Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland basieren auf dem Umlageverfahren, bei dem die Ausgaben der Sozialversicherungen in der laufenden Periode durch Einnahmen aus Beiträgen, die auf die Einkommen der abhängig Beschäftigten erhoben werden, gedeckt werden. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, der in den kommenden Jahren immer stärker zum Tragen kommen wird, wird häufig die Nachhaltigkeit der umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme hinterfragt, weil sich das Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern ändern wird. Dies dürfte sich zwar vor allem bei der gesetzlichen Rentenversicherung auswirken, aber auch bei der gesetzlichen Kranken- und der Pflegeversicherung.
Vor diesem Hintergrund werden die öffentlichen Gesundheitsausgaben in Deutschland bis 2050 projiziert. Mit einer zunehmenden Alterung der Bevölkerung dürften diese, etwa im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), überproportional zunehmen, weil sich der Gesundheitszustand mit zunehmendem Alter allmählich verschlechtert und deshalb mehr medizinische Leistungen in Anspruch genommen werden. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, haben sich die öffentlichen Gesundheitsausgaben in Relation zum BIP in Deutschland von 2011 bis 2019, dem letzten Jahr vor Ausbruch der Coronapandemie, kontinuierlich erhöht, während in den Jahren zuvor noch eher eine Stagnation zu verzeichnen war.1 In die staatlichen Gesundheitsausgaben werden im Folgenden nicht allein die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern darüber hinaus auch alle gesundheitsrelevanten Ausgaben der Pflegeversicherung, der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung sowie der Gebietskörperschaften einbezogen.2
Abbildung 1
Gesundheitsausgaben in Relation zum BIP
Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen.
Modell zur Fortschreibung der Gesundheitsausgaben
Die Projektion der Gesundheitsausgaben erfolgt mit einem einfachen methodischen Ansatz, dessen Grundlage die Gesundheitsausgaben pro Kopf in einzelnen Alterskohorten bilden (Besseling und Shestalova, 2011), die sich, wie folgt, ermitteln:
(1)
Die realen Gesundheitsausgaben pro Kopf in Alterskohorte k und Periode t ändern sich demnach im Zeitverlauf durch Veränderungen der Morbidität (erster Term in Gleichung (1)) in der jeweiligen Kohorte und durch die Veränderung sonstiger Faktoren rkt. Der Faktor mt gibt an, wie sich eine erhöhte Lebenserwartung auf die Gesundheitsausgaben einer Alterskohorte auswirkt. Er ergibt sich als Produkt aus der zusätzlichen jährlichen Lebenserwartung und dem Anteil dieser gewonnenen Lebenserwartung, der bei guter Gesundheit verlebt werden kann und nimmt somit Werte zwischen 0 und 1 an. Somit werden die Gesundheitsausgaben in jeder Alterskohorte über den ersten Term der Gleichung (1) über die Zeit in die nächste Kohorte verschoben, weil sich der Gesundheitszustand verbessert. Daten zur Veränderung der Lebenserwartung und der gesunden Lebenserwartung liegen für über 65-Jährige in Deutschland vor, sodass daraus mt ermittelt werden kann.
Der Parameter rkt fasst weitere, demografieunabhängige Einflussfaktoren auf die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zusammen und gibt die Elastizität der Gesundheitsausgaben pro Kopf bei Veränderungen des (nominalen) BIP je Einwohner wieder. Zu den Faktoren, die diese Elastizität beeinflussen gehören im Wesentlichen die Einkommenselastizität der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, der technische Fortschritt im Gesundheitswesen und der Baumol-Effekt, nach dem die Kosten für Gesundheitsleistungen aufgrund eines geringeren Produktivitätsfortschritts im Gesundheitssektor und bei ähnlicher Lohnentwicklung wie in anderen Sektoren überproportional zunehmen. Schätzungen zufolge liegt diese Elastizität in entwickelten Industrieländern bei ungefähr 1,25 (Hagist und Kotlikoff, 2009; Medeiros und Schwierz, 2013; OECD, 2006). Multipliziert mit Preisindex in Periode t (pt) ergeben sich die nominalen Gesundheitsausgaben pro Kopf in Kohorte k und Periode t. Die gesamtstaatlichen Gesundheitsausgaben X in Jahr t errechnen sich dann über:
(2)
Also aus der Personenzahl E in jeder einzelnen Alterskohorte k in Jahr t multipliziert mit den realen Gesundheitsausgaben pro Kopf (x) in der jeweiligen Kohorte aufsummiert über alle Kohorten k und multipliziert mit dem Preisindex in Periode t. Mit diesem Ansatz können die Gesundheitsausgaben ausgehend von einem in einem gewählten Basisjahr tatsächlich realisierten Wert fortgeschrieben werden. Obwohl die realisierten Gesundheitsausgaben bis 2021 vorliegen, wurde das Jahr 2020 als Basisjahr gewählt, weil insbesondere in den Jahren 2021 und 2022 die Gesundheitsausgaben durch die Coronapandemie deutlich überzeichnet gewesen sein durften.3
Projektion der öffentlichen Gesundheitsausgaben
Im Folgenden wird die beschriebene Methode zur Projektion der öffentlichen Gesundheitsausgaben bis 2050 verwendet. Dabei wird die neue 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung zugrunde gelegt, die mittel- bis langfristig einen höheren Wanderungssaldo und einen höheren Bevölkerungsstand als die vorangegangene prognostiziert. Daten zur langfristigen Entwicklung des realen und nominalen BIP in Deutschland wurden der OECD entnommen (OECD, 2021). Aus den Bevölkerungsvorausberechnungen und den Projektionen des nominalen BIP kann dann das BIP je Einwohner errechnet werden. Für das reale BIP ist eine jährliche Zuwachsrate von 0,8 % unterstellt, die jährliche Verbraucherpreisinflation wurde mit 2 % angenommen (OECD, 2021). Für die Einkommenselastizität der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen wurde ein Wert von 1,25 angenommen. Die Gesundheitsausgaben wurden dabei auf Basis dreier verschiedener Varianten der Bevölkerungsvorausberechnung ermittelt. Als Basisvariante wurde diejenige gewählt, bei der sowohl für die Geburtenrate als auch für die Lebenserwartung und den Wanderungssaldo eine moderate Entwicklung unterstellt ist (G2L2W2). Darüber hinaus wurde die Variante mit einer relativ jungen Bevölkerung berücksichtigt (G3L1W3). Diese unterstellt eine relativ hohe Geburtenrate und einen relativ hohen Wanderungssaldo bei einer gleichzeitig relativ geringen Lebenserwartung. Schließlich wurde noch die Variante mit einer relativ alten Bevölkerung berücksichtigt (G1L3W1), die eine geringe Geburtenrate und einen geringen Wanderungssaldo mit einer relativ hohen Lebenserwartung kombiniert. Keine Berücksichtigung in den Vorausberechnungen finden mögliche diskretionäre Maßnahmen, die etwa Einsparungen bei den Gesundheitsausgaben zum Ziel haben. Die Berechnungen unterstellen also einen gesundheitspolitischen Status quo.
Die Ergebnisse der Berechnungen können Abbildung 2 entnommen werden, in der die Entwicklung der jährlichen Gesundheitsausgaben je Einwohner dargestellt ist, wie sie gemäß Gleichung (1) berechnet werden. Der stärkste Anstieg ergäbe sich demnach erwartungsgemäß im Szenario mit einer relativ alten Bevölkerung. Am geringsten wären die staatlichen Gesundheitsausgaben je Einwohner im Szenario einer relativ jungen Bevölkerung, also bei einer recht hohen Geburtenrate und einem hohen Wanderungssaldo bei einer gleichzeitig geringen Lebenserwartung. In diesem Szenario würden sich die jährlichen öffentlichen Gesundheitsausgaben je Einwohner von derzeit ungefähr 4.000 auf 11.000 Euro erhöhen, im Szenario einer relativ stark alternden Gesellschaft hingegen auf über 12.000 Euro.
Abbildung 2
Projizierte Gesundheitsausgaben je Einwohner
alternative Varianten der Bevölkerungsvorausberechnung
Quelle: Statistisches Bundesamt, Eurostat, OECD, eigene Berechnungen.
Insgesamt würden die öffentlichen Gesundheitsausgaben, ausgehend von etwa 340 Mrd. Euro im Jahr 2021, bis 2050 auf knapp 1.000 Mrd. Euro steigen und sich damit fast verdreifachen (vgl. Abbildung 3). Interessanterweise lägen die staatlichen Gesundheitsausgaben im Szenario einer relativ jungen Bevölkerung dann etwas höher als im Szenario einer relativ alten Bevölkerung. Dies geht darauf zurück, dass die Einwohnerzahl im Szenario einer jungen Bevölkerung deutlich stärker zunimmt. Allerdings würde auch das nominale BIP und damit die Bruttolöhne und -gehälter, auf die die Sozialbeiträge erhoben werden, bis 2050 laut Projektionen der OECD um über 120 % zunehmen und sich damit mehr als verdoppeln.4 Für das Szenario mit einer moderaten Geburtenrate und Lebenserwartung und einem moderaten Wanderungssaldo ist in Abbildung 4 deshalb zudem die Entwicklung der öffentlichen Gesundheitsausgaben in Relation zum nominalen BIP dargestellt. Bis 2024 gingen die staatlichen Gesundheitsausgaben in Relation zum BIP demnach zurück, was auf den starken Anstieg des nominalen BIP in diesem Zeitraum zurückzuführen ist. Ab 2024 würden die Gesundheitsausgaben des Staates in Relation zum BIP bis 2050 jedoch um ungefähr 2 Prozentpunkte auf dann 11 % zunehmen.
Abbildung 3
Projizierte Gesundheitsausgaben
alternative Varianten der Bevölkerungsvorausberechnung
Quelle: Statistisches Bundesamt, Eurostat, OECD, eigene Berechnungen.
Abbildung 4
Projizierte Gesundheitsausgaben in Relation zum BIP
Variante G2L2W2 der Bevölkerungsvorausberechnung
Quelle: Statistisches Bundesamt, Eurostat, OECD, eigene Berechnungen.
Fazit
In den kommenden Jahrzehnten dürften die öffentlichen Gesundheitsausgaben in Deutschland deutlich zunehmen. Neben den generellen Preissteigerungen wirkt sich auch die zunehmende Alterung der Bevölkerung aus. Selbst im Szenario einer relativ jungen Bevölkerung nimmt der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung bis zum Jahr 2050 zu, und die Gesundheitsausgaben je Einwohner steigen damit selbst in diesem Szenario deutlich. Natürlich nimmt gleichermaßen auch das nominale BIP im betrachteten Zeitraum spürbar zu. Damit sollten auch die Beitragseinnahmen der Sozialversicherungen, die durch die Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter determiniert sind, kontinuierlich zunehmen. Da aber der Anstieg der öffentlichen Gesundheitsausgaben den Berechnungen zufolge höher ausfällt als der Zuwachs des nominalen BIP, dürften in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, sofern keine Einsparungen im Gesundheitssystem erfolgen, weitere Beitragssatzanhebungen oder zusätzliche Steuerzuschüsse vor allem an die gesetzliche Kranken- und an die Pflegeversicherung erforderlich sein.
- 1 Die Jahre 2020 und 2021 sind nicht aufgeführt, weil die Gesundheitsausgaben in diesen Jahren durch die Coronapandemie überzeichnet waren.
- 2 Als gesundheitsrelevant gelten alle Ausgaben, die das Ziel der Prävention, Behandlung, Rehabilitation und Pflege, mit Ausnahme der Langzeitpflege, verfolgen (Statistisches Bundesamt, 2019).
- 3 Die Coronapandemie hatte schon 2020 zum Anstieg der Gesundheitsausgaben beigetragen, in den Jahren 2021 und 2022 fielen die coronabedingten Gesundheitsausgaben jedoch deutlich höher aus (Statistisches Bundesamt, 2023).
- 4 Die Fortschreibung des BIP bis 2024 basiert auf der Frühjahrsprognose des IWH (2023), für die Folgejahre wurden die Zuwachsraten aus den Langfrist-Projektionen darauf aufgesetzt.
Literatur
Besseling, P. und V. Shestalova (2011), Forecasting Public Health Expenditures in the Netherlands, The Netherlands Bureau for Economic Policy Analyses.
Brändle, T. und C. Colombier (2022), Healthcare Expenditure Projections up to 2050: Ageing and the COVID-19 Crisis, FFA Working Paper, 25, Juli.
Hagist, C. und L. Kotlikoff (2009), Who’s going broke? Comparing Growth in Public Healthcare Expenditure in ten OECD countries, Revista de Economia Publica, 188, (1), 55-72.
IWH – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (2023), Konjunktur aktuell: Gasspeicher voll – Konjunkturaussichten weniger trüb, Konjunktur aktuell, 1.
Medeiros, J. und C. Schwierz (2013), Estimating the drivers and projecting long-term public health expenditure in the European Union: Baumol’s ‘cost disease’ revisited, European Economy, Economic Papers, 507.
OECD (2006), Projecting OECD Health and Long-Term Care Expenditures: What are the Main Drivers?, OECD Economic Department Working Paper, 477.
OECD (2021), Long-term baseline projections, 109, Edition 2021, OECD Economic Outlook: Statistics and Projections.
Statistisches Bundesamt (2019), Zusammenhänge und Unterschiede zwischen der Gesundheitsausgaben- und Finanzierungsrechnung, Methodenpapier.
Statistisches Bundesamt (2023), Pressemitteilung, 136, 5. April, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/04/PD23_136_236.html (24. Mai 2023).