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Die Türkei steht nach den Wahlen vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen. Zwar weist das Land über die vergangenen Jahre positive Wachstumszahlen auf. Diese sind jedoch mit einer anhaltend hohen Inflation und einer schwachen türkischen Währung teuer erkauft. Die Folgen sind nicht nur für die türkische Bevölkerung schwerwiegend, sondern können bei einer Verschärfung der Krise auch für die EU und Deutschland zu einem großen Problem werden. Die Ernennung neuer Minister und Zentralbankverantwortlicher hat Hoffnungen auf eine mögliche Änderung der bisherigen Wirtschaftspolitik geweckt.

Die türkische Wirtschaft befindet sich seit Jahren in einer anhaltenden Krise. Eine hohe Inflation, die bis 2022 zeitweise über 80 % lag und seit Mai 2023 bei 40 %, hat die Kaufkraft der Bevölkerung erheblich geschmälert. Hinzu kommt ein hohes Leistungsbilanzdefizit, da die Türkei mehr Güter importiert als exportiert. Die externen Finanzierungsbedürfnisse des Landes werden auf über 200 Mrd. US-$ geschätzt. Die Staatsverschuldung nimmt in den vergangenen zwei Jahren stetig zu. Darüber hinaus sind private Haushalte mit einer Verschuldung von etwa 180 % des BIP hoch belastet. Durch den erheblichen Wertverlust der türkischen Währung seit Anfang 2008 sind die Importkosten des Landes weiter gestiegen. Die Lira gehört zu den weltweit am stärksten fallenden Währungen. Dies hat zu einer Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Unternehmen auf dem globalen Markt geführt. Statt wie andere Zentralbanken mit Zinserhöhungen die Inflation einzudämmen, hat der türkische Präsident politischen Druck auf die Zentralbank ausgeübt, um die Zinssätze niedrig zu halten. Diese unorthodoxe Geldpolitik hat jedoch die Staatsfinanzen erschüttert und das Vertrauen internationaler Investoren in die türkische Wirtschaft schwer geschwächt. Investoren ziehen ihr Geld aus der Türkei ab.

Erschwerend kommt hinzu, dass das Land zu Beginn des Jahres 2023 von einem historischen Erdbeben mit über 50.000 Todesopfern heimgesucht wurde, was in der Folge die Staatsfinanzen noch stärker belastet. Die Devisenreserven des Landes sind nahezu erschöpft. Schätzungen zufolge hat die Zentralbank nahezu 200 Mrd. US-$ aufgebraucht, um die schwache Lira zu stützen; erfolglos. Dringend benötigte Kredite werden nun größtenteils von Banken aus islamischen Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Nahen Osten bereitgestellt. Die Abhängigkeit, insbesondere von wohlhabenden Golfstaaten, nimmt zu, während die Beteiligung westlicher Banken abnimmt.

Mit der Rückkehr des ehemaligen Finanzministers Mehmet Simsek und der Ernennung von Hafize Gaye Erkan, einer US-amerikanischen Bankerin, zur neuen Leiterin der türkischen Zentralbank, gibt es Anzeichen dafür, dass eine Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik anstehen könnte. Eine Erhöhung der Zinssätze und die Umkehrung der aktuellen Wirtschaftspolitik könnten dazu beitragen, die Inflation einzudämmen und das Vertrauen in die türkische Wirtschaft wiederherzustellen. Darüber hinaus könnten strukturelle Reformen sowie eine Rückkehr zu unabhängigen rechtsstaatlichen Institutionen, die türkische Wirtschaft mittelfristig wieder stabilisieren.

Nicht nur für die Türkei steht in den kommenden Monaten viel auf dem Spiel, sondern auch für Europa und insbesondere Deutschland, der wichtigste Handelspartner der Türkei. Zugleich gehören deutsche Firmen zu den wichtigsten Investoren im Land. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch der Türkei hätte daher unmittelbar auch große negative Folgen für die deutsche Wirtschaft. Zudem leben nach aktuellen Schätzungen über 8 Mio. Flüchtlinge in der Türkei, darunter etwa 4 Mio. Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Die zunehmende Verschlechterung der Wirtschaft führt zu Spannungen im Land und das Risiko einer großen Flüchtlingswelle in Richtung EU wird zu einem realen Risiko.

Die neuen verantwortlichen Akteure für die türkische Wirtschaftspolitik und die Zentralbank stehen im 100. Jubiläumsjahr der Türkischen Republik vor historischen Herausforderungen. Es geht nicht mehr darum, ob das Land in den kommenden Monaten eine Verschlimmerung der Wirtschaftskrise dämpfen kann und die Lebensbedingungen der Türken sich verbessern. Vielmehr geht es darum, die bisher größte Finanzkrise des Landes zu verhindern und eine mögliche langsame Stabilisierung des Landes zu initiieren. In Anbetracht der Klimakrise, dem Krieg in der Ukraine und den zunehmenden Flüchtlingsströmen hätte eine weitere Destabilisierung der türkischen Wirtschaft schwerwiegende Konsequenzen für die EU und Deutschland. Im besten Fall kann die Türkei mit schmerzhaften Reformen in den kommenden Monaten stabilisiert werden. Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind im Augenblick so gestaltet, dass die negativen Risiken deutlich größer ausfallen. Die Türkei und Europa müssen sich auf turbulente Zeiten einstellen.

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© Der/die Autor:in 2023

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2023-0107