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Als die Mindestlohnkommission Ende Juni 2023 ihre Empfehlung für die weitere Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns veröffentlichte, konnte man in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 27.6.2023) von einem „Sieg der Arbeitgeber“ lesen. Erstmals in der Geschichte der Mindestlohnkommission hat diese darauf verzichtet, einen für alle Kommissionsmitglieder tragbaren Kompromiss zu finden. Stattdessen wurde mit einem Stimmenverhältnis von 4:3 eine Mehrheitsentscheidung getroffen, bei der die Arbeitgeber zusammen mit der unabhängigen Kommissionsvorsitzenden gegen die Gewerkschaften stimmten.

Nach dem jetzigen Beschluss soll der Mindestlohn zum 1.1.2024 auf 12,41 Euro und zum 1.1.2025 auf 12,82 Euro pro Stunde angehoben werden. Dies entspricht einer Erhörung von 3,4 % im ersten und 3,3 % im zweiten Jahr. Eine weitere Erhöhung wäre nach der aktuellen Rechtslage dann erst wieder zum 1.1.2026 möglich. Der Beschluss ist nicht nur von den Gewerkschaften, sondern auch von einer breiten Öffentlichkeit als absolut unzureichend kritisiert worden. Dem ZDF-Politbarometer zufolge halten 62 % der Menschen in Deutschland die empfohlene Mindestlohnerhöhung für zu niedrig.

In der Tat haben die Kritiker des Beschlusses gute Argumente auf ihrer Seite. Angesicht einer allein für dieses Jahr prognostizierten Inflationsrate von 5 % bis 6 % ist ein deutlicher Reallohnverlust bei den Mindestlohnempfängern bereits jetzt absehbar. Dies ist umso problematischer, als dass Beschäftigte mit einem geringen Einkommen besonders stark unter den hohen Inflationsraten leiden. Sie müssen einen deutlich höheren Anteil ihres Einkommens für Waren ausgeben, deren Preise besonders schnell steigen. So liegen z. B. die Inflationsraten bei den Nahrungsmitteln aktuell nach wie vor im zweistelligen Bereich. Hinzu kommt, dass die Mindestlohnempfänger von der allgemeinen Lohnentwicklung abgekoppelt werden. Mit den jüngsten Tarifabschlüssen haben die Löhne in Deutschland deutlich an Dynamik gewonnen. Die Gewerkschaften haben dabei viel Wert daraufgelegt, dass vor allem die unteren Lohngruppen überdurchschnittlich hohe Lohnzuwächse erhalten. Die große Mehrheit der Mindestlohnbeschäftigten arbeitet jedoch in Unternehmen ohne Tarifvertrag und wird deshalb – wenn überhaupt – nur wenig von dieser Entwicklung profitieren.

Schließlich rückt mit der Empfehlung der Mindestlohnkommission auch das im Rahmen der Europäischen Mindestlohnrichtlinie anvisierte Ziel eines „angemessenen“ Mindestlohns wieder in weite Ferne. In der im Herbst 2022 verabschiedeten EU-Richtlinie wird ein Mindestlohnniveau empfohlen, das mindestens bei 60 % des nationalen Medianlohns liegt. Für Deutschland würde dies schon heute einem Betrag von etwa 13,50 Euro entsprechen. Addiert man die Lohnentwicklung des Jahres 2023 hinzu, so wäre eine Erhöhung des Mindestlohns auf 14 Euro durchaus angemessen.

Die einseitige Durchsetzung von Arbeitgeberinteressen in der Mindestlohnkommission hat nun zu Recht eine Debatte über eine mögliche Reform des Mindestlohngesetzes auf die Tagesordnung gesetzt. Hierbei sollte unmissverständlich klargestellt werden, dass eine ausschließliche und zudem auch noch nachlaufende Orientierung an der Tariflohnentwicklung keinesfalls ausreicht, um ein angemessenes Mindestlohnniveau sicherzustellen. Schon heute fordert das Mindestlohngesetz von der Mindestlohnkommission eigentlich eine Gesamtabwägung unterschiedlicher ökonomischer und sozialer Faktoren. Bei der aktuellen Entscheidung wurde jedoch von der Arbeitgeberseite einfach behauptet, dass die Tariflohnentwicklung selbst schon das Ergebnis einer solchen Gesamtabwägung sei und deshalb keine weiteren Faktoren mehr berücksichtigt werden müssen. Bei der Berechnung des neuen Mindestlohns wurde zudem eine willkürliche Formel verwendet, die noch nicht einmal den aktuell gültigen Mindestlohnbetrag von 12,00 Euro, sondern lediglich den zuletzt von der Mindestlohnkommission beschlossenen Wert von 10,45 Euro als Ausgangspunkt nimmt.

Um einer solchen Willkür Einhalt zu gebieten, sollten die Kriterien für eine Mindestlohnanpassung erweitert und präzisiert werden. Hierfür bietet die Europäische Mindestlohnrichtlinie, die bis Herbst 2024 in deutsches Recht umgesetzt werden muss, einen guten Ausgangspunkt. Der wichtigste Aspekt hierbei ist der bereits erwähnte Schwellenwert von 60 % des Medianlohns als europaweit anvisierte Untergrenze für ein angemessenes Mindestlohnniveau, der auch als unterste Auffanglinie im deutschen Mindestlohngesetz festgeschrieben werden sollte. Die einseitige Mehrheitsentscheidung der Mindestlohnkommission hat die Dringlichkeit einer solchen Reform mit aller Deutlichkeit hervortreten lassen. Am Ende könnte sich deshalb der „Sieg der Arbeitgeber“ als Pyrrhussieg erweisen.

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© Der/die Autor:in 2023

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

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DOI: 10.2478/wd-2023-0124