Der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat vielfältige Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. Global operierende Unternehmen passen die Struktur ihrer Lieferketten an, die Bundesregierung setzt neue sicherheitspolitische Prioritäten und erhöht die Militärausgaben. Die Privathaushalte halten sich mit großen Konsumausgaben zurück und die gesamte Volkswirtschaft muss sich energiepolitisch neu orientieren. Ein wichtiger Kanal, über den der Krieg und seine geopolitischen Auswirkungen die deutsche Wirtschaft beeinflussen, ist Unsicherheit. Die Unsicherheit von Unternehmen und Haushalten kann sich auf den Verlauf des Krieges, eine mögliche Eskalation und die unklare Nachkriegsordnung beziehen.
Wir messen diese Unsicherheit anhand von mehr als 8 Mio. deutschsprachiger Tweets. Kurznachrichten auf Twitter sind besonders gut geeignet, um die Unsicherheit in Bezug auf den Krieg in der Ukraine zu messen. Zum einen stellen Tweets eine aktive Meinungsäußerung der Nutzer:innen dar. Andere Unsicherheitsindikatoren basieren auf der Auswertung von Zeitungsartikeln, für die unklar bleibt, inwiefern sie überhaupt gelesen werden bzw. welche Reaktionen sie hervorrufen. Eine Nachricht auf Twitter dokumentiert, dass sich die Nutzerin oder der Nutzer mit der Thematik beschäftigt hat, auch wenn die Daten naturgemäß noisy sind. Zum anderen stehen die Twitter-Nachrichten in sehr hoher Frequenz zur Verfügung. Dies erlaubt uns, einen Indikator auf täglicher Frequenz zu konstruieren, was auf der Grundlage von Zeitungsartikeln angesichts der geringen Zahl von Artikeln pro Tag kaum möglich ist. Wir können somit die unmittelbare Reaktion der Unsicherheit in Deutschland auf die Ereignisse in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine messen.
Wir sammeln alle Tweets zwischen dem 1.1.2021 und dem 28.2.2023, die die folgenden Begriffe enthalten: Zelenskyj, Putin, Ukraine, Kiew. Darüber hinaus schließen wir auch alle anderen Schreibweisen dieser Begriffe, also alternative Transkriptionen und Translationen, ein. Alle eingeschlossenen Tweets werden von Twitter als deutschsprachig ausgewiesen. Nachdem wir den Datensatz um Doppelungen, Benutzernamen, Sonderzeichen, Hashtags und andere Tags bereinigt haben, stehen uns 8.457.134 einzelne Tweets von 486.596 unterschiedlichen Accounts zur Verfügung. Unser Datensatz umfasst zudem die Zahl der Follower eines Accounts, die Zahl der Accounts, denen jede Nutzerin bzw. jeder Nutzer folgt, der Status des Accounts (verifiziert oder nicht-verifiziert) und die Gesamtzahl der gesendeten Tweets eines Accounts.
Wir verwenden ein Machine-Learning-Verfahren (Zero-Shot-Klassifikation mit German Bidirectional Encoder Representations from Transformers – GBERT), das durch ein vortrainiertes Sprachmodell die Tweets verschiedenen Kategorien zuordnet und jeder Nachricht eine entsprechende Wahrscheinlichkeit zuweist. Da das Sprachmodell anhand von mehr als 160 GB an deutschsprachigen Textdaten (Wikipedia-Artikel, Parlamentsreden, Bücher, Gerichtsurteile etc.) vortrainiert ist und somit sprachliche Strukturen und semantische Zusammenhänge erlernt, kann es erkennen, dass in einem Tweet Unsicherheit zum Ausdruck gebracht wird, selbst wenn das Wort „Unsicherheit“ und ähnliche Wörter nicht direkt verwendet werden. Als Ergebnis erhalten wir eine Wahrscheinlichkeit, mit der jeder einzelne Tweet der Kategorie Unsicherheit zugeordnet wird.
Der große Vorteil dieser Methode lässt sich am besten an einem Beispiel veranschaulichen: Bundeskanzler Olaf Scholz twitterte am 5. Mai 2022: „Es ist wieder Krieg in Europa – unser Kontinent lebt gerade in einer Ausnahmesituation. Es gibt kein Drehbuch für das, was vor uns liegt. Meine Aufgabe ist es, unser Land sicher durch diese Zeit zu steuern.“ Das von uns genutzte Modell ordnet diesen Tweet mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit von 0,92 der Kategorie Unsicherheit zu. Dies liegt vor allem an dem Satz „Es gibt kein Drehbuch für das, was vor uns liegt“. Dieser drückt sehr klar eine hohe Unsicherheit aus, ohne klassische Unsicherheitsbegriffe zu verwenden. Schaut man sich diesen Satz isoliert an, weist das Modell sogar einen Wert von 0,94 aus. Oft genutzte Wörterbuchverfahren würden einen niedrigen Unsicherheitswert ausweisen, weil keine Begriffe verwendet werden, die offensichtlich Unsicherheit ausdrücken.
Demgegenüber steht ein Tweet von Außenministerin Annalena Baerbock vom 10. Mai 2022: „Ich bin unfassbar froh, hier im freien #Kiew zu sein. Der dafür notwendige Mut der Ukrainer*innen ist ergreifend. Meine Botschaft ist klar: Die #Ukraine kann sich auf unsere Unterstützung verlassen – nicht nur militärisch, nicht nur heute.“ Vor allem der letzte Satz des Tweets sorgt dafür, dass das Modell einen äußerst niedrigen Unsicherheitswert von 0,01 ausweist.
Damit wir einen Index in täglicher Frequenz erhalten, mitteln wir die Wahrscheinlichkeiten der Kategorie Unsicherheit über alle Tweets eines Tages. Da nach Ausbruch des Krieges die Zahl der Tweets pro Tag stark gestiegen ist, müssen wir den Informationsgehalt der Tweets um die Zahl der täglichen Posts bereinigen. Aus diesem Grund gewichten wir den Tagesdurchschnitt der Wahrscheinlichkeiten mit der Zahl der Tweets an einem Tag. Als Ergebnis erhalten wir somit den Ukraine Uncertainty Index, der in der Abbildung 1 dargestellt wird. Der Index ist standardisiert, sodass er die Abweichung der Unsicherheit von ihrem Stichprobendurchschnitt angibt. Der Unsicherheitsindex ist unter www.ukraine-uncertainty.de für interessierte Nutzer:innen verfügbar. Er kann eine interessante Grundlage für weitere empirische Untersuchungen und für die Analyse der deutschen Konjunktur sein.
Abbildung 1
Ukraine Uncertainty Index
Täglicher Index für die Unsicherheit in Bezug auf die Ukraine, die in deutschsprachigen Tweets ausgedrückt wird. Der Index wird in Standardabweichungen um den Mittelwert angegeben.
Quelle: eigene Berechnungen.
Neben kleineren Ausreißern am Beginn der betrachteten Periode ist zu erkennen, dass die Unsicherheit ab November 2021 stetig ansteigt, ehe sie am 24. Februar, dem Tag des russischen Angriffs, ihren Höchstwert erreicht. Danach bleibt die Unsicherheit durchweg auf einem hohen Niveau. Ereignisse, wie beispielsweise das Massaker an der Zivilbevölkerung von Butscha oder der Einschlag einer fehlgeleiteten ukrainischen Rakete auf polnischem Territorium, führen zu einem deutlichen Anstieg der Unsicherheit. Die ukrainische Gegenoffensive im Sommer 2022 und die Rückeroberung der Stadt Kherson gehen hingegen mit einem Rückgang der Unsicherheit einher.
Etablierte Unsicherheitsindikatoren, wie beispielsweise der Economic Policy Uncertainty Indikator von Baker et al. (2016) oder der Geopolitical Risk Index von Caldara und Iacoviello (2022), die beide auch für Deutschland zur Verfügung stehen, basieren auf der Zahl vordefinierter, unsicherheitsbezogener Schlüsselwörter in Zeitungsartikeln. Beide Zeitreihen sind nur monatlich verfügbar. Im Unterschied zu beiden Indikatoren kann unser Index die Entwicklung der Unsicherheit auf einer hohen Frequenz abbilden. Wenn wir den Ukraine Uncertainty Index auf Monatsbasis aggregieren, finden wir eine hohe Korrelation mit beiden etablierten Indikatoren.
Um die Quelle der Unsicherheit interpretieren zu können, kategorisieren wir die Tweets zusätzlich in inhaltliche Rubriken, wie beispielsweise Energie, Politik, Sanktionen etc. Dies ermöglicht uns, die Auswirkungen der Unsicherheit in Bezug auf diese Kategorien zu quantifizieren. Ein Tweet wird dann einer Kategorie zugeordnet, wenn die entsprechende Wahrscheinlichkeit den höchsten Wert aufweist und größer als 0,5 ist. Für jede Kategorie berechnen wir nun einen Unsicherheitsindex, indem wir erneut die Werte der Kategorie Unsicherheit mitteln, dabei aber nur die Tweets berücksichtigen, die der jeweiligen inhaltlichen Kategorie zugeordnet werden konnten. Die verschiedenen Indizes sind mit unserem Baseline-Index hoch korreliert. Größere Unterschiede lassen sich jedoch bei der Energie-Unsicherheit erkennen: Die Unsicherheit ist besonders zwischen Juli und November 2022 sehr hoch. Zudem scheint die Unsicherheit nach der Ankündigung der Gaskosten-Bremse im Oktober 2022 niedriger auszufallen als vorher, was für die anderen Indizes nicht gilt.
In einer ersten empirischen Studie von Grebe et al. (2023) erklären wir die Konstruktion des Indikators im Detail und zeigen zudem die Auswirkungen der Unsicherheit auf die deutsche Konjunktur. Hierzu verwenden wir Konjunkturindikatoren, die auf täglicher Frequenz zur Verfügung stehen. Ein Anstieg der Unsicherheit führt zu einem starken Rückgang der Aktienkurse, einer höheren Volatilität am deutschen Aktienmarkt, einem Anstieg des Preises für Erdgas, einem Rückgang der realwirtschaftlichen Aktivität und zu einem Anstieg der erwarteten Inflation. Wir untersuchen auch die Auswirkungen der verschiedenen Unsicherheitskategorien. So führt ein Ansteigen der energiespezifischen Unsicherheit zu einem stärkeren Anstieg des Gaspreises als dies bei unserem Baseline-Index der Fall ist, während die Effekte der Unsicherheit der Kategorien Krieg, Sanktionen und Politik sehr ähnlich zu unserem Ausgangsindex sind.
Es ist bekannt, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nach einem einschneidenden geopolitischen Ereignis im Laufe der Zeit nachlässt. Wir sehen dies bereits daran, dass die Zahl der Tweets einen Tag nach Beginn des Krieges stetig sinkt. Es ist darüber hinaus denkbar, dass auch der Einfluss der Unsicherheit auf die deutsche Konjunktur im Laufe des Konfliktes nachlässt. Haushalte und Unternehmen könnten sich an die neue geopolitische Situation gewöhnt haben. Auch staatliche Maßnahmen, wie die eingeführte Gaskostenbremse, könnten den Effekt verringern. Wir können empirisch zeigen, dass die konjunkturellen Auswirkungen der Unsicherheit tatsächlich in den ersten Monaten des Krieges bis August 2022 deutlich stärker sind als danach. Die Ereignisse der letzten Zeit, insbesondere die Sprengung des Staudamms in der Ukraine und der Putschversuch in Russland, haben aber gezeigt, dass die Unsicherheit schnell steigen kann und dass auch die Auswirkungen auf die deutsche Konjunktur jederzeit wieder stärker werden können.
Literatur
Baker, S. R., N. Bloom und S. J. Davis (2016), Measuring economic policy uncertainty, The Quarterly Journal of Economics, 131(4), 1593-1636.
Caldara, D. und M. Iacoviello (2022), Measuring geopolitical risk, American Economic Review, 112, 1194-1225.
Grebe, M., S. Kandemir und P. Tillmann (2023), Uncertainty about the war in Ukraine: Measurement and Effects on the German business cycle, unveröffentlichtes Manuskript, Universität Giessen, verfügbar auf www.ukraine-uncertainty.de (14. Juli 2023).