzinspolitik der EZB (und anderer Notenbanken in den OECD-Ländern) war unserer Auffassung nach eine notwendige Reaktion auf die erwähnten strukturellen Veränderungen, die nachhaltige Auswirkungen auf den Kapitalmarkt haben und niedrige nominale Zentralbankzinsen erforderlich gemacht haben. Bei ihrer Geldpolitik orientieren sich die Zentralbanken heutzutage am Konzept des „neutralen“ Zinses, der die aggregierte Nachfrage mit dem Produktionspotenzial ins Gleichgewicht bringen und daher weder inflatorisch noch deflatorisch wirken soll. Er wird in der geldpolitischen Praxis durch eine aktive Zinsregel berücksichtigt und findet sich auch in den gängigen Modellen der modernen Makroökonomik wieder (Spahn, 2020, 196). Dieser neutrale Zins berücksichtigt die tatsächliche Staatsverschuldung. Er liegt daher höher als der natürliche Zins. Der natürliche bzw. der neutrale Realzins sind auch für die Analyse der Folgen des demografischen Wandels von großer Bedeutung.

Der neutrale Zins der Zeitenwende

Priewe (2023b, 38) stellt zurecht fest: „Demografischer Wandel kann deutlich höhere Kosten auf lange Sicht verursachen, die fiskalisch gravierend sind. Abschätzungen von Finanzierungslücken sind notwendig und willkommen“. Wir stimmen ihm zu, dass derartige Analysen unter Berücksichtigung der konkreten Werte und Bedingungen für r und g erfolgen müssen. A priori gesetzte Annahmen einer angeblich immer positiven Zins-Wachstums-Differenz sind abzulehnen. Langfristige Trends und kurzfristige Schwankungen sind voneinander zu unterscheiden. In der Vergangenheit kam es z. B. sowohl in Deutschland als auch in den USA immer wieder zu temporären Phasen, in denen die risikofreien Zinsen höher als die jeweiligen Wachstumsraten des BIP waren (Priewe, 2023b, 32 f.). In eine solche Phase könnten wir jetzt wieder eingetreten sein. Der kräftige Anstieg der Inflation hat es erforderlich gemacht, die Zentralbankzinsen deutlich zu erhöhen. Der plötzliche Energiepreisschock sowie zusätzliche Staatsausgaben, die aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für Militärausgaben und im Zusammenhang mit der Energiekrise entstehen, erhöhen den neutralen Realzins. Wie lange diese Effekte andauern werden, kann aus heutiger Sicht niemand mit Sicherheit vorhersagen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass diese Situation länger andauern wird.

Währenddessen befinden wir uns nicht mehr auf dem gleichgewichtigen Wachstumspfad, dem Steady State, der unserer langfristig ausgerichteten Analyse zugrunde liegt. Je länger die Abweichung vom Steady State andauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass die gesamte Verschuldung des Staates (die impliziten Schulden eingeschlossen) den neutralen Zins und damit die Zinsen auf risikolose Staatsanleihen über die Wachstumsrate des BIP anhebt. Anders als Priewe meint, ist es daher wichtig, dass man auch die impliziten Staatsschulden im Blick behält, da sie für die Beurteilung der Spielräume der Fiskalpolitik relevant sind. Ist die Zins-Wachstums-Differenz in einer solchen Situation für längere Zeit positiv, muss die Fiskalpolitik über kurz oder lang entweder mit einer Erhöhung der Staatseinnahme, einer Kürzung der Staatsausgaben oder einer Kombination von beidem reagieren. Dies betrifft dann auch die Rentenpolitik. Ohnehin erfordert der in den kommenden Jahren kontinuierlich steigende Altenquotient nachhaltige Anpassungen des Rentensystems. Die zentralen Stellschrauben sind dabei die Höhe des Rentenbeitrags und des Rentenniveaus sowie die Länge der Lebensarbeitszeit. Wir haben verdeutlicht, dass bei einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung vor allem eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine notwendige und auch faire Maßnahme darstellt (Weizsäcker und Krämer, 2021, 48 ff.). Die Notwendigkeit, das Rentensystem an die beständig weiter steigende Lebenserwartung anzupassen, erscheint irrtümlicherweise weniger dringend, wenn man nicht anerkennt, dass auch die künftigen Rentenzahlungsverpflichtungen den Charakter von Staatsschulden haben.

Schlussbemerkungen

Jan Priewe greift mit seinem Beitrag zur Tragfähigkeit von Staatsverschuldung im Angesicht des bevorstehenden demografischen Wandels ein aktuelles und sehr bedeutsames Thema auf. Wir teilen zum einen seine Kritik an willkürlich definierten numerischen Obergrenzen für die Staatsverschuldung, wie sie z. B. in den Konzepten des Nachhaltigkeitsindikators S1 oder der Schuldenbremse in Deutschland zum Ausdruck kommen. Zum anderen stimmen wir darin überein, dass die Annahme einer grundsätzlich positiven Zins-Wachstums-Differenz, die den Tragfähigkeitsanalysen des Nachhaltigkeitsindikators S2 zugrunde liegt, abzulehnen ist.

Priewes Kritik am Konzept der impliziten Staatsschulden halten wir jedoch nicht für gerechtfertigt. Es ist aus unserer Sicht wichtig zu verstehen, dass die Ansprüche der Beitragszahler in die Sozialversicherungssysteme eine – zugegeben besondere – Art von Finanzvermögen für die privaten Haushalte darstellt. Diese stellen gleichzeitig Verbindlichkeiten des Staates, also eine implizite Staatsverschuldung, dar. Ohne diese Form des „Zwangssparens“ wäre die in der VGR ausgewiesene Sparquote und das in der herkömmlichen Weise gemessene Finanzvermögen der privaten Haushalte viel höher, weil die Menschen dann auf eine andere Art für ihre Rente vorsorgen müssten. Eine Berücksichtigung von impliziten Schulden des Staates ist sowohl für die Beurteilung der fiskalischen Spielräume des Staates als auch für die generelle Analyse des makroökonomischen Gleichgewichts unerlässlich. Dies gilt vor allem in Situationen, in denen sich abzeichnet, dass die Zins-Wachstums-Differenz positiv werden könnte. Damit ändert sich aber an unserer bisherigen Analyse grundsätzlich nichts. Denn selbst wenn der neutrale Zins der „Zeitenwende“ deutlich höher liegen könnte als zuvor, ist davon auszugehen, dass er langfristig wieder unter die Wachstumsrate fallen wird, sodass die Zins-Wachstums-Differenz wieder negativ wird, also (r – g) < 0 gilt. Dies wird umso schneller der Fall sein, je eher es gelingt, die Inflationsraten wieder auf ihr Normalmaß zu drücken.

Literatur

Blanchard, O. J. (2023), Fiscal Policy under Low Interest Rates, The MIT Press.

Priewe, J. (2023a), Schuldentragfähigkeit mit impliziten Staatsschulden – Leitbild oder Irrlicht?, Wirtschaftsdienst, 103(3), 198-204, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2023/heft/3/beitrag/schuldentragfaehigkeit-mit-impliziten-staatsschulden-leitbild-oder-irrlicht.html (15. Mai 2023).

Priewe, J. (2023b), Tragfähigkeit öffentlicher Schulden, implizite Schulden und demografischer Wandel, IMK Study, 84, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Hans-Böckler-Stiftung.

Sinn, H.-W. (2020), Staatsverschuldung und dynamische Ineffizienz: Warum der Münchhausen-Trick nicht funktioniert, Wirtschaftsdienst, 100(8), 572-577, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/8/beitrag/staatsverschuldung-und-dynamische-ineffizienz-warum-der-muenchhausen-trick-nicht-funktioniert.html (15. Mai 2023).

Spahn, P. (2020), Bestands- und Stromungleichgewicht in der Aging Economy. Bemerkungen zu Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert, in H. Krämer und J. Schmidt (Hrsg.), Wirtschaftspolitische Beratung in der Krise, 217-237, Metropolis-Verlag.

Weizsäcker, C. C. von und H. Krämer (2020a), Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert: Das Ende der Kapitalknappheit, Wirtschaftsdienst, 100(8), 569-572, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/8/beitrag/sparen-und-investieren-im-21-jahrhundert-das-ende-der-kapitalknappheit.html (15. Mai 2023).

Weizsäcker, C. C. von und H. Krämer (2020b), Zum Verhältnis von Zinssatz und Wachstumsrate: Theorie und empirische Evidenz, Wirtschaftsdienst, 100(9), 674-681 https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/9/beitrag/zum-verhaeltnis-von-zinssatz-und-wachstumsrate-theorie-und-empirische-evidenz.html (15. Mai 2023).

Weizsäcker, C. C. von und H. Krämer (2021), Saving and Investment in the Twenty-first Century. The Great Divergence, Springer Nature, [dt.: Weizsäcker, C. C. von und H. Krämer (2019), Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert. Die große Divergenz, Springer].

Rentenansprüche sind keine Staatsschulden

Von Jan Priewe

Hagen Krämer und Carl-Christian von Weizsäcker erläutern in ihrer Erwiderung auf meinen Artikel ihr Konzept impliziter Staatsschulden, insistieren, dass Rentenansprüche Vermögen der Bürger seien und folglich Schulden des Staates, und dass unternehmensbezogene Bilanzierungsregeln auch auf Rentenansprüche auf der Basis des Umlageverfahrens anwendbar sind. Darüber hinaus erläutern sie ihre Begründung dafür, dass im 21. Jahrhundert die Zinsen auf Staatsschulden unter der Wachstumsrate des BIP liegen bzw. liegen werden. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Kontroverse um die impliziten Staatsschulden und erläutere schließlich eine Zinstheorie, die von Krämer und Weizsäcker abweicht, aber zu ähnlichen Ergebnissen führt.

Zwei unterschiedliche Konzepte impliziter Staatsschulden

Die Konzeption impliziter Staatsschulden von Krämer und von Weizsäcker ist eine wesentlich andere als die in der wirtschaftspolitischen Diskussion in Deutschland und in der EU verwendete, die ich hier ImSch1 nenne (für Deutschland insbesondere SVR, 2003; SVR, 2020; Werding et al., 2020; und BMF, 2020; und EC, 2021 für die EU). ImSch1 habe ich in meinem Aufsatz kritisiert. In ihrer Konzeption (ich nenne sie ImSch2) sehen Krämer und von Weizsäcker alle Rentenansprüche im Rahmen der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) als Vermögen der Beitragszahler bzw. als implizite Schulden des Staates an, ergänzt um ähnliche Anspruche in der Kranken- und Pflegeversicherung. In dem ADL-Bilanzierungsverfahren (accrued-to-date liabilities, eines von mehreren möglichen), das die Autoren verwenden, werden nur Rentenansprüche von Beitragszahlern zu einem Bilanzstichtag (Gegenwart) einbezogen, die bereits begonnen haben, Beiträge zu zahlen (von Weizsäcker und Krämer, 2021, 164 f.). Zukünftige Beitragsverpflichtungen jenseits des Stichtags werden kategorisch ausgeschlossen, also alle Ansprüche der Rentenversicherung an Beitragszahler nach dem Stichtag. Es wird auch kein Barwert der zukünftigen Forderung der RV eingerechnet. Damit können zukünftige Kosten der Alterung sowie Einnahmen der Sozialversicherungen des Staates nicht erfasst werden – was auch nicht Ziel ihrer Berechnungen ist. Die Bilanzierungsmethoden CWL und OBL werden abgelehnt, die auch den Barwert zukünftiger Rentenbeiträge berechnen bzw. auch zukünftige Beitragszahlende, anscheinend weil sie den in der Privatwirtschaft üblichen Methoden weniger ähnlich sind als ADL (von Weizsäcker und Krämer, 2021, 165). Der Barwert der Rentenansprüche wird mit einem Realzins von null als Diskontierungszins errechnet, anstelle von 3 % bei der EU (EU, 2021 und der Vorgabe der OECD, 2020) und auch beim BMF (2020) in ImSch1. Für die Region OECD und China sind damit die impliziten Schulden in der Version ImSch2 siebenmal so groß wie die expliziten Nettoschulden. Letztere sind Bruttoschulden abzüglich Forderungen des Staates (einschließlich Zentralbank) mit hohem Liquiditätsgrad.

In der Konzeption ImSch1 des BMF (2020) steigen die errechneten impliziten Schulden indessen bis 2060 – in einer Variante um 129 Prozentpunkte gegenüber 2020, in der anderen Variante nur um knapp 30 Prozentpunkte über die Quote expliziter Staatsschulden hinaus (Werding et al., 2020, 180). Sie sind damit zwei- bis dreimal bzw. gut halb so groß wie die expliziten Schulden zu Beginn des Projektionszeitraums. Der SVR hatte im Jahresgutachten 2020 für die Zeit bis 2070 mit der gleichen Methodik einen mittleren Wert errechnet mit nur einer Variante, offenbar um die starke Spreizung der beiden Varianten im BMF-Bericht und den Eindruck der Uneindeutigkeit der Berechnungsmethode zu vermeiden. Die Methodik von Krämer und von Weizsäcker weicht nicht nur beim Diskontierungssatz von der der OECD bzw. der EU vorgeschlagenen (bzw. vorgeschriebenen) Methodik zur Ermittlung von fiskalischer Nachhaltigkeit ab, sie widerspricht ihr fundamental. Ihr Begriff impliziter Schulden wird gänzlich anders gefasst und hat auch eine andere Zielsetzung. Es geht ihnen nicht um die Diskussion über fiskalische Nachhaltigkeit.

In den Tragfähigkeitsberichten des BMF, stellvertretend für andere Berechnungen, wird wie folgt vorgegangen: Hier werden sogenannte demografieabhängige Ausgaben (DaA) für den Zeitraum 2020 bis 2060 berechnet, die sich aus einer Vielzahl von Annahmen ergeben, insbesondere aus Bevölkerungsvorausberechnungen mit den üblichen demografischen Variablen einschließlich Migration, mit der Prämisse einer angebotsseitigen Schätzung des BIP mit Produktionsfunktion und mit Beibehaltung der Sozialabgaben- und der Steuerquote. Auch werden alle sozialrechtlichen Regelungen des Ausgangsjahres annahmegemäß beibehalten (no-policy-change), ebenso der Primärsaldo in % des BIP im Startjahr. Ergebnis ist die wichtige, aber nicht überraschende Erkenntnis, dass die DaA infolge der Alterung der Gesellschaft etwas schneller als der Wachstums­trend steigen. Der geschätzte Anstieg liegt bei 3,4 bzw. 6,8 Prozentpunkten über vier Jahrzehnte in zwei alternativen Szenarien. Diese Kostenprognose wird anschließend in implizite Staatsschulden umgerechnet, indem Haushaltssalden im aggregierten Staatshaushalt bis 2060 geschätzt werden, aus denen sich Bruttoschuldenquoten ableiten lassen, wenn Annahmen über den Realzins auf Staatsanleihen (r) hinzugefügt werden. Daraus kann schließlich eine Tragfähigkeitslücke in Form eines notwendigen Korrekturfaktors beim Primärsaldo im Ausgangsjahr berechnet werden, der S2 genannt wird. Implizite Schulden beziehen sich also hier auf rechnerische zusätzliche Schulden bis zum Zieljahr, die sich aus den Kosten des demografischen Wandels im Untersuchungszeitraum ergeben, sofern keinerlei sozialrechtliche oder fiskalpolitische Änderungen bei Steuern und Ausgaben erfolgen. Die Methodik der Berechnung impliziter Schulden erfordert eine Fülle an Annahmen, die variiert und wiederum unterschiedlich kombinierbar sind, und zu einer großen Spannbreite von Ergebnissen führen.

Der Kern meiner Argumentation ist, dass solche Rechnungen sehr stark von den Annahmen für r und g abhängen, dass die tatsächlichen demografischen Kosten stark überschätzt und geradezu vernebelt werden, weil sie mit Zinskosten infolge des Axioms r > g vermischt werden und weil sie von einer Vielzahl von anderen Annahmen abhängig sind, die teils unrealistisch, teils bestenfalls plausibel sind, wobei häufig unterschiedliche Annahmen gleichermaßen plausibel erscheinen. Demografische Kosten der Zukunft sind hier auch nicht per se Staatsschulden; sie werden nur rechnerisch oder „hypothetisch“ dazu gemacht. Sie sind auch kein Finanz- oder Geldvermögen der Beitragszahlenden, das sich zu klar definierten expliziten Schulden des Staates addieren ließe, obwohl dies in den Berechnungen getan wird. Die sozialrechtlichen Ansprüche an den Staat sind nicht marktbestimmt, sondern politisch festgelegt und veränderbar, sie können nicht zweckfremd verwendet werden, sind nicht vererbbar, nicht handelbar, nicht als Kreditsicherheit verwendbar, nicht im Sinne eines „defined benefit“ einklagbar. Auch andere Annahmen über r und damit die Differenz von r und g machen die Kategorie impliziter Schulden nicht eindeutig, und insofern trifft meine Kritik an ImSch1 auch den Ansatz von Krämer und von Weizsäcker. ImSch1 sieht die bestehenden Ansprüche an die RV bzw. die Sozialversicherungen (SV) insgesamt nicht als implizite Schulden an, im Gegensatz zu Krämer und von Weizsäcker, sondern nur diejenigen, die durch langfristig erwartete demografische Kosten erwartet werden. Krämer und von Weizsäcker machen dagegen eine Bilanz für ein Stichjahr (2015) auf (von Weizsäcker und Krämer, 2021, 179).

Die von Krämer und von Weizsäcker verwendete ADL-Methode zur Umrechnung von Ansprüchen von Bürgern an den Staat ist privatwirtschaftlichen Bilanzierungsregeln entlehnt. Für den Staat ist ADL wenig geeignet, aber meine Kritiker meinen: „Es ist immer sehr nützlich, die Bilanzierungsmethoden der Privatwirtschaft als Vorbild für die Bilanz des Fiskus zu betrachten.“ Der Staat produziert jedoch öffentliche Güter und handelt nicht gewinnorientiert. Der Staat stellt keine Bilanzen auf, und auch die Doppik hat damit große Probleme. Für viele Staatsausgaben gibt es keine Marktpreise. Staatliches Anlagevermögen, insbesondere Infrastrukturbestände, ist nur schwer bilanzierbar. Ob der Staat ein positives oder negatives Eigenkapital hat, ist staatstheoretisch irrelevant, anders als bei Unternehmen. Wenn die entscheidende Finanzierungsquelle für die Sozialversicherungen, die Sozialbeiträge, nur bis zum Bilanzierungsstichtag veranschlagt werden dürfen, obwohl qua Entscheidungs- und Machtmonopol des Staates bzw. der SV die Einnahmen in Zukunft verbindlich geregelt sind und auch geändert werden können, dann darf man sich nicht wundern, wenn der Staat mit Hilfe der ADL-Methode exorbitant hohe Schulden bilanziert. Die Kritiker verweisen auf die US-Firma Enron. Enron verfügte nicht über staatlich gesicherte zweckbezogene Einnahmen, die als Eigenkapital anerkannt werden konnten. Das Beispiel beweist das Gegenteil von dem was Krämer und von Weizsäcker beweisen möchten. Staatlich gesicherte Einnahmen nicht anzuerkennen und diese Lücke dann als zukünftige Schulden zu klassifizieren ist schwer nachvollziehbar. Müsste man nicht auch andere Verpflichtungen des Staates (z. B. Landesverteidigung, Einhaltung völkerrechtlicher Verträge zum Schutz des Klimas etc.) als Vermögen der Bürger und Schulden des Staates ansehen? Warum nur Rentenansprüche?

Rentenansprüche als Geldvermögen und Staatsschulden?

Sind Rentenansprüche Vermögen der Beitragszahler? Umgangssprachlich vielleicht. Man kann den Vermögensbegriff dehnen und strecken wie Milton Friedman, der alle Menschen zu Vermögensbesitzern machte, indem er den Begriff Humankapital einführte. Aber hier geht es um positives Nettovermögen in Form von Geld- oder Finanzvermögen. Finanzvermögen hat üblicherweise die erwähnten Eigenschaften (marktbestimmt, handelbar, relativ liquide, vererbbar, einklagbar und rechtlich gesichert, als Sicherheit geeignet), so wie explizite Staatsschulden in Gestalt von Staatsanleihen. Indirekt kann Finanzvermögen dieser Art natürlich auch durch staatliches Handeln beeinflusst werden, wie jedes Markteinkommen. Hat man den Anspruch, implizite und explizite Schulden zu addieren, müssen sie jedoch qualitativ gleich sein, folglich auch das Vermögen. Maßstab sind dann die Eigenschaften von expliziten Schulden, also Staatsanleihen. Krämer und von Weizsäcker gestehen zu, dass die erwähnten Eigenschaften von Finanz- oder Geldvermögen für implizite Schulden der Variante ImSch2 nicht zutreffen.1 Sie argumentieren, dass das, was subjektiv die gleiche Wertschätzung erfährt wie kapitalbasierte Renten (sie nennen Lebensversicherungen, Betriebsrenten, Leibrenten, selbstbewohnte Wohnung als Beispiele) auch Vermögen sein müsse, also auch die Ansprüche an die RV bzw. die SV insgesamt. Damit sind sie aber noch kein Finanzvermögen, auch kein „Finanzvermögen besonderer Art“, wie sie im letzten Absatz ihrer Replik zugestehen. Diese „besondere Art“, sozusagen „à la Krämer/Weizsäcker“, macht dieses vermeintliche Finanzvermögen qualitativ anders als Staatsanleihen und die impliziten Schulden anders als explizite und damit nicht addierbar. Im Kochbuch für die „besondere Art“ steht die Ingredienz, dass der Staat wie ein Unternehmen zu bilanzieren habe und zwar nach Methode ADL. Selbst wenn solcherart kreative Buchhaltung legitim wäre, ist die Summierung mit expliziten Schulden nicht legitim, sodass die ermittelte Zahl keine Aussagekraft hat.

Sind Rentenbeiträge „Zwangssparen“, also ebenso Sparen wie bei einer Aktienrente oder einer Lebensversicherung? Sie zählen ebenso wie Steuern in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht als Sparen. Sparen ist nicht konsumiertes Einkommen in einer Periode, aber Rentenbeiträge fließen direkt, vermittelt über die RV, in die Finanzierung von Renten, und damit überwiegend in den privaten Konsum der Rentnerhaushalte. Rentenbeiträge im Umlageverfahren sind daher gesamtwirtschaftlich nahezu konsumneutral. Nur bei thesaurierten Renten, die in Rücklagen der RV fließen, wäre es „Sparen“. Dies ist der entscheidende Unterschied zur Kapitalrente: sie entsteht durch „Ansparen“, also Konsumverzicht. Wenn Rentenbeiträge, die zum Erwerb von Rentenanwartschaft nötig sind, faktisch überwiegend Konsum sind, bezogen auf die Gesamtheit der Beitragszahler und Rentner, können sie aus makroökonomischer Sicht kein Nettovermögen sein. Die umlagefinanzierte Rente ist nicht eindeutig in ihrer Höhe vorab definiert und damit einklagbar, weil sie versicherungsmathematisch nicht ermittelbar ist. Trotz Schutz des Eigentums in Art. 14 GG hat das Bundesverfassungsgericht Klagen mit Hinweis auf die Besonderheit des Umlagesystems im Vergleich zu Kapitalrenten abgewiesen (z. B. BVerfG 2016, Rn. 12). Natürlich sind Rentenansprüche gegen Enteignung und Willkür rechtlich geschützt, aber eben nicht die konkrete Höhe.

Wenn man partout eine Bilanz des Staates für einen Stichtag aufstellen und die umlagegestützten Sozialversicherungen integrieren wollte, könnte man nicht die Annahme treffen, dass dann umlagefinanzierte Renten durch äquivalente kapitalbasierte Renten zu ersetzen seien? Die Hypothese impliziert die Existenz eines großen Kapitalstocks, der aus kumulierten Ersparnissen der Vergangenheit resultiert. Man müsste dann alle früheren Rentenbeitragszahlungen umrechnen in thesaurierte Ersparnisse, die aber auch durch Auszahlungen in der Vergangenheit wieder dezimiert wurden. Man könnte alternativ das Fehlen eines derartigen Kapitalstocks als Verschulden der privaten Haushalte und der Unternehmen ansehen und somit als deren Schulden, wobei der Staat als Arbeitgeber einzubeziehen ist. Auf jeden Fall könnte dieser Schuldenberg nicht allein dem Staat hypothetisch angelastet werden. Das hypothetische, fast absurde Beispiel macht deutlich, dass dieser Schuldenberg, der von privaten Haushalten, Unternehmen und Staat zu schultern wäre, verschwindet, wenn man beim umlagefinanzierten Rentensystem bleibt, basierend auf dem Generationenvertrag.

Natürlich haben Krämer und von Weizsäcker recht, wenn sie darauf verweisen, dass eine Lebensversicherung, eine Leibrente, eine Betriebsrente oder ein selbstbewohntes Haus eine Altersversorgung ermöglichen, die einer umlagefinanzierten Rente ähnlich oder äquivalent sind. Selten beruht ein Versorgungssystem nur auf einer Säule. Das ist ebenso trivial wie richtig, und würde ich es bestreiten, würde ich meinen Kritikern zustimmen, auf Abwegen verirrt zu sein. Aus dem trivialen Hinweis folgt aber nicht, dass alles gleichermaßen Vermögenswerte im Sinne von Geldvermögen sind. Alle vier Beispiele sind durch Sparen, also Konsumverzicht, oder durch Schenkung/Erbschaft entstanden. Sie sind Nettovermögen oder sogar schuldenfreies Reinvermögen. Indessen haben Beitragszahler zur RV zwar Rentenansprüche, aber sie sind auch zugleich Schuldner gegenüber der RV und den anderen Versicherungen. Da der Staat einen Teil der Renten aus dem Haushalt bezahlt, sind die Beitragszahler dann auch indirekt als Steuerzahler die „Schuldner“. Klammert man anteilige Kreditfinanzierung des Staates aus, dann ist das Nettovermögen der Beitragszahler als Gesamtheit über alle Generationen hinweg null. Selbst wenn man Rentenansprüche als Vermögen werten würde, wären sie kein Nettovermögen. Das Prinzip ist einfach: wer einzahlt, wird auch von der nächsten Generation nach festgelegten, aber änderbaren Regeln finanziert. Man stelle sich ein Vier-Generationen-System vor: G1 ist die Rentnergeneration, die von G2, der nachfolgenden älteren Erwerbstätigen-Generation überwiegend finanziert wird; G3, die Generation der jungen Erwerbstätigen mit geringeren Bruttoeinkommen als G2, finanzieren mit ihren Sozialbeiträgen ebenfalls G1, aber insbesondere die Generation G4, die noch nicht erwerbstätigen Kinder und Jugendlichen. Wenn die Bevölkerung wegen demografischem Wandel schrumpft, sodass die Rentenbeiträge stetig steigen oder die Renten stetig sinken, dann muss der Generationenvertrag neu verhandelt werden, am besten mit einer dynamischen Kompromissformel. Folglich sind die Verbindlichkeiten der RV auch keine Staatsschulden, insoweit sie durch Beiträge gedeckt sind. Sie werden nur dann zu Staatsschulden, wenn man unterstellt, dass zukünftige Zusatzkosten infolge demografischen Wandels niemals durch Beitragserhöhungen, Erhöhung der Zahl der Beitragszahler oder Leistungsabsenkungen finanziert werden (wie in den Tragfähigkeitsberichten) und immer durch Kreditaufnahme zu Zinsen, die über der Wachstumsrate des BIP liegen. Also durch bloße Annahmen für eine Was-wäre-wenn-Rechnung werden hypothetische implizite Staatsschulden erzeugt.

Die „no-policy-change“-Annahme in der Methodik ImSch1, also die Prämisse, dass Rentenbeiträge weder erhöht oder Leistungen gesenkt bzw. Anspruchsbedingungen verändert werden, impliziert einen Bruch des Generationenvertrags. Dann und nur dann entstehen stetig wachsende Defizite, die sich zu einer rasch wachsenden Schuldenquote auftürmen. Wenn man ein umlagefinanziertes Rentensystem will, muss man den Generationenvertrag wollen und einhalten. Die Hypothese des Bruchs ist also systemfremd. Hypothetische und nicht-hypothetische, also tatsächliche Staatsschulden, sind nicht addierbar, weil der gemeinsame Maßstab fehlt. Darauf wurde immer wieder hingewiesen, aber der Hinweis wird selten beachtet (SVR, 2007; Barr und Diamond, 2006, 26-28; Barr und Diamond, 2010, 60-62; Homburg, 2014, 413 f.).

Die Grundthese des Werkes von von Weizsäcker und Krämer (2021, 2) ist: „Private wealth is nearly twice private real assets. Almost half of private wealth consists of net public debt.“ Diese Diskrepanz ist die „Große Divergenz“ des 21. Jahrhunderts, wie es im Untertitel heißt. Die riesigen Staatsschulden würden ohne die impliziten Schulden des Staates gegenüber den Beitragszahlern der SV nicht zustande kommen. Der wichtigste Pfeiler der großen Divergenz ist also die Kategorie impliziter Schulden. Der zweite Pfeiler ist die Annahme, dass im 21. Jahrhundert r < g gilt.

Ist der Zinssatz im 21. Jahrhundert zwingend kleiner als das Wirtschaftswachstum?

Ich stimme Krämer und von Weizsäcker zu, dass es keinen überzeugenden Grund gibt, der „modified golden rule“ zu folgen, die das Axiom r > g wie ein ehernes Gesetz festlegt. Auch der alten „golden rule“ der Wachstumstheorie, die r = g postuliert, vermag ich nicht zu folgen, und auch nicht dem neuen scheinbar ehernen Gesetz von Krämer und von Weizsäcker für das 21. Jahrhundert, nach dem r definitiv kleiner als g (in der Weltregion OECD und China) und zudem der Realzins negativ sein müsse. Ich begnüge mich mit der bescheideneren Aussage, dass es eine große Wahrscheinlichkeit gibt, dass r ≤ g in nominalen Größen zumindest auf mittlere Sicht in verschiedenen OECD-Ländern (in China ohnehin) und insbesondere in den USA geben kann, nachdem die derzeitige Rohstoffinflation überwunden ist. Ich begründe dies in sechs Schritten.

  1. Wicksells alte Theorie eines natürlichen, risikofreien Gleichgewichtszinses, der Maßstab für den Zins auf Staatsanleihen sein könnte, ist letztlich güterwirtschaftlich begründet, weil nicht konsumierte Güter mit Investitionen in Übereinstimmung gebracht werden (siehe auch Deutsche Bundesbank, 2017). Daraus einen monetären Zins abzuleiten erfordert mehr, nämlich eine monetäre Analyse, die Krämer und von Weizsäcker ablehnen, weil sie sich in der Güterwelt und dem davon abhängigen Steady State eines langfristigen gleichgewichtigen Wachstumstrends bewegen wollen. Da findet man Zinsen, aber keine monetären Zinsen, auch nicht, wenn man eine Neo-Böhm-Bawerk-Zinstheorie erfindet. Da r der monetäre Zins auf Staatsanleihen ist, ist die Zinsanalyse folglich inkohärent.
  2. Neoklassische Annahmen über den Ausgleich von vermeintlich zinsabhängigen Stromgrößen (Sparen und Nettoinvestitionen) verkennen, dass es auf Kreditmärkten um ein Bestandsgleichgewicht von Kreditangebot und Kreditnachfrage geht, wie es auch in der skandinavischen Loanable-Funds-Theorie formuliert wurde. Im modernen Bankensystem ist das Kreditangebot allerdings von der Kreditschöpfungsfähigkeit der Banken „aus dem Nichts“ bestimmt, beschränkt durch die Leitzinsen der Zentralbanken und die Regeln der Bankenaufsicht; das Sparen der Privaten erfolgt aus der Einkommensentstehung, die in hohem Maße von Investitionen und Krediten abhängig ist. Die Bestände an Ersparnissen sind nicht einfach die Summe der jährlichen Ströme, sondern sie erfahren ständig Bewertungsänderungen infolge der Dynamik der Vermögenspreise, ohne je einen stabilen Ruhepunkt zu finden.
  3. Keynes hatte in seinem Werk „A Treatise on Money“ von 1930 noch Wicksells natürlichen Gleichgewichtszins akzeptiert, aber in der „General Theory“ von 1936 verworfen und durch einen „neutralen Zins“ ersetzt, der in einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht existiert (Keynes, 1936, 242-244). Allerdings gibt es, so Keynes, unterschiedliche neutrale Zinssätze, nicht nur einen bestimmten. Für die Zinserklärung stehen bei ihm im 17. Kapitel der General Theory die Zentralbanken und die Liquiditätspräferenz im Vordergrund, also die Präferenz der Vermögensbesitzer, liquide Aktiva in bestimmtem Umfang im Portfolio zu halten. Folglich kann der Zins nur portfoliotheoretisch erklärt werden, und überdies nur aus Erwartungen über die Zukunft der Vermögenspreise. Gibt es keinen eindeutigen Gleichgewichtszins bei Vollbeschäftigung, kann auch die Taylor-Regel für den kurzfristigen gleichwichtigen Zentralbankzins keine eindeutigen Ergebnisse liefern.
  4. Der kurzfristige Zins, der „Leitzins“ der dominierenden Zentralbanken (policy rate rp) kann mittels des Instrumentenkastens in einem engen Korridor relativ gut kontrolliert werden und steuert damit den wichtigen Interbankenzins. Allerdings gehen Erwartungen der Zentralbanken über die Entwicklung langfristiger Zinsen in die Bestimmung des kurzfristigen Zinses ein. Der gegenwärtige und der erwartete zukünftige Leitzins haben eine zentrale Bedeutung für den langfristigen Zins, insbesondere wenn es den Zentralbanken gelingt, sich als Meinungsführer und Souverän der Erwartungsbildung zu etablieren. Insoweit dies gelingt, auch mit Hilfe von Anleihekäufen, haben sie einen großen Einfluss auf den langfristigen Zinssatz, nicht zuletzt um das globale Finanzsystem stabil zu halten.
  5. Unter den vielen Zinsen der Finanzmärkte spielt der für risikofreie Staatsanleihen eine herausgehobene Rolle, insbesondere wenn keine relevanten Währungsrisiken existieren. Dies gilt par excellence für die USA, mit Abstrichen auch für die Eurozone, also für die beiden wichtigsten Währungsräume. Der Zins für Unternehmensanleihen folgt mit einem Risikoaufschlag, ebenso der Zins auf dem riesigen Markt für Hypotheken, denn der Immobilienmarkt, der den Markt für Grund und Boden einschließt, macht den Löwenanteil aller Vermögensmärkte aus (in Deutschland 53 % des volkswirtschaftlichen Bruttovermögens 2018 nach Albers et al., 2022, 9, wobei nur Wohnungsvermögen erfasst wurde). Auch die Aktienmärkte sind stark vom Zins für Staatsanleihen abhängig. Keynes’ Theorie der Liquiditätspräferenz muss als Präferenz für relativ sichere, relativ liquide Finanzaktiva verstanden werden, also als jene Klasse von Geldvermögen, die als „safe haven asset“ gelten. Im Portfolio der Vermögensbesitzer werden auch in „normalen Zeiten“, also weder in extremen Krisen noch in überschäumenden Boomphasen, zu einem bestimmten Anteil solche Vermögenswerte gehalten, nicht zuletzt als Sicherheit für riskante Anlagen. Je risikoreicher angelegt wird, umso mehr sichere Anlagen sind komplementär nötig, die nicht teuer „gehedged“ werden müssen. Wenn die Liquiditätspräferenz L der Vermögensbesitzer und deren Risikobewertung wichtige Bestimmungsgründe der langfristigen Zinsen auf Staatsanleihen sind, dann wird r, der Zins auf Staatsanleihen, letztlich durch das Wechselspiel von rp und L bestimmt.
  6. Im 21. Jahrhundert, bis dato eine Fortsetzung des Zeitalters der finanziellen Globalisierung und der Zunahme der globalen personellen Vermögensungleichheit seit etwa den 1980er Jahren, nahm und nimmt die Nachfrage nach sicheren Anlagen in relativ sicheren Währungen zu. Diese Nachfrage konzentriert sich auf liquide große Märkte, insbesondere auf Staatsanleihen von Ländern aus den großen Währungsräumen, wodurch die Kurse hoch und die Zinsen niedrig bleiben, selbst wenn das Angebot an Staatsanleihen etwas schneller als das BIP steigt. Anlagen von Devisenreserven der Schwellen- und Entwicklungsländer kommen hinzu, zumal viele Währungen dieser Länder latente Abwertungsrisiken haben. Der demografische Wandel in allen OECD-Ländern sowie in China tragen massiv zur Nachfrage nach hochwertigen Vermögenswerten bei, umso mehr, wenn die Alterssicherungssysteme nur schwache umlagebasierte Rentenversicherungen aufweisen. Insbesondere in der Phase vor Renteneintritt sind sichere Anlagen gefragt, gestützt durch Aufwertungserwartungen (gegenüber Herkunftsländern), die temporäre Abwertungsrisiken übersteigen. Auch der Wunsch nach Diversifizierung der Länderrisiken unter den OECD-Ländern spricht dafür, dass in den meisten OECD-Ländern diese Trends greifen und anhalten werden. Auch die enormen Windfall-Profite der Länder mit großen fossilen Energiereserven suchen „safe asset havens“, ebenso die Profite der globalen Superreichen.

Niemand weiß, wie lange diese Trends anhalten. Chinas mögliche vollständige Integration in die Weltfinanzmärkte (oder der Rückzug in die Abschottung) ist die größte Unbekannte. Sowohl der demografische Wandel in den OECD-Ländern und China als auch die ökologische Transformation sprechen für langsameres Wachstum der Weltweltwirtschaft, sodass die Differenz g - r klein sein könnte, vielleicht auch eher um null fluktuieren könnte. Inflationsrisiken infolge von Arbeitskraftknappheit angesichts des demografischen Wandels müssten beherrscht werden können, eine große Herausforderung. Die Geldpolitik insbesondere der führenden Zentralbanken spielt eine zentrale Rolle. Zinsen sind längst keine reinen Marktpreise mehr.

In der Diskussion um die Staatsverschuldung und die Fiskalpolitik ist r der nominale oder reale durchschnittliche Zinssatz auf den Bestand an Anleihen. Er ist ein monetärer Wert und hat nichts mit der Grenzproduktivität des Sachkapitals zu tun, die angesichts von Schwierigkeiten der Messung häufig einfach als identisch mit dem monetären Zins taxiert wird. Die von Piketty fokussierte Profitrate hat wiederum nichts mit r zu tun: es ist die durchschnittliche Profitrate auf Sachkapital, also auch nicht die marginale Profitrate des Anbieters mit den höchsten Grenzkosten (bei Keynes die marginal efficiency of capital). Ein kurzer schnappschussartiger Blick in die Statistik zeigt, dass die Unternehmens- und Vermögenseinkommen in Deutschland (2021) in % des volkswirtschaftlichen Nettoanlagevermögens, bewertet zu Wiederbeschaffungspreisen, eine Rendite von 6,6 % ermöglichten.2 Wenn die Zahl im Trend läge und die Durchschnittsrendite approximiert, würde sie die verbreitete Ansicht bestätigen, dass die durchschnittlichen Sachkapitalrenditen p‘ in Deutschland keinen säkularen Rückgang zeigen, keinen tendenziellen Fall, obwohl r < g seit einiger Zeit vorherrscht und r bis 2021 gesunken ist. r und p‘ sind gänzlich unterschiedliche Kategorien. Das würde Pikettys Thesen bestätigen, aber sowohl Hans-Werner Sinn als auch Krämer und von Weizsäcker widersprechen (Weizsäcker und Krämer, 2020).

Fiskal- und rentenpolitische Schlussfolgerungen

Zu Recht schreiben Krämer und von Weizsäcker in ihrer Replik, dass im Fall einer Episode r > g, also einer Abweichung von dem von den Autoren ermittelten gleichgewichtigen Steady-State-Pfad, der Primärsaldo des Staatshaushalts erhöht werden muss, wenn der Schuldenstand stabil bleiben soll. Sie meinen natürlich die Summe der expliziten und der impliziten Schulden. Wenn letztere aber nur hypothetische (oder potenzielle) Schulden sind und niemals zu expliziten werden, muss weniger gegengesteuert werden. Aus ImSch1 folgt nicht, dass konsolidiert werden muss, wenn die Sozialbeiträge bzw. Steuersätze oder die Leistungen der Beitragszahler (oder sonstige Staatsausgaben) gekürzt werden. Diese Maßnahmen, die ImSch1 ausschließt, würden den Primärsaldo gar nicht beeinflussen. Bei ImSch2 ist die Situation unklar. Offenbar kann der Staat gegenwärtig den riesigen rechnerischen Schuldenberg, den die Autoren ermittelt haben, ganz gut tragen, und zwar weil die RV-Beiträge nach dem Bilanzstichtag Jahr für Jahr sprudeln, aber im ADL-Verfahren ausgeklammert werden. Wenn r doch g übersteigen sollte, würde Kapital wieder knapp und die Budgetrestriktion würden greifen. Wieviel Schulden tragbar sind, bleibt hier unklar.

Was die Identifizierung der Kosten der demografischen Alterung betrifft, reicht die Schätzung der Zunahme der DaA relativ zum BIP. Wenn sie innerhalb von 40 Jahren um 3,4 oder 6,8 Prozentpunkte steigen (BMF, 2020) oder um 3,3 Prozentpunkte 2019 bis 2070 nach dem Aging Report der Europäischen Kommission (EC, 2021a), ist das Problem überschaubar. Sicherlich sollten diese Kosten nicht durch zusätzliche Kreditaufnahme finanziert werden. Dann werden die nach ImSch1 errechneten zusätzlichen Schulden auch nicht zu expliziten Schulden.

Dass die Beitragssätze, das Rentenniveau und die Lebensarbeitszeit wichtige Stellschrauben sind, wie Krämer und von Weizsäcker betonen, steht außer Frage (vgl. Abbildung 1). Allerdings gilt für die dritte Option, dass die Verlängerung der Lebenserwartung mit höherer Morbidität und höherer Prävalenz alterstypischer Krankheiten einhergeht, die die Arbeitsfähigkeit der Älteren einschränken. Zudem entstünden auch höhere Rentenansprüche bei längerer Lebensarbeitszeit. Daher ist diese Option alles andere als eine Patentlösung für die Kosten der Alterung. Unerwähnt bleiben bei Krämer und von Weizsäcker die Erhöhung der Zahl der Beitragszahlenden, etwa durch höhere Frauenerwerbstätigkeit mit höheren Jahresarbeitszeiten als bislang. Zentrale Hindernisse sind bekanntlich der Mangel an Kindertagesstätten und die Fehlanreize bei der Einkommensteuer. Nettozuwanderung ist eine weitere wichtige Stellschraube, ebenso die Einbeziehung anderer Gruppen von Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung. Zwar entstehen in der Zukunft dann auch höhere Rentenzugänge, aber über einen längeren Zeitraum würden deutliche Mehreinnahmen bei der RV anfallen. Das grundlegende Problem der demografischen Alterung, die zurückgehenden Geburtenzahlen im Verhältnis zur Zahl der Sterbefälle und damit der kontinuierliche Anstieg des Altenquotienten bleibt jedoch bei allen Maßnahmen bestehen, und damit auch das Problem der intergenerativen Einkommensverteilung. Die Schuldenfrage sollte davon abgetrennt werden. Indirekt hat die Alterung der Gesellschaft natürlich erhebliche fiskalische Auswirkungen, da einerseits die Kosten relativ zum BIP steigen und Verteilungskonflikte verstärken, andererseits weil das BIP-Wachstum gedämpft wird und die Auswirkungen auf r ungewiss sind.

Abbildung 1
Bevölkerung nach Erwerbsbeteiligung und Altersjahren in Deutschland
Bevölkerung nach Erwerbsbeteiligung und Altersjahren in Deutschland

Quelle: BIB (2022).

  • 1 Ähnlich argumentieren Krämer und von Weizsäcker in von Weizsäcker und Krämer (2020): „Da sie (gemeint: die Rentenanwartschaften der Beitragszahler, JP) andersartige Verbindlichkeiten sind als staatliche Wertpapiere, bezeichnen wir sie als implizite Staatsschulden …“ (678). Wieso können sie dann addiert werden? Sie sind sogar so andersartig, dass faktisch gar keine Zinsen auf sie gezahlt werden müssen. Da die Tilgung offenbar in Rentenzahlungen in der Gegenwart und der Zukunft erfolgt, ist die Bilanz zum Stichjahr nicht aussagekräftig für die Zukunft. Denn dass die Beitragszahler auch nach dem Stichjahr Beiträge zahlen ist ja völlig unstrittig.
  • 2 Berechnet nach Destatis, Fachserie 18, Reihe 1.4, von 2021, Tabellen 2.1.3 und 2.1.17. Die Zahl liegt im Trend der Periode seit 2005, die in der Fachserie erfasst ist.

Literatur

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Title:Debt Sustainability With Implicit Government Debt: Replica and Rejoinder

Abstract:Some analyses examining the long-term sustainability of government debt use the term implicit government debt. This is an approach that is occasionally criticized. However, the concept of implicit government debt is necessary to evaluate the scope for long-term fiscal policy and to analyze the consequences of demographic change. Krämer and von Weizsäcker reject the assumption of a general positive interest rate-growth differential that is often made in these sustainability analyses. Priewe focuses on the controversy surrounding implicit government debt and explains a theory of interest rates that differs from Krämer and Weizsäcker but leads to similar results.

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DOI: 10.2478/wd-2023-0102