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Dieser Beitrag ist Teil von Wachstum und Wohlstand in Deutschland

Um die großen Herausforderungen zu meistern, vor denen Deutschland heute steht – vom Fachkräftemangel bis zum Klimawandel – sind konzertierte, transformative politische Anstrengungen notwendig, die auf kollektiven Werten aufbauen und gesellschaftliche Ziele verfolgen. Die Steigerung von Wohlstand muss gerecht erfolgen und darf nicht auf Kosten des sozialen Zusammenhalts oder zukünftiger Generationen gehen. Dafür muss Wohlfahrt neu gedacht und gemessen werden. Produktivitätswachstum und materieller Gewinn, gemessen am BIP, sind wichtig, aber als zentrale Zielgrößen und Maßstab für gesellschaftlichen Fortschritt unzureichend. Gemessen werden sollten die Dinge, die wir tatsächlich wertschätzen. Darunter fallen nicht nur wirtschaftliches Wohlergehen und die Einkommensverteilung, sondern auch andere Dimensionen des Wohlstands, wie soziale Teilhabe, gesellschaftlicher Zusammenhalt, persönliche Entscheidungsfreiheit und Chancen sowie ökologische Nachhaltigkeit.

Taugt das BIP als Indikator für erfolgreiche Nationen?

Seit seinem Triumphzug in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das BIP nach wie vor der von Entscheidungsträger:innen am meisten priorisierte Indikator, wenn es um das Messen des vermeintlichen Erfolgs von Nationen und den Wohlstand von Gesellschaften geht. Dabei sind wir uns zunehmend darüber im Klaren, dass individuelles Wohlergehen und gesellschaftlicher Wohlstand bei Weitem nicht allein vom gesamtgesellschaftlich betrachteten Konsum und von Produktion (wie vom BIP gemessen) bestimmt wird – vor allem nicht auf lange Sicht. Im Gegenteil, scheuklappenartig fokussiertes Streben nach BIP-Wachstum bedeutet oft auch eine Verschlechterung anderer Wohlstands­aspekte und -faktoren. Dies betrifft viele Dimensionen und Determinanten von nachhaltiger Lebensqualität und Wohlstand – wie z. B. den Klimawandel, Umweltverschmutzung, den Verbrauch natürlicher Ressourcen und Verlust der biologischen Vielfalt, aber auch wachsende ökonomische und soziale Ungleichheiten, soziale Isolation, sich verschlechternde Gesundheit und steigende öffentliche und private Schulden. All solche „Wohlstandsverluste“ (negative Externalitäten) werden bei der Messung und Evaluierung gesellschaftlichen Fortschritts anhand des BIP nicht berücksichtigt.

Regierungen (inklusive der Deutschen Bundesregierung), internationale Organisationen und viele andere Akteur:innen und Interessengruppen sind aus diesen Gründen seit einiger Zeit darum bemüht, gesellschaftlichen Fortschritt über das BIP hinaus zu definieren und Wohlstand multidimensional (d. h. in seinen vielen Dimensionen) abzubilden. Konkret ist die Motivation über das BIP hinaus zu gehen oft – und auch im Fall der Bundesregierung – in einem oder mehreren der folgenden Kritikpunkte begründet. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BWMK) beruft sich in seiner Kommunikation zum Jahreswohlstandsbericht tatsächlich auf vier Kritikpunkte.

  1. Das BIP ist (auch in seiner häufig verwendeten Pro-Kopf-Variante) gänzlich unberührt von Verteilungsfragen. Mit anderen Worten, das BIP verbirgt möglicherweise schwerwiegende und problematische Ungleichheiten.
  2. Es erfasst viele Dinge gar nicht (oder nur unzureichend), die von unmittelbarer Bedeutung für die Qualität der Leben vieler sind, wie z. B. die Pflege von Angehörigen, oder die Erziehung und Versorgung von Kindern.
  3. Als ein monetärer Indikator kann es individuelles und gesamtgesellschaftliches Wohlergehen nicht in seinen vielen Dimensionen darstellen oder erklären. Es hilft daher auch nur begrenzt, um zu messen oder zu vergleichen, wie es um Menschen oder Gesellschaften insgesamt bestellt ist – kann also oft genau den Zweck eines „Wohlstandsindikators“ nicht oder nur sehr ungenau erfüllen.
  4. Eine Politik, die primär (und oft sehr kurzsichtig) am BIP orientiert ist, riskiert durch den Ausschluss generationenübergreifender und nicht anthropozentrischer Komponenten von Wohlstand und Entwicklung nicht nur inakkurat, ausschließend und ungerecht, sondern auch – am Ziel vorbei – nicht nachhaltig zu sein.

Genau vor diesem Hintergrund forderte der UN-Generalsekretär kürzlich „neue Maßnahmen zur Ergänzung des BIP, damit die Menschen ein umfassendes Verständnis für die Auswirkungen unseres Handelns entwickeln können, und erfahren, wie wir besser handeln können und müssen, um Menschen und unseren Planeten zu unterstützen“ (UN, 2021).

Warum sollten wir uns mit Metriken und Messmethoden beschäftigen?

„In einer zunehmend leistungsorientierten Gesellschaft sind Metriken wichtig. Was wir messen, beeinflusst, was wir tun. Wenn wir die falschen Maßstäbe haben, werden wir nach den falschen Dingen streben. Bei dem Bestreben, das BIP zu steigern, könnten wir am Ende eine Gesellschaft haben, in der es den Bürgern schlechter geht. Zu oft verwechseln wir Zweck mit Mitteln.“ So argumentieren die Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen zusammen mit Jean-Paul Fitoussi in „Mismeasuring Our Lives. Why GDP Doesn’t Add Up“ (2010: xviii). Metriken (d. h. Statistiken) werden deskriptiv eingesetzt. Sie dienen beschreibend dazu, Sachverhalte zusammenzufassen und z. B. Aufschluss über die Frage zu geben, ob, wo und warum Entwicklungsziele erreicht oder nicht erreicht werden. Metriken werden aber auch – und zwar in zunehmendem Maße – präskriptiv eingesetzt, z. B. um die Gestaltung und Umsetzung evidenzbasierter, gezielter politischer Programme und Interventionen zu unterstützen. Es besteht daher das Risiko, dass unsere Messinstrumente und offiziellen Statistiken die falschen Konzepte beschreiben und deren Verfolgung nahelegen oder die richtigen und wichtigen Dinge nur unzureichend erfassen.

Deutschlands Jahreswirtschaftsbericht

Die deutsche Bundesregierung hat bereits Schritte unternommen, um Wohlstand in mehreren Dimensionen zu messen. So wurde unter anderem der Jahreswirtschaftsbericht (JWB) des BMWK 2022 mit dem ausgewiesenen Ziel, die Wohlfahrt über das BIP hinaus zu messen, um ein Sonderkapitel „Nachhaltiges und integratives Wachstum: Dimensionen der Wohlfahrt messbar machen“ ergänzt. Wiederaufgegriffen 2023 enthält der JWB nun insgesamt 34 Wohlfahrts- und Nachhaltigkeits­indikatoren im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung (vgl. Kasten 1). Diese Indikatoren sind über fünf Wohlstandsdimensionen verteilt und stammen teilweise aus der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS), die die deutschen Indikatoren für die Ziele für nachhaltige Entwicklung darstellt (BWMK, 2023, 108-129).

Kasten 1

Wohlstandsdimensionen und Indikatoren im JWB

Dimension

Indikator

Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Grundbedürfnisse Bruttonationaleinkommen je Einwohner
Reallohnentwicklung
Erwerbstätigenquote
Arbeitsproduktivität
30-34-Jährige akademisch Qualifizierte oder beruflich Höherqualifizierte
Entwicklung von Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage
Vorzeitige Sterblichkeit
Anteil von Personen mit hohen Wohnkosten
Erreichbarkeit zentraler Einrichtungen der Daseinsvorsorge
Soziale Gerechtigkeit und Teilhabe Regionale Einkommensverteilung
Gini-Koeffizient des Einkommens nach Sozialtransfers
Frauen in Führungspositionen
Existenzgründungen von Frauen
Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern
Kinder in Ganztagsbetreuung in Tages-einrichtungen
Frühe Schulabgänger:innen
Zukunftsfähigkeit von Staat und Wirtschaft Bruttoanlageinvestitionen
Private und öffentliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung
Innovatorenquote
Gründungsquote und Anteil innovativer Gründungen
Breitbandausbau
Welthandelsanteil bei forschungsintensiven Waren
Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit einer Staatsangehörigkeit aus der EU und Drittstaaten
Öffentliche Schuldenquote
Abstand zur schuldenstabilisierenden Defizitquote
Kredit/BIP-Lücke
Ökologische Grenzen Treibhausgas-Emissionen
Investitionen in Maßnahmen für den Klimaschutz
Anteil erneuerbarer Energien am Brutto-End-energieverbrauch
Endenergieproduktivität
Gesamtrohstoffproduktivität
Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche
Emissionen von Luftschadstoffen
Nitratminderung im Grundwasser

Quelle: BMWK (2023, 108-129).

Ziel ist es, Wohlstand in mehr Dimensionen als nur durch Wachstum im BIP zu erfassen und diese im Sinne einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft um Indikatoren zu Klimaschutz und sozialer Ungleichheit zu erweitern, so der diesjährige Bericht: „Die individuelle und damit auch die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt hängen von weit mehr als nur den wirtschaftlichen Rahmendaten ab. … Mittels ausgewählter Indikatoren werden wesentliche Aspekte der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt in der Gegenwart abgebildet und ergänzende Dimensionen jenseits des Bruttoinlandsprodukts dargestellt” (BMWK, 2023, 107).

Indikatoren müssen integriert, akzeptiert und verwendet werden

Die Schaffung einiger neuer Indikatoren, wie im JWB, ist ein begrüßenswerter Schritt. Vielversprechend ist auch, dass die Anerkennung und das Versprechen für eine multidimensionale Wohlstandserfassung nicht nur im BMWK zu finden sind. Vielmehr wird hier ein im Koalitionsvertrag festgehaltenes Versprechen umgesetzt (Bundesregierung, 2021). Darüber hinaus finden Diskussionen um multidimensionale Wohlfahrtsmessung und -politik – z. B. auch im Kanzleramt und im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) – statt. Und auch der Bundesfinanzminister hat seinerseits vor kurzem im Zuge des G7 Communiqués der Finanzminister:innen und Zentralbänker:innen die Multidimensionalität von Wohlfahrt anerkannt und dementsprechend Metriken über das BIP hinaus zugesagt (G7, 2023). Derartige Diskussionen und Initiativen garantieren jedoch keine weit verbreitete oder regelmäßige Verwendung – etwa der Indikatoren des JWB – in der Politikgestaltung. Um dies zu erreichen, sind vor allem drei Dinge gefragt:

Erstens ressortübergreifendes Arbeiten in der Identifizierung relevanter Wohlfahrtsindikatoren und in der Umsetzung evidenzbasierter Politik sind unerlässlich. Um kohärente, evidenzbasierte Politik zu betreiben, müssen Regierungen an einem Strang ziehen. Vereinzelte und unter Umständen teilweise widersprüchliche Initiativen einzelner Ressorts behindern den expliziten Paradigmenwechsel, der notwendig ist, damit Metriken und Politik unserem Verständnis von und Zielen für nachhaltige Wohlfahrt gerecht werden können. Zweitens sind ähnliche Koordinierungs- und Konsolidierungsprozesse auch auf internationaler Ebene wichtig. Nachhaltiger Wohlstand lässt sich aufgrund globaler Interdependenzen nicht in nationalstaatlichen Grenzen denken. Zur Vergleichbarkeit von Metriken und zur internationalen Abstimmung von Politikmaßnahmen sind internationaler Konsens und konkrete Verpflichtungen notwendig. Während die Vereinten Nationen – wie auch andere internationale Organisationen, Wissenschaftler:innen und Regierungen – bereits verschiedene „Beyond GDP“-Indikatoren entwickelt und publiziert haben, sind all diese Initiativen bisher voneinander unabhängig, unterschiedlich und unabgestimmt.1 Und drittens bedarf es der Einbindung der Bevölkerung in alle Prozessschritte – von der Konzeptualisierung bis hin zur Umsetzung von gezielten Maßnahmen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die neuen Indikatoren auch den Werten und Prioritäten der betroffenen Menschen entsprechen und damit akkurat und legitim das messen, was sie messen sollen. Diese Einbindung ist auch notwendig, damit eine neue Wohlfahrtspolitik den notwendigen gesellschaftlichen Rückhalt hat, um umsetzbar zu sein. Eine vage, aber dennoch begrüßenswerte Absichtserklärung in Richtung eines öffentlichen Konsultationsprozesses ist bereits im JWB zu finden (BMWK, 2023, 107). Diese sollte, neben den anderen beiden Schritten, gründlich durchgeführt werden. Denn sie kann, gerade wenn sie gesellschaftlichen Input und Rückhalt für eine Neu-Konzeptualisierung und Messung von Wohlfahrt gibt, Grundgerüst einer neuen, legitimen Wohlstandspolitik sein, die Werte und Prioritäten der Bevölkerung ernst nimmt und explizit berücksichtigt. Neben Expert:innen, Interessensvertreter:innen und (gewählten) Repräsentant:innen sollten dabei vor allem auch besonders Betroffene, inklusive Vertreter:innen zukünftiger Generationen, explizit eingebunden werden.

Als Beispiel und Diskussionsgrundlage für diese drei Schritte kann ein kleiner Bergstaat im Himalaya dienen. Das Königreich Bhutan hat erklärtermaßen das Bruttonationalglück (vgl. Kasten 2) über das BIP gesetzt und einen entsprechenden Index mit verschiedenen Wohlstandsindikatoren – von materiellem Lebensstandard über gutes Regieren hin zu ökologischer Vielfalt und Resilienz – entwickelt. Der Entwicklung dieses Indexes gingen umfassende partizipative Prozesse zur Bevölkerungsbeteiligung und -mitbestimmung voraus. Nun wird der Index ressortübergreifend für evidenzbasierte Politik verwendet und fließt z. B. in den Fünfjahresplan und die Ressourcenallokationsformel des Königreichs ein.

Auch Bundeskanzler Scholz berichtete: „Ich finde es sehr sinnvoll, unseren Wohlstand nicht nur anhand von ökonomischen Größen zu messen, sondern auch nicht-materielle Faktoren einzubeziehen.“ – „Bei der Messung von Wohlstand spielt Bhutan eine Vorreiterrolle“ (Tagesschau, 2023).

Kasten 2
Bhutan und die Idee, Messung und Politik des Bruttonationalglücks

Ende der 1970er Jahre erklärte der 4. König von Bhutan, Jigme Singye Wangchuck: „Bruttonationalglück ist wichtiger als das BIP.“ Das Konzept impliziert ein Verständnis von Fortschritt und nachhaltiger Entwicklung, das immateriellen Aspekten von Wohlstand eine deutlich größere Bedeutung beimisst. Seitdem hat die Idee vom Bruttonationalwohlergehen (eine vielleicht passendere Übersetzung des weitfassenden und multidimensionalen Begriffs „Gross National Happiness“) die Wirtschafts- und Sozialpolitik Bhutans maßgeblich beeinflusst und weit über die Grenzen des Himalayastaats hinaus Diskussion und Anwendungen inspiriert. Um so gedachtes gesellschaftliches Wohlergehen zu steigern und das Konzept für Politikgestaltung anwendbar zu machen sowie um politische Anreize für Regierung, NGOs und Unternehmen zu schaffen, hat Bhutan unterstützt von Forscher:innen an der Universität Oxford vor einigen Jahren den Gross-National-Happiness-Index (GNHI) ins Leben gerufen. Ziel ist und war es dabei, eine aussagekräftige und politiktaugliche Methode zur Messung von Wohlstand bereitzustellen, die über bloße Wirtschaftsindikatoren wie das BIP hinausgeht. Der Index ist ein multidimensionales Maß für Wohlergehen und eine permanente offizielle Statistik Bhutans. Diese wird auch verwendet, um das Wohlergehen der Bevölkerung zu verbessern. Evidenzbasierte Entscheidungen und Prozesse basieren direkt auf der Analyse der aktuellsten Indexdaten. Der Index selbst umfasst sowohl traditionelle Bereiche von sozioökonomischer Bedeutung, z.B. materielle Lebensstandards, Gesundheit und Bildung, als auch weniger traditionelle Aspekte wie Kultur, Vitalität der Gemeinschaft und psychisches Wohlbefinden. Insgesamt besteht der Index aus 33 Wohlstandsindikatoren in neun Dimensionen:

Einzigartig und besonders politikrelevant ist, dass der Index nicht aus einem Dashboard aggregierter, makroökonomischer Indikatoren (und ihren Pendants in anderen Wohlstandsdimensionen) besteht. Stattdessen erfasst er zunächst das multidimensionale Wohlergehen einzelner Menschen anhand sämtlicher Wohlstands­indikatoren, um sie dann in gesamtgesellschaftliche Statistiken zusammenzufassen. Dieser Prozess hat den Vorteil, dass die resultierende Wohlstandsmetrik disaggregiert werden kann und so etwa die Identifizierung von besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppen und Regionen erlaubt, die von mehreren Wohlstandsformen gleichzeitig ausgeschlossen sind. Der Index wird in großem Umfang sowohl für die Projekt- und Programmplanung als auch zur Messung und Analyse von Wohlstandswachstum und -dynamiken auf nationaler Bezirks- und Bevölkerungsgruppenebene verwendet.

Quellen: Ura et al. (2016, 2023); OPHI (2023).

Abbildung 2

 

Zu viele Indikatoren verkomplizieren die Umsetzung und erschweren Priorisierung und Kommunikation

Wie die 34 einzelnen Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitsindikatoren des JWB können auch die SDG mit ihren 17 Nachhaltigkeitszielen (und mehr als 230 Indikatoren!) als umfassendes Indikatorenset zur Wohlfahrts- und Fortschrittsmessung angesehen werden. Eine so große und diverse Zahl von Indikatoren macht eine integrierte, multidimensionale Messung und konsolidierte politische Anwendung jedoch fast unmöglich. Benötigt wird eine kleine Zahl von prägnanten Leitindikatoren, die Wohlfahrt mehrdimensional erfassen, Priorisierung zulassen und kommunizierbar sind. Dies ist vor allem auf internationaler Ebene wichtig, wo es noch schwieriger sein dürfte, sich auf eine übergeordnete Messmethode (und deren Inhalt im Sinne von Wohlfahrtsindikatoren) einigen zu können als auf nationaler Ebene.

Solidarität, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Teilhabe spielen eine zu geringe Rolle

Gemeinschaftsbezogene Indikatoren, die z. B. Solidarität, gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Teilhabe messen, spielen in vielen Wohlfahrtsmetriken oft eine geringe oder – so wie im JWB – explizit gar keine Rolle. Dabei ist die soziale Dimension sowohl konstitutiver Bestandteil menschlichen Wohlergehens als auch instrumentell für das Bewirken sozioökonomischen Wandels. Das gesellschaftliche Wohlergehen – im Sinne von Zusammenhalt zwischen Menschen und Befähigung jedes Menschen selbstgestaltet zu leben – sind so nicht nur intrinsisch wertvoll, sondern z. B. auch für den Einsatz gegen den Klimawandel von entscheidender Bedeutung. Denn in einer gespaltenen Gesellschaft wird es deutlich schwieriger sein, eine gemeinhin akzeptierte Klimapolitik zu beschließen und umzusetzen als in einer solidarischen. Es ist also zu erwarten, dass die Solidarität innerhalb der Gesellschaft und die Befähigung der Einzelnen die Wirksamkeit der Regierungspolitik beeinflussen. Initiativen wie der Wohlstandsindex Bhutans (vgl. Kasten 2) und das Recoupling-Dashboard (vgl. Kasten 3) beziehen gemeinschaftsbezogene Indikatoren explizit und als konstitutive Bestandteile multidimensionalen Wohlergehens mit in Betracht.

Kasten 3
Das Recoupling Dashboard

Das Recoupling-Dashboard misst das gesellschaftliche Wohlergehen von Gesellschaften über das BIP hinaus und veranschaulicht die Wechselwirkungen von wirtschaftlichem Wohlstand, sozialer Wohlfahrt und ökologischer Nachhaltigkeit. Es basiert auf einem empirischen, interdisziplinären Verständnis menschlicher Bedürfnisse und Ziele und erfasst die grundlegenden Dimensionen des menschlichen Wohlbefindens anhand von vier Indizes. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der Messung der sozialen Wohlfahrt, die anhand zweier innovativer Indizes (Agency und Solidarity) gemessen wird. Agency (Handlungsfähigkeit) misst die Fähigkeit, das eigene Leben aus eigener Kraft zu beeinflussen. Solidarität misst die Einbettung in die relevanten gesellschaftlichen Gruppen, d. h. das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Schutz sowie sinnstiftender sozialer Aufgaben und Teilhabe. Dabei sind sowohl die nach innen als auch die nach außen gerichtete Solidarität wichtig. Während die nach innen gerichtete Solidarität entscheidend für den sozialen Zusammenhalt im engen sozialen Umfeld ist, ermöglicht die nach außen gerichtete Solidarität den Willen zur Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, Nationen und Kulturen. Das Recoupling-Dashboard zeigt unter anderem die Entkopplung von wirtschaftlichem und sozialem Wohlergehen von Gesellschaften auf und bietet somit eine empirische Grundlage für die Mobilisierung von Maßnahmen, um wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in Einklang zu bringen.

Quelle: Lima de Miranda und Snower (2022).

Abbildung 2
 

Langfristige- und generationenübergreifende Auswirkungen sollten noch stärker in den Fokus gerückt werden

Nachhaltige Entwicklung und nachhaltiger Wohlstand, der es sowohl jetzigen als auch zukünftigen Generationen gleichermaßen ermöglicht, nicht nur Grundbedürfnisse zu befriedigen, sondern lebenswerte Leben zu leben, müssen integraler Bestandteil neuer Leitindikatoren sein. Es ist daher vielversprechend, dass die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und der JWB die Dimension ökologischer Grenzen durch einige prominente Indikatoren deutlich stärker in die Konzeptualisierung und Messung von nachhaltigem, multidimensionalen Wohlstand einbringen. Diese könnten noch umfassender berücksichtigt werden. Langzeit- und generationsübergreifende Komponenten eines multidimensionalen Wohlstandsverständnisses können z. B. durch die explizite Berücksichtigung planetarer Grenzen und der umweltschädlichen oder -verschmutzenden Kosten von materiellem Wohlstand einbezogen werden. Zu diesem Zweck eignen sich nicht nur Indikatoren, wie der CO2-Ausstoß, sondern auch weiter gefasste Statistiken, wie der ökologische Fußabdruck, das direkte Einpreisen von negativen Externalitäten (z. B. die gesellschaftlichen und intergenerationellen Kosten des CO2-Ausstoßes) bis hin zu Kapitalbeständen, in Form von natürlichen Ressourcen für sogenannte Ökosystemdienstleistungen (Ecosystems Services) oder ökonomischen und sozialen Institutionen und Ressourcen, die künftigen Generationen hinterlassen werden. Vereinzelt werden solche Indikatoren bereits berücksichtigt, sollten aber auf nationaler wie internationaler Ebene stärker in den Fokus geraten, um die Idee nachhaltigen Wohlstands in all seinen Dimensionen tatsächlich auch in entsprechende Metriken und darauf aufbauende evidenzbasierte Politikgestaltung übersetzen zu können.

Ausblick

Angesichts der Vielzahl von Vorschlägen und Innovationen, die in der wissenschaftlichen Literatur und von zwischenstaatlichen Organisationen und nationalen Regierungen entwickelt werden, wird es von größter Bedeutung sein, bestehende Bemühungen aufeinander abzustimmen. Dies gilt sowohl im Inland als auch international. Die derzeit von einzelnen Ländern entwickelten und umgesetzten Rahmenwerke2 ermöglichen (noch) keinen internationalen Vergleich und werden daher nicht dazu dienen, das BIP als wichtige länderübergreifende Messgröße zu ergänzen. Um Verwirrung und Doppelarbeit zu vermeiden – auch im Hinblick auf die SDG – sollte ein umsetzbarer Ansatz mit wenigen, klar dargelegten und international vergleichbaren Leitindikatoren entwickelt werden. Diese sollten das gesellschaftliche Wohlergehen, den wirtschaftlichen Wohlstand und die ökologische Nachhaltigkeit abdecken. Des Weiteren sollte auf Verteilungsfragen geachtet werden, um es den politischen Entscheidungsträgern zu ermöglichen, benachteiligte Individuen und Gruppen zu priorisieren. International vergleichbare Leitindikatoren können von kontextspezifischen Initiativen auf Landes- oder Lokalebene – wie etwa einer neuen Wohlfahrtsstrategie und -metrik in Deutschland – ergänzt werden, um für jeweils spezifische Wohlstandsbegriffe und -politiken relevant zu sein.

Ein globales Forum zum Austausch über neue Konzepte und Maßstäbe für Wohlfahrt und Fortschritt könnte es Entscheidungsträgern ermöglichen, Fachwissen und Erfahrungen auszutauschen, z. B. darüber, wie gezielte Politik und Budgetierung zum Wohlbefinden beitragen und mit ihm in Einklang gebracht werden können. Inspiration hierzu kann z. B. vom „Multidimensional Poverty Peer Network“ kommen – ein internationales Netzwerk aus über 60 Ländern und internationalen Organisationen, die sich regelmäßig im Rahmen der Vollversammlung der Vereinten Nationen und anderer Veranstaltungen über die Messung und Bekämpfung von Armut in all ihren Dimensionen austauschen (MPPN, 2023).

Ein evidenzbasierter Austausch kann auch wertvolle Einblicke in die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und den verschiedenen Dimensionen nachhaltigen Wohlstands liefern. Indem ein solches Forum Licht auf diese Zusammenhänge wirft, könnte es dazu beitragen, sektorale Silos aufzubrechen und Ressourcen auf wirksame Interventionen mit positiven Auswirkungen für planetares und gesellschaftliches Wohlergehen zu konzentrieren. Die Einrichtung eines sichtbaren, hochrangigen globalen Forums wird auch das Engagement für die regelmäßige Messung gewährleisten. Dies sollte durch die Suche nach Partnerschaften zwischen hochrangigen politischen Entscheidungsträgern, Regierungsbeamten auf allen Ebenen, nationalen Statistik­ämtern, internationalen Organisationen, NGOs und dem Privatsektor erreicht werden. Deutschland kann und sollte für diese Initiativen eine tragende Rolle übernehmen.

Dieser Artikel basiert unter anderem auf Material aus ADBI et al. (2022), Dirksen (im Erscheinen), Dirksen et al. (2022) und Zhou et al. (2023).

  • 1 Die Vorschläge reichen von sogenannten Dashboards zu materiellem und immateriellem Wohlstand (BMWK, 2023; UN, 2023; OECD, 2020) hin zu erweiterten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (UN DESA, 2023). Bemühungen auf internationaler Ebene sind, z.B. innerhalb der G7/G20 (z. B. G7, 2023), der EU oder der OECD initiiert. Laut OECD Generalsekretär Mathias Cormann haben 70 % aller OECD-Staaten mittlerweile eigene nationale Well-Being-Frameworks (Ura et al., 2023).
  • 2 Einen Überblick für OECD-Länder bietet z. B. Brandt et al. (2022).

Literatur

ADBI et al. (2022), New Conception of Prosperity and Measures of Progress Needed. T7 Call for Action, T7 Task Force Social Cohesion, Economic Transformation and Open Societies, Think7, G7 Germany, https://www.think7.org/wp-content/uploads/2022/05/T7_Call-for-Action-Measurement_23May2022_2.pdf (12. Juli 2023).

BMWK – Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023), Jahreswirtschaftsbericht 2023. Wohlstand erneuern, Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Wirtschaft/jahreswirtschaftsbericht-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=3. (12. Juli 2023).

Brandt, N., C. Exton und L. Fleischer (2022), Wellbeing at the heart of policy: lessons from national initiatives around the OECD, Forum New Economy, https://newforum.org/wp-content/uploads/2022/02/FNE-BP01-2022.pdf (12. Juli 2023).

Bundesregierung (2021), Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/1f422c60505b6a88f8f3b3b5b8720bd4/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1 (12. Juli 2023).

Dirksen, J. (im Erscheinen), Concepts and Measures of Development: Beyond GDP, in V. Desai und E. Dauncey (Hrsg.), Companion to Development Studies, 4. Aufl., Routledge.

Dirksen, J., K. Lima de Miranda und R. Wike (2022), Towards Social and Economic Prosperity Measurement Beyond GDP, Policy Brief, T7 Task Force Social Cohesion, Economic Transformation and Open Societies, Think7, G7 Germany, https://www.think7.org/wp-content/uploads/2022/05/Cohesion_Towards-Economic-and-Social-Prosperity-Measurement-Beyond-GDP_Jakob-Dirksen_Katharina-Lima-de-Miranda_Richard-Wike.pdf (12. Juli 2023).

G7 (2023), G7 Finance Ministers and Central Bank Governor’s Meeting Communiqué, Niigata, Japan, 13 Mai, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/EN/Downloads/G7-G20/2023-05-13-g7-communique.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (12. Juli 2023).

Lima de Miranda, K. und J. D. Snower (2022), The Societal Responses to COVID-19: Evidence from the G7 Countries, PNAS, 119(25), e2117155119.

OECD (2020), How‘s Life? 2020: Measuring Well-being, OECD Publishing, https://www.oecd-ilibrary.org/economics/how-s-life-2020_ea714361-en (12. Juli 2023).

OPHI – Oxford Poverty and Human Development Initiative (2023), Bhutan’s Gross National Happiness Index, University of Oxford, https://ophi.org.uk/policy/bhutan-gnh-index/ (12. Juli 2023).

MPPN – Multidimensional Poverty Peer Network (2023), Multidimensional Poverty Peer Network (MPPN), https://www.mppn.org/about-us/mppn-en/ (12. Juli 2023).

Stiglitz, J. E., A. K. Sen und J.-P. Fitoussi (2010), Mismeasuring Our Lives. Why GDP Doesn’t Add Up, The New Press.

Tageschau (2023), Scholz fasziniert von “Bruttonationalglück“, 13. März, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/scholz-bruttonationalglueck-bhutan-101.html (12. Juli 2023).

UN (2021), Our Common Agenda – Report of the Secretary-General, United Nations, https://www.un.org/en/content/common-agenda-report/assets/pdf/Common_Agenda_Report_English.pdf (12. Juli 2023).

UN (2023), Valuing What Counts. Framework to Progress Beyond Gross Domestic Product, Our Common Agenda Policy Brief, 4, United Nations, https://www.un.org/sites/un2.un.org/files/our-common-agenda-policy-brief-beyond-gross-domestic-product-en.pdf (12. Juli 2023).

UN DESA (2023), Towards the 2025 SNA, United Nations Department of Economic and Social Affairs, https://unstats.un.org/unsd/nationalaccount/towards2025.asp (12. Juli 2023).

Ura, K., S. Alkire, K. Wangdi und T. Zangmo (2012), An Extensive Analysis of GNH Index, The Centre for Bhutan Studies.

Ura, K., S. Alkire, K. Wangdi und T. Zangmo (2023), GNH 2022, Centre for Bhutan and GNH Studies.

Zhou et al. (2023), Putting Societal Well-Being at the Core of G7 Climate Strategies. Entry Points and Enabling Reforms, Policy Brief, T7 Task Force Wellbeing, Environmental Sustainability, and Just Transition, Think7, G7 Japan, https://www.think7.org/wp-content/uploads/2023/04/T7JP_TF2_Putting-Societal-Well-Being-at-the-Core-of-G7-Climate-Strategies-Entry-Points-and-Enabling-Reforms.pdf (12. Juli 2023).

Title:Rethinking and Remeasuring Prosperity

Abstract:Addressing the major challenges Germany and the world face today – from mitigating climate change to the shortage of skilled labor – will require concerted, transformative political effort that builds on collective values and pursues societal goals. Economic growth should be achieved in a sustainable and inclusive manner and not at the expense of social cohesion or future generations. To do this, we need to rethink prosperity and find new ways to measure it. Productivity growth and material gains, measured in terms of gross domestic product (GDP), are important, but insufficient as central targets and yardsticks for social progress. The things that we actually value should be measured. This includes not only economic well-being and income distribution, but also other dimensions of well-being, such as social participation, societal cohesion, personal empowerment and opportunity, as well as environmental sustainability. In this article, we discuss Germany’s strategy for measuring and improving multidimensional, sustainable prosperity, and propose ways to rethink and design new measures of economic and social prosperity that encompass not only material prosperity and economic output, but also the social and environmental dimensions of prosperity.

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© Der/die Autor:in 2023

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2023-0133

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