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Der Verlust der Erwerbsfähigkeit ist ein unterschätztes Einkommensrisiko. Erwerbsminderung ist für die überwiegende Mehrheit gleichbedeutend mit dem Wegfall ihrer wichtigsten Einkommensquelle, ihrem Lohn. Der Konsum wird dann aus einer Erwerbsminderungsrente, Transferleistungen, dem Einkommen anderer Haushaltsmitglieder, eigener Erwerbstätigkeit in geringem Stundenumfang und, falls vorhanden, Erspartem bestritten. Immerhin gehen rund 160.000 Menschen jährlich in eine Erwerbsminderungsrente. Im Rentenbestand sind es 1,8 Mio. Menschen, hinzu kommen etwa 2,7 Mio. Menschen, die inzwischen eine Altersrente beziehen. Bezogen auf alle Alters- und Erwerbsminderungsrenten liegt der Anteil der ursprünglich Erwerbsgeminderten bei immerhin 22 %.

Von den Erwerbsgeminderten, die die Regelaltersgrenze noch nicht erreicht haben, gilt etwa ein Drittel als armutsgefährdet, die Grundsicherungsquote (bei unbefristeten Renten) liegt aktuell bei 15 %, der Bezug von Sozialhilfe oder anderer Transfers dürfte ebenfalls überdurchschnittlich ausfallen. Dieser lange bekannte Umstand, die allgemeine Anhebung der Altersgrenzen und eine günstige Kassenlage haben dazu beigetragen, dass die Leistungen bei Erwerbsminderung für Betroffene seit einigen Jahren günstiger berechnet werden. So gab es 2014, 2018 und 2019 Reformen. Allerdings bezogen sich bisher alle Verbesserungen nur auf neu zugehende Erwerbsminderungsrenten, nicht auf den Rentenbestand. Das wird nun bis Juli 2024 nachgeholt. Dann werden die Renten pauschal um 7,5 % (Rentenzugänge zwischen Januar 2001 und Juni 2014) bzw. 4,5 % (Rentenzugänge zwischen Juli 2014 und Dezember 2018) angehoben.

Auch nach der Reform werden Armutsrisiko und Grundsicherungsquote überdurchschnittlich ausfallen. Eine aktuelle Studie des DIW Berlin schätzt, dass die Reform das Armutsrisiko nur um etwa 2 Prozentpunkte senken kann. Die Reform kommt zudem sehr spät, wenn sie heute noch Renten aufwertet, die teilweise vor 23 Jahren (2001!) in Rente gegangen sind. Bei Erwerbsgeminderten handelt es sich in der Regel um Menschen mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen und unterdurchschnittlicher Lebenserwartung. Bei befristeten Renten wird es zudem keine Rückrechnung geben und bei Gestorbenen allenfalls eine höhere Hinterbliebenenrente. Viele Mitglieder dieser frühen Zugangskohorten werden also nicht in den Genuss der Aufwertung kommen. Der Zuschlag ist zudem sehr sparsam kalkuliert: Rechnerisch entspricht die Anhebung ungefähr 50 % dessen, was die Reformen 2014 und 2019 für neu zugehende Erwerbsminderungsrenten vorsahen. Die Bundesregierung schätzt die zusätzlichen jährlichen Ausgaben der Rentenversicherung auf etwa 2,6 Mrd. – mit abnehmender Tendenz. Man könnte überrascht sein, dass diese Reform – bei so einem überschaubaren Finanzvolumen – nicht früher umgesetzt wurde. Laute Stimmen dagegen, wie etwa bei der deutlich kostspieligeren Mütterrente oder der Rente für besonders langjährig Versicherte, gab es eigentlich nicht. Und trotzdem hat es lange gedauert, bis man sich zu substanziellen Verbesserungen durchgerungen hat. Das verdeutlicht ein generelles Problem bei dem Risiko der Erwerbsminderung: es wird unterschätzt und es ist in der rentenpolitischen Debatte maximal ein Randthema. Dabei gäbe es hier viel Reformbedarf. Denn trotz aller Verbesserungen bei der Rentenberechnung, bleibt das Armutsrisiko erheblich.

Wie könnte das Armutsrisiko substanziell gesenkt werden? Eine weitere Anhebung der Erwerbsminderungsrenten wäre zwar möglich, würde aber das Problem vergrößern, dass die Erwerbsminderungsrente bereits heute für ältere Personen attraktiver sein kann als eine Altersrente mit Abschlägen. Eine Alternative wäre, Leistungsverbesserungen in beiden Systemen vorzunehmen. Das ist aber angesichts der finanziellen Spielräume der Rentenversicherung eher unrealistisch. Ein Kompromiss könnte darin bestehen die Grundrente weiter zu entwickeln, sodass sich mehr Erwerbsgeminderte dafür qualifizieren. Bisher zählen die Zurechnungszeiten bei der Erwerbsminderungsrente nicht zu den Grundrentenzeiten, sodass sich viele Erwerbsgeminderte nicht für den Grundrentenzuschlag und die Freibeträge bei der Grundsicherung oder dem Wohngeld qualifizieren können. Ein weiterer wichtiger Punkt wäre eine Erhöhung der Reaktivierungsquote. Eine aktuelle Studie der Rentenversicherung zeigt für den Zugang 2011, dass im Laufe von neun Jahren nach Renteneintritt gerade mal 1 % zurück in den Arbeitsmarkt gefunden hat. Bei so geringen Abgangsraten kann man sicher auch die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, Erwerbsminderungsrenten grundsätzlich zu befristen. In der rentenpolitischen Diskussion wird die Frage, wie das Risiko der Erwerbsminderung im Mehrsäulensystem versichert werden soll, selten adressiert. Ein Beispiel dafür ist die Riesterrente. Bei dieser staatlich geförderten Versicherung ist das Risiko der Erwerbsminderung in der Regel nicht versichert, stattdessen gelten voll Erwerbsgeminderte als unmittelbar zulagenberechtigt. Die private Absicherung ist teuer und erfordert eine Gesundheitsprüfung. Bei der betrieblichen Altersvorsorge gibt es diesen Versicherungsschutz häufiger, allerdings ist ihre Verbreitung ungleich verteilt, sodass viele Menschen, die eine Absicherung brauchen, keinen Zugang haben.

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© Der/die Autor:in 2023

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DOI: 10.2478/wd-2023-0089