Betriebe haben es immer schwerer, nicht nur Fachkräfte, sondern auch Personal für einfachere Tätigkeiten zu rekrutieren. Die konjunkturelle Schwächephase infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die damit verbundenen Preissteigerungen sowie Lieferkettenprobleme bremsen die Nachfrage allenfalls leicht. Doch die Engpasssituation am Arbeitsmarkt könnte sich weiter verschärfen: Zum einen werden für den Umbau einer immer stärker auf Digitalisierung und Dekarbonisierung setzenden Wirtschaft viele, auch erfahrene Fachleute gebraucht. Die doppelte Transformation sorgt für veränderte Qualifikationsbedarfe, was den Wettbewerb am Arbeitsmarkt verstärken kann. Zum anderen führt die demografische Entwicklung zu einer Verknappung und gleichzeitigen Alterung des Arbeitskräfteangebots. Damit rückt die Erwerbstätigkeit Älterer ins Blickfeld. Würde es gelingen, die insgesamt gut qualifizierten Babyboomer länger in Beschäftigung zu halten, könnte die Arbeits- und Fachkräftelücke verringert werden.
Betriebliche Rekrutierungsprobleme können sehr unterschiedliche Ursachen haben. Mangel ist gegeben, wenn es schlichtweg an geeigneten Bewerber:innen fehlt. Die Arbeitskräftesuche kann aber auch ohne Erfolg bleiben, wenn die von betrieblicher Seite angebotene Beschäftigung am Arbeitsmarkt nicht hinreichend wettbewerbsfähig ist, z. B. mit Blick auf konkrete Arbeitsbedingungen wie Vergütung, Arbeitszeit, -ort und -belastung. Schließlich kann ein mehr oder weniger starkes Arbeitgeber- oder Branchenimage die Besetzung von Arbeitsplätzen erleichtern oder erschweren.
Arbeits- und Fachkräftemangel
Engpassindikatoren deuten darauf hin, dass der Arbeitsmarkt auf der Seite des Arbeitskräfteangebots mehr und mehr angespannt ist. Die Zahl der sofort und später zu besetzenden Stellen erreichte im vierten Quartal 2022 mit fast 2,0 Mio. ein neues Allzeithoch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene und kommt damit der Zahl der Arbeitslosen von rund 2,5 Mio. immer näher (IAB-Stellenerhebung, 2022). Die Relation von Arbeitslosen zu offenen Stellen erreichte bereits Ende 2021 wieder das Vorkrisenniveau, ging danach noch weiter zurück und lag im vierten Quartal 2022 bei nur noch 1,2 Arbeitslosen je offener Stelle (IAB, 2022; Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2022). Als immer wichtiger werdenden Grund für Besetzungsprobleme gaben Betriebe zuletzt „zu wenige Bewerber/innen“ an. Gefragt danach, wodurch Betriebe sich in ihren wirtschaftlichen Aktivitäten gebremst sehen, berichteten sie in Erhebungen zuletzt immer häufiger, dass es ihnen an Arbeitskräften fehlen würde (Bossler et al., 2018; und aktuellere Daten aus IAB-Stellenerhebung). Das Bemerkenswerte an dieser Momentaufnahme sind nicht allein die Zahlen, sondern auch der wirtschaftliche Kontext. Waren ausgeprägte Arbeits- und Fachkräfteengpässe in der Vergangenheit vor allem in Zeiten langanhaltender Aufschwungsphasen zu beobachten, erreichen diese inzwischen sogar in Krisenzeiten große Bedeutung. Dies deutet darauf hin, dass Mangelkonstellationen am Arbeitsmarkt nicht mehr allein ein konjunkturelles Phänomen sind, sondern strukturelle Muster erkennen lassen.
Es ist nicht zu erwarten, dass sich die strukturellen Probleme bei der betrieblichen Stellenbesetzung in der absehbaren Zukunft verflüchtigen werden. Dies ist zuallererst der demografischen Entwicklung geschuldet. Die für den Arbeitsmarkt relevante Bevölkerungsdynamik ist dadurch gekennzeichnet, dass schon seit geraumer Zeit die in die Beschäftigung hineinwachsende junge Kohorte deutlich kleiner ausfällt als die aus der Beschäftigung ausscheidende ältere Kohorte. Im Jahr 2023 wird sich allein hierdurch das Arbeitskräfteangebot voraussichtlich um 400.000 Personen verringern (Bauer et al., 2023). Die Tendenz dieser demografischen Lücke ist in den nächsten Jahren erst einmal steigend, weil die geburtenstarken Jahrgänge in die Jahre kommen und in die Rente übergehen könnten (Fuchs et al., 2021).
Mit der demografischen Entwicklung geht damit schon allein rein rechnerisch ein beträchtlicher Ersatzbedarf einher. Dieser wiegt aber auch in qualitativer Hinsicht schwer, wie Abbildung 1 zeigt. Die Gruppe der heute älteren Beschäftigten weist bereits einen relativ hohen Bildungs- und Ausbildungsstand auf. Ein Beispiel: 2019 verfügten 4,5 Mio. der 55- bis 59-Jährigen über einen Ausbildungsabschluss. In der Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen gäbe es mit 4,4 Mio. nicht einmal insgesamt so viele Personen, um zumindest rein rechnerisch für den Ersatz dieser Fachkräfte zu sorgen. Berücksichtigt man – wie in jeder Kohorte – das Vorhandensein alternativer akademischer Ausbildungen und junger Menschen ohne jeden Abschluss, ergibt sich ein rechnerisches Defizit von etwa 2 Mio. Personen mit Ausbildungsabschluss. Selbst wenn man Nachqualifizierungen älterer Kohorten und die Erschließung von Zuwanderungspotenzialen berücksichtigt, dürfte das Defizit beträchtlich ausfallen und nicht leicht zu kompensieren sein. Erschwerend kommt hinzu, dass wegen der Größenunterschiede zwischen den älteren und jüngeren Altersgruppen auch für die Folgekohorten beträchtliche Arbeitskräftelücken zu erwarten sind. Die in der Vergangenheit geringe Zahl der Geburten ist die wesentliche Ursache für die demografisch bedingte Arbeitskräftelücke. Die Geburtenzahl lässt sich aber in entwickelten Volkswirtschaften mit hohem Wohlstand nicht leicht steigern und, selbst wenn dies möglich wäre, würde dies am Arbeitsmarkt bestenfalls zeitverzögert, d. h. rund 20 Jahre später, wirksam werden. Von daher rückt die Gruppe der potenziell ausscheidenden älteren Arbeitskräfte als mögliche „Personalreserve“ stärker ins Blickfeld.
Abbildung 1
Bevölkerung nach Alter und Qualifikation, 2019
Quelle: Statistisches Bundesamt, Sonderauswertungen für das IAB aus dem Mikrozensus.
Erwerbsbeteiligung Älterer
Dass bei der Erschließung älterer Personen für den Arbeitsmarkt Potenziale liegen und erschlossen werden können, zeigen die vergangenen Jahrzehnte. Denn die Erwerbstätigkeit der Älteren entwickelte sich hierzulande in der Vergangenheit ausgesprochen günstig. In den drei Dekaden vor der Coronakrise waren die Erwerbstätigenquoten älterer Personen stark gestiegen, was für Frauen noch mehr gilt als für Männer (Walwei, 2018a; Walwei und Deller, 2021; Deller und Walwei, 2022). Die Altersgruppe der 55- bis 59-Jährigen erreichte 2021 mit gut 80 % nahezu den Wert jüngerer Altersgruppen und legte seit 1991 um mehr als 25 Prozentpunkte zu (vgl. Abbildung 2). Noch stärker fiel der Aufwuchs in der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen aus. Hier verdreifachte sich die Quote von 20 % (1991) auf über 60 % (2021), liegt aber damit immer noch deutlich unterhalb der Erwerbstätigenquoten der jüngeren Altersgruppen. Eine aufwärtsgerichtete Entwicklung zeigt sich ebenfalls – wenn auch auf einem deutlich niedrigeren Niveau – bei der Gruppe der überwiegend rentenbeziehenden Personen, nämlich der 65- bis 74-Jährigen. Hier lag die Erwerbstätigenquote 2021 bei knapp 13 %.
Abbildung 2
Erwerbstätigenquoten nach Altersgruppen in Deutschland
Quelle: eigene Darstellung.
Die hierzulande günstige Entwicklung der Beschäftigungssituation Älterer ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen (Walwei, 2018). Zunächst einmal stärkt eine allgemein positive Arbeitsmarktentwicklung tendenziell die Beschäftigungssituation aller Altersgruppen. Nach den vorliegenden Daten profitierten die Älteren in dieser Hinsicht am stärksten vom Arbeitsmarktaufschwung nach 2005. Des Weiteren sind zwei soziodemografische Trends zu berücksichtigen, die der Beschäftigung Älterer zugutekommen. Zum einen führt die seit einigen Jahrzehnten kontinuierlich wachsende Frauenerwerbsbeteiligung dazu, dass es inzwischen für Frauen auch im Alter selbstverständlicher geworden ist, weiter am Arbeitsmarkt teilzuhaben. Zum anderen hat das Qualifikationsniveau der Erwerbspersonen im Zeitablauf zugelegt (Bosch, 2011; Buslei et al., 2018). Der Anteil der Akademiker:innen in der Erwerbsbevölkerung stieg und der entsprechende Anteil der Geringqualifizierten sank. Da höhere Qualifikation auch mit längerfristig höheren Arbeitsmarktchancen einhergeht, begünstigt dies den Beschäftigungstrend zugunsten der Älteren.
Von großer Bedeutung sind schließlich institutionelle Rahmenbedingungen, die hierzulande die Weichen in Richtung einer stärkeren Arbeitsmarktpartizipation Älterer gestellt haben (Steiner, 2017). Zu erwähnen sind rentenpolitische Entscheidungen, wie etwa die Einführung der „Rente mit 67“ oder arbeitsmarktpolitische Reformen wie die Einführung der Grundsicherung (Hartz IV), die einen vorzeitigen Ausstieg von Arbeitslosen aus dem Erwerbsleben erschwert haben. Ein wichtiges Indiz dafür, dass die institutionellen Änderungen Effekte ausgelöst haben dürften, ist der empirische Befund, dass die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung der Älteren vor allem zugenommen hatte, weil weniger (vorzeitige) Abgänge zu verzeichnen waren (Dietz und Walwei, 2011; Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2022). Lediglich die 2014 in Kraft getretene „Rente mit 63“ wirkte den Anreizen zu einer stärkeren Arbeitsmarktpartizipation Älterer entgegen. Langjährig Versicherte können seither ohne Abschläge zu einem früheren Zeitpunkt in Rente gehen.
Die günstige Entwicklung der Älteren am Arbeitsmarkt darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Alter weiterhin als ein Risikomerkmal am Arbeitsmarkt zu betrachten ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn ältere Arbeitskräfte einmal ihren Arbeitsplatz verloren haben oder aber von unstetigen Erwerbsbiografien betroffen sind. So zeigt sich, dass sich selbst in dem langgezogenen Arbeitsmarktaufschwung in den 2010er Jahren die Zugangsraten Älterer in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nicht nennenswert erhöht haben (Walwei, 2017). Auch Analysen zu den Abgangschancen von Leistungsempfänger:innen im SGB II legen nahe, dass (ein höheres) Alter unter Kontrolle weiterer soziodemografischer Merkmale den (Wieder-)Einstieg in eine existenzsichernde Beschäftigung erschwert (Beste und Trappmann, 2016). Die Beschäftigungschancen älterer Arbeitsloser werden weiter dadurch geschmälert, dass sie im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen weniger häufig an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnehmen, häufiger langzeitarbeitslos sind und in stärkerem Maße mit gesundheitlichen Problemen konfrontiert sind (BA-Statistik, 2019). Dem steht lediglich entgegen, dass es Älteren weniger häufig als Jüngeren an einer formalen Qualifikation fehlt. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich deren Fähigkeiten und Kompetenzen durch längere Arbeitslosigkeit oder Strukturwandel ganz oder teilweise entwertet haben könnten.
Beim Aufwuchs der Beschäftigung Älterer stellt sich auch die Frage nach der Struktur und Qualität der verschiedenen Erwerbsformen im Zeitverlauf. Betrachtet wird hier die Gruppe der 55- bis 64-Jährigen und die strukturellen Veränderungen im Zeitraum von 1995 bis 2018. Erfasst ist damit die Phase, in der die Erwerbstätigkeit Älterer besonders stark zugenommen hat, stärker als die jeder anderen Altersgruppe. Der Strukturvergleich zwischen älteren und jüngeren Altersgruppen zeigt zunächst einmal mehrere Besonderheiten. Klammert man die sich häufig noch in Bildung und Ausbildung befindlichen jungen Menschen (15- bis 24-Jährige) aus, fällt der Anteil der vollzeitnah und unbefristet Beschäftigten an der Erwerbstätigenquote der Älteren im Vergleich zu den anderen Altersgruppen mit 54,0 Prozentpunkten am geringsten aus (vgl. Tabelle 1). Auch der Anteil der Summe der atypisch Beschäftigten ist mit knapp 10 Prozentpunkten vergleichsweise niedrig. Darin enthalten sind Teilzeitbeschäftigte mit einer Arbeitszeit von weniger als 32 Stunden, befristet Beschäftigte und Leiharbeitnehmer:innen mit einer Arbeitszeit von 31 Stunden oder mehr sowie geringfügig Beschäftigte. Bei den Selbständigen mit und ohne Beschäftigten sind dagegen Ältere mit gut 12 Prozentpunkten überproportional in der Erwerbstätigkeit vertreten.
Tabelle 1
Erwerbstätige verschiedener Altersgruppen in % der Erwerbsbevölkerung
Männer (%) |
Frauen (%) |
|||||
1995 |
2018 |
1995 |
2018 |
|||
Insgesamt | 15-24 |
52,5 |
48,7 |
45,3 |
45,3 |
|
25-34 |
84,4 |
85,7 |
66,0 |
76,9 |
||
35-44 |
90,2 |
90,9 |
68,8 |
80,7 |
||
45-54 |
86,8 |
90,2 |
63,4 |
83,4 |
||
55-64 |
48,4 |
76,2 |
27,1 |
66,9 |
||
15-64 |
73,9 |
79,7 |
53,5 |
72,1 |
||
Unbefristete Beschäftigte mit Arbeitszeit ≥ 31h | 15-24 |
22,5 |
13,4 |
22,8 |
9,8 |
|
25-34 |
65,5 |
57,1 |
39,6 |
39,3 |
||
35-44 |
71,3 |
67,8 |
32,7 |
30,4 |
||
45-54 |
68,1 |
67,7 |
30,6 |
34,1 |
||
55-64 |
35,7 |
54,0 |
11,2 |
27,0 |
||
15-64 |
54,3 |
53,8 |
28,1 |
29,1 |
||
Atypische Beschäftigte 1 | 15-24 |
6,1 |
17,2 |
8,3 |
20,8 |
|
25-34 |
8,7 |
20,3 |
21,7 |
33,0 |
||
35-44 |
5,9 |
12,4 |
29,2 |
44,1 |
||
45-54 |
5,1 |
9,1 |
25,8 |
42,2 |
||
55-64 |
3,1 |
9,6 |
11,9 |
33,7 |
||
15-64 |
5,9 |
13,4 |
20,0 |
35,6 |
||
Personen in Sondererwerbsformen | 15-24 |
23,1 |
17,3 |
13,9 |
14,1 |
|
25-34 |
3,3 |
3,8 |
2,2 |
2,1 |
||
35-44 |
1,5 |
1,0 |
2,7 |
0,8 |
||
45-54 |
1,3 |
0,4 |
2,5 |
0,6 |
||
55-64 |
0,9 |
0,3 |
2,3 |
0,5 |
||
15-64 |
5,4 |
3,9 |
4,4 |
3,0 |
||
Selbstständige mit und ohne Beschäftigten | 15-24 |
0,8 |
0,8 |
0,3 |
0,4 |
|
25-34 |
6,9 |
4,5 |
2,7 |
2,4 |
||
35-44 |
11,6 |
9,7 |
4,7 |
5,3 |
||
45-54 |
12,3 |
13,1 |
4,4 |
6,5 |
||
55-64 |
8,8 |
12,2 |
2,1 |
5,7 |
||
15-64 |
8,3 |
8,6 |
2,9 |
4,4 |
1 Atypisch Beschäftigte umfassen Teilzeitbeschäftigte mit einer Arbeitszeit von weniger als 32 Stunden, befristet Beschäftigte und Leiharbeitnehmer mit einer Arbeitszeit von 31 Stunden oder mehr sowie geringfügig Beschäftigte.
Quelle: Mikrozensus des Statistischen Bundesamts, Sonderauswertungen für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Statistik der Bundesagentur für Arbeit, eigene Berechnungen.
Von Interesse ist neben dem Strukturvergleich am aktuellen Rand auch die Veränderung der Struktur der Erwerbstätigenquoten über die Zeit, denn dies gibt Hinweise auf qualitative Verschiebungen. Der Aufwuchs der Erwerbstätigkeit der 55- bis 64-Jährigen zwischen 1995 und 2018 belief sich auf 27,8 Prozentpunkte. Der Löwenanteil entfiel mit 18,3 Prozentpunkten und damit mit fast zwei Drittel auf zusätzliche vollzeitnahe und unbefristete Beschäftigung. Die Summe der atypischen Beschäftigung und der Selbständigen wuchs mit 6,5 bzw. 3,4 Prozentpunkten deutlich geringer. Lediglich bei den mithelfenden Familienangehörigen war bei älteren Personen ein Rückgang von 0,9 Prozentpunkten auf 0,3 Prozentpunkte zu verzeichnen. Das Ergebnis zeigt, dass in der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen nicht nur die Erwerbstätigenquote am stärksten gestiegen ist, sondern darunter auch der Anteil der „Normalarbeitsverhältnisse“. Es gibt also keine Hinweise, dass der Aufwuchs bei der Erwerbstätigkeit Älterer durch nennenswerte Einbußen bei der Qualität erkauft werden musste. Bestätigt wird dies durch eine Analyse, bei der die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, der Minijobs und der Selbständigkeit Älterer im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen untersucht wird (Fitzenberger et al., 2023). Sie ergibt, dass die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung den Erwerbsanstieg Älterer klar dominiert.
Blickt man auf die Gruppe der über 64-Jährigen und damit auf Personen, die in dem hier betrachteten Zeitraum zumeist schon Rente bezogen haben, zeigt sich ein etwas anderes Bild. Hier dominieren selbständige Tätigkeiten und die geringfügige Beschäftigung (Walwei, 2018b). Das starke Auftreten selbständiger Tätigkeiten bei lebensälteren Menschen kann damit zu tun haben, dass die Betriebsübergabe oft doch nicht so schnell gelingt wie gedacht, der anhaltende wirtschaftliche Erfolg eventuell gegen eine Geschäftsaufgabe oder einen Rückzug ins Altenteil spricht und Alternativeinkommen, z. B. in Form von Rentenanwartschaften, nicht immer in ausreichendem Maße vorhanden sind. Die geringfügige Beschäftigung kann im Alter verschiedene Funktionen haben. Sie bietet die Möglichkeit eines Zusatzverdienstes neben den Altersbezügen. Sie kann aber auch mit nicht-monetären Aspekten in Verbindung stehen, wie etwa dem Spaß an der Arbeit oder dem Bedürfnis nach einer sinnvollen Aufgabe und sozialen Kontakten (Romeu Gordo et al., 2022).
Um sich der Frage zu nähern, wie viel Potenzial in der Gruppe der Älteren für die Fachkräftesicherung steckt, ist der Vergleich mit anderen Altersgruppen und anderen Ländern von Interesse. Unterstellt man beispielsweise wie Hellwagner et al. (2022), dass die Erwerbsquoten der 60- bis 64-Jährigen und der 65- bis 69-Jährigen jeweils auf das Niveau der darunterliegenden Altersgruppen ansteigen, ergäbe sich bis 2035 ein um 2,4 Mio. höheres Erwerbspersonenpotenzial als ohne dies. Der rein demografische Rückgang von rund 7 Mio. würde also um ein Drittel reduziert.
Beim internationalen Vergleich wird deutlich, was unter gegebenenfalls anderen Bedingungen auch hierzulande möglich sein könnte. Die Tabelle 2 illustriert, dass der starke Aufwuchs der Erwerbstätigkeit der Älteren in Deutschland auch im Rahmen eines internationalen Vergleichs sichtbar wird. Der Anstieg in Deutschland fiel wesentlich höher aus als der für die OECD-Länder insgesamt. Hierdurch zählt Deutschland inzwischen zu den Ländern mit den höchsten Werten. Das war in dem Referenzjahr 1993 noch nicht so, als die deutsche Quote noch deutlich unter dem OECD-Durchschnitt lag. Im Vergleich zu den in der Tabelle 2 ausgewählten Ländern lag die Quote 2021 lediglich in Schweden mit 2,7 Prozentpunkten bei den Männern und 7,5 Prozentpunkten bei den Frauen noch höher als hierzulande.1 Größer sind die Unterschiede im internationalen Vergleich allerdings bei den Über-65-Jährigen und hier scheint es für Deutschland noch deutlich mehr „Luft nach oben“ zu geben, wie der Vergleich mit den USA und Schweden zeigt.
Tabelle 2
Erwerbstätigenquoten nach Alter in ausgewählten Ländern, 1993 und 2021
Deutschland |
Frankreich |
Großbritannien |
Italien |
Schweden |
USA |
OECD total |
||
Erwerbstätigenquote nach Alter |
||||||||
1993 | 25-54 |
76,8 |
78,0 |
76,3 |
66,7 |
83,2 |
78,5 |
74,4 |
55-64 |
35,9 |
30,1 |
46,6 |
30,4 |
63,4 |
53,8 |
46,1 |
|
2021 | 25-54 |
84,5 |
82,1 |
84,1 |
70,2 |
84,7 |
77,6 |
77,7 |
55-64 |
71,8 |
55,9 |
64,5 |
53,4 |
77,0 |
61,9 |
61,4 |
|
Erwerbstätigenquote nach Geschlecht, Alter 55 bis 64 |
||||||||
1993 | Männlich |
47,8 |
36,5 |
55,9 |
48,2 |
65,9 |
63,1 |
59,7 |
Weiblich |
24,2 |
24,2 |
37,6 |
14,1 |
60,9 |
45,3 |
33,4 |
|
2021 | Männlich |
75,9 |
57,7 |
69,0 |
63,4 |
78,6 |
67,4 |
69,9 |
Weiblich |
67,8 |
54,3 |
60,2 |
44,0 |
75,3 |
56,7 |
53,3 |
|
Erwerbstätigenquote 65+ |
||||||||
2021 |
7,5 |
3,5 |
10,5 |
5,2 |
20 |
18,9 |
15,5 |
Quelle: OECD (2021), Employment rate (indicator), aufgerufen am 11. April 2023.
Erschließung von Potenzialen
Die Erschließung der Potenziale älterer Erwerbspersonen für die Fachkräftesicherung bedarf eines Dreiklangs. Dazu zählen erstens die Entwicklung der Beschäftigungsfähigkeit auf individueller Ebene, zweitens die Attraktivität des Arbeitsmarktes für die Gruppe der Älteren und drittens hier relevante Regelungen und damit verbundene Arbeitsanreize.
Hohe und weiter steigende Erwerbstätigenquoten Älterer sind kein Selbstläufer. Die Beschäftigungsfähigkeit bis hinein ins höhere Alter erfordert gute Bildung und Qualifikation einerseits und gesundheitliche Stabilität andererseits. Ein leistungsfähiges und gleichermaßen inklusives System der Bildung und Ausbildung sowie die Möglichkeit wie auch die Befähigung zu lebenslangem Lernen sind für den qualifikatorischen Teil der langfristigen, individuellen Beschäftigungsfähigkeit essenziell. Risiken bestehen vor allem in Form von Bildungsarmut, fehlender Ausbildung und Humankapitalentwertung durch längere Erwerbsunterbrechungen. Gesundheitliche Vorsorge ist das andere wesentliche Element zur Ermöglichung eines langen Erwerbslebens. Auch hier geht es wie im Bildungsbereich um präventive Ansätze, denn die Weichen für den Erhalt der Gesundheit und damit einer langen Erwerbsfähigkeit werden früh gestellt. Jede Person ist hier ein Stück weit selbst gefragt, etwa mit Blick auf einen gesundheitsbewussten Lebensstil. Auch die Bedeutung des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes kann an dieser Stelle nicht hoch genug bewertet werden, wie zuletzt auch und gerade die COVID-19-Pandemie gezeigt hat. Schließlich trägt auch eine gute öffentliche Gesundheitsvorsorge zur langfristigen Erwerbsfähigkeit der Menschen bei.
Hohe Erwerbstätigenquoten Älterer werden aber nicht nur durch die individuelle Beschäftigungsfähigkeit begünstigt, sondern sind auch von der Attraktivität des Arbeitsmarkts abhängig und damit von den für die Erwerbspersonen infrage kommenden Beschäftigungsmöglichkeiten. Zu allererst ist hier ein möglichst aufnahmefähiger Arbeitsmarkt zu nennen, von dem Menschen aller Altersgruppen profitieren. Je mehr es darüber hinaus den Betrieben gelingt, Kompetenzen und Fähigkeiten der Älteren zu adressieren, alters- und alternsgerechte Arbeit zu organisieren, den bereits erwähnten Arbeitsschutz zu stärken und flexibel auf Beschäftigtenwünsche (z. B. mit Blick auf die Arbeitszeit) einzugehen, desto größer ist die Chance, Ältere am Arbeitsmarkt zu halten oder zurückzugewinnen.
Bei der Ausgestaltung der Regulierungen geht es vor allem darum, Arbeitsanreize für Ältere in angemessener Weise aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls zu stärken. Bestimmungen, die den Rückzug von älteren Erwerbspersonen vom Arbeitsmarkt begünstigen, ohne dass dafür zwingende Gründe (wie z. B. schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen) vorliegen, entziehen dem Arbeitsmarkt Arbeitskräfteangebot und sind damit längerfristig nicht zielführend. Regelungen, wie die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für Ältere oder auch Karenzzeiten mit Blick auf Vermögen und angemessenem Wohnraum im Rahmen des Bürgergelds, müssen daher mögliche negative Auswirkungen auf die Arbeitsanreize im Alter ausdrücklich ins Blickfeld nehmen. Auch das Arbeitsrecht kann sich negativ auf Beschäftigungsanreize auswirken, wenn etwa Befristungen von rentenbeziehenden Älteren bei der Wiederbeschäftigung im letzten Betrieb vor dem Rentenzugang eingeschränkt werden. Eine somit indirekte Vorgabe zur Weiterbeschäftigung schränkt personalpolitische Dispositionen ein. Schließlich sind auch tarifvertragliche Regelungen oder betriebliche Vereinbarungen, die einen Erwerbsaustritt „erzwingen“ nicht mehr zeitgemäß.
Ein Fixpunkt für Erwerbsentscheidungen im Alter ist und bleibt aber auch hierzulande das Rentenzugangsalter. Die Rente mit 67 hatte 2012 ein wichtiges Signal gesetzt, dass es möglich sein kann, Erwerbstätigkeit im Alter hoch zu halten und zu steigern. Als kontraproduktiv in dieser Hinsicht erwies sich dagegen die ab Mitte 2014 in Kraft getretene Rente für langjährig Versicherte mit 63, denn durch diese Entscheidung erhielten Fachkräfte aus der bevölkerungsstarken Gruppe der Babyboomer die Möglichkeit, ohne Abschläge vorzeitig in den Ruhestand zu gehen und diese Option wird nach den vorliegenden Erkenntnissen genutzt. Analysen zufolge profitieren hiervon im Durchschnitt jedoch weniger gesundheitlich stark beanspruchte Arbeiter:innen als vielmehr Versicherte mit höheren Rentenansprüchen (Börsch-Supan et al., 2014). Die „Rente mit 63“ verschärft momentan die Mangelsituation in nicht wenigen Segmenten des Arbeitsmarktes.
In der nahen Zukunft ist darüber zu entscheiden, wie es mit dem Rentenzugangsalter weitergehen sollte. 2031 endet die Anpassungsfrist für die schrittweise Anhebung der Rente auf 67 Jahre und auch die Rente für langjährig Versicherte ist dann bei 65 Jahren angekommen. Aufgrund der erwartbar wachsenden Lebenserwartung läge es nahe, mit einer behutsamen Anpassung nach oben fortzufahren. Eine Rente mit 70 wäre dann – je nach Anpassungsschritt – zwischen 2050 und 2060 erreicht. Bei den Anpassungen sollte aber nicht nur im Auge behalten werden, dass sich die Lebenserwartung der Individuen verlängert, sondern auch und gerade die Frage, ob die Entwicklung der Zahl der gesunden Jahre in einem Leben mit der wachsenden Lebenserwartung Schritt hält. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Ansteigen der Lebenserwartung erst einmal durch COVID-19 unterbrochen wurde. Auch wenn zu erwarten ist, dass es in den nächsten Jahren wohl wieder zu einer steigenden Lebenserwartung kommen wird, gilt es doch diese Entwicklung genau zu beobachten und bei einer weiteren schrittweisen Erhöhung des Rentenzugangsalters zu berücksichtigen. Eine arbeitsmedizinische Begleitung der weiteren Entwicklung ist bei einem solchen Vorgehen also unbedingt geboten. Das gilt umso mehr für die Entwicklung der Zahl der gesunden Jahre in einem Leben.
So problematisch die Rente mit 63 auch sein mag: In der damals auch intendierten Funktion einer Anerkennung einer langen Erwerbslaufbahn steckt ein grundsätzlich nachvollziehbarer Gedanke. Es lohnt sich darüber nachzudenken, wie eine Alternative oder Ergänzung zu einem festen Rentenzugangsalter gestaltet werden kann. Eine noch stärkere Orientierung des Rentensystems an Beitragsjahren, die allerdings – wenn die gesunden Jahre wachsen – über den 45 Jahren der Rente mit 63 liegen sollten, könnte ein Modell sein, mit dessen Hilfe Belastungen gerade mit Blick auf verschiedene Erwerbsverläufe und Berufsgruppen besser ausgeglichen werden könnten. Im Ergebnis würde dies bedeuten, dass vor allem Akademiker:innen bis ins höhere Alter am Arbeitsmarkt aktiv sein müssten, um Abschläge beim Rentenbezug zu vermeiden.
1 2022 lag Deutschland mit 71,9 % bei den Erwerbstätigenquoten der 55- bis 64-Jährigen an achter Position unter den OECD-Ländern. Höhere Werte verzeichneten: Island (80,2 %), Neuseeland (78,5 %), Japan (78,1 %), Schweden (76,9 %), Norwegen (74,6 %) sowie die Schweiz und Dänemark mit jeweils 72,3 %. Der Durchschnittswert für die gesamte OECD betrug 61,3 % (OECD Data Link).
Literatur
Bauer, A., H. Gartner, T. Hellwagner, M. Hummel, C. Hutter, S. Wagner, E. Weber und G. Zika (2023), IAB-Prognose 2023: Rekord-Arbeitskräftebedarf in schwierigen Zeiten, IAB-Kurzbericht, 5.
Beste, J. und M. Trappmann (2016), Erwerbsbedingte Abgänge aus der Grundsicherung: Der Abbau von Hemmnissen macht’s möglich, IAB-Kurzbericht, 21.
Bossler, M., N. Gürtzgen, A. Kubis und A. Moczall (2018), IAB-Stellenerhebung von 1992 bis 2017: So wenige Arbeitslose pro offene Stelle wie nie in den vergangenen 25 Jahren, IAB-Kurzbericht, 23/2018.
Börsch-Supan, A., M. Coppola und J. Rausch (2014), Die Rente mit 63: Wer sind die Begünstigten? Was sind die Auswirkungen auf die Gesetzliche Rentenversicherung?, MEA-discussion paper, 17.
Bosch, G. (2011), Qualifikationsanforderungen an Arbeitnehmer – flexibel und zukunftsgerichtet, Wirtschaftsdienst, 91(13), 27-33, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2011/heft/13/beitrag/qualifikationsanforderungen-an-arbeitnehmer-flexibel-und-zukunftsgerichtet.html (5. Juli 2023).
Buslei, H., P. Haan, D. Kemptner und F. Weinhardt (2018), Arbeitskräfte und Arbeitsmarkt im demographischen Wandel, Bertelsmann-Stiftung.
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