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Die Bruttowertschöpfung (BWS) und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sind zentrale Größen für die Konjunkturdiagnose und -prognose. Die jüngst ungewöhnlich großen Unterschiede zwischen den Zuwachsraten der BWS und des BIP erschweren die Konjunkturanalyse. So legte die preisbereinigte BWS im ersten Quartal um 0,9 % zu, während das preisbereinigte BIP um 0,3 % schrumpfte. Bereits seit dem Beginn der Pandemie sind die Unterschiede zwischen den Zuwachsraten der BWS und des BIP ungewöhnlich hoch (vgl. Abbildung 1). Während die absolute durchschnittliche Differenz der Zuwachsraten gegenüber dem jeweiligen Vorquartal zwischen den Jahren 1991 bis 2019 bei 0,2 Prozentpunkten lag, ist sie seit 2020 dreimal so groß (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 1
Zuwachsraten von Bruttoinlandsprodukt und Bruttowertschöpfung gegenüber dem Vorquartal
Abbildung 1

Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des IfW Kiel.

Abbildung 2
Differenz zwischen Vorjahresraten des Bruttoinlandsprodukts und der Bruttowertschöpfung
Abbildung 2

Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des IfW Kiel.

Die BWS und das BIP unterscheiden sich durch die Nettogütersteuern (Gütersteuern abzüglich Gütersubventionen), die im BIP enthalten sind. In nominaler Rechnung lassen sich die Nettogütersteuern direkt über das Staatskonto beobachten. Die preisbereinigten Nettogütersteuern lassen sich dagegen nicht direkt beobachten. Die Veränderung der preisbereinigten Nettogütersteuern ergibt sich aus der Veränderung der Mengen der besteuerten bzw. subventionierten Güter, wobei Steuern und Subventionen des Vorjahres die Gewichtung bilden. Die Größe selbst lässt sich kaum interpretieren. Sie korrespondiert mit dem Umstand, dass sich zwar BIP und BWS auf die identischen Waren und Dienstleistungen beziehen, diese aber unterschiedlich bewertet werden (Marktpreise auf der Verwendungsseite und Herstellungskosten auf der Entstehungsseite). Durch die unterschiedliche Bewertung kann auch in den preisbereinigten Größen eine Diskrepanz zwischen BIP und BWS entstehen, die durch die preisbereinigten Nettogütersteuern aufgefangen wird. Sofern alle Gütermengen in gleichen Raten expandieren, sind auch die Expansionsraten von BIP, BWS und Nettogütersteuern identisch.

Größere Abweichungen in den Expansionsraten von BIP und BWS können entstehen, wenn die versteuerten bzw. subventionierten Güter eine andere Dynamik aufweisen als die übrigen Güter. So unterliegen z. B. Exporte im Gegensatz zu weiten Teilen der privaten Konsumausgaben nicht der Umsatzsteuer. Robuste Exporte bei gleichzeitig gedämpftem Konsum korrespondieren entsprechend mit einer schwächeren Entwicklung der preisbereinigten Nettogütersteuern bzw. einer stärkeren BWS relativ zum BIP. Neben solchen ökonomischen Faktoren ist es aber auch möglich, dass Messprobleme zu Diskrepanzen zwischen BWS und BIP führen, die dann zum Teil in den preisbereinigten Nettogütersteuern aufgefangen werden. Messprobleme können beispielsweise dadurch entstehen, dass die zeitnahe Messung der Wirtschaftsleistung durch das Statistische Bundesamt auf unvollständigen Informationen beruht und seit dem Beginn der Pandemie schwieriger geworden ist. In diesem Zusammenhang dürften die großen pandemiebedingten Ausschläge bei der Wirtschaftsleistung nicht zuletzt die Saisonbereinigung erschwert haben. Für einen Einfluss der Saisonbereinigung spricht, dass die Unterschiede im Vorjahresvergleich bis Ende 2022 deutlich geringer und im historischen Vergleich nicht ungewöhnlich groß waren. Im ersten Quartal 2023 war die Diskrepanz zwischen BIP und BWS jedoch auch im Vorjahresvergleich sehr ausgeprägt. Während die BWS 0,7 % über Vorjahr lag, befand sich das BIP 0,2 % unter seinem Vorjahreswert (vgl. Abbildung 2). Der Abstand beträgt somit nahezu 1 Prozentpunkt und korrespondiert mit einem Einbruch der preisbereinigten Nettogütersteuern, der vor allem auf den deutlichen Rückgang der preisbereinigten Gütersteuern zurückgeht.1

Anhand eines Modells lässt sich schätzen, inwieweit sich Schwankungen bei den Gütersteuern durch ökonomische Faktoren erklären lassen. Abweichungen von den Modellwerten können dementsprechend auf durch Messprobleme verursachte Schwankungen hindeuten. In das Modell gehen Verwendungskomponenten, die für die Umsatzsteuer – die mit Abstand bedeutendste Gütersteuer – relevant sind (Wohnbauten, staatliche Investitionen, staatliche Vorleistungskäufe und privater Konsum), preisbereinigt in Vorjahresraten ein und werden mit der unterstellten Umsatzsteuerlast des Vorjahres gewichtet. Mit diesem Modell lassen sich die tatsächlichen Schwankungen der preisbereinigten Nettogütersteuern im Vorjahresvergleich recht gut erklären (vgl. Abbildung 3, links). Insgesamt ist die Korrelation zwischen der Modellgröße und der tatsächlichen Entwicklung mit 0,65 seit dem Jahr 2008 recht hoch. Obwohl das Modell auf Vorjahresvergleichen basiert, zeigen die Modellresiduen keine ausgeprägte Autokorrelation. Entsprechend haben sich größere Abweichungen zwischen den Modellwerten und den tatsächlichen Gütersteuern, die auf Messprobleme hindeuten könnten, in der Vergangenheit rasch wieder zurückgebildet (vgl. Abbildung 3, rechts).

Abbildung 3
Modell für die preisbereinigten Gütersteuern im Vorjahresvergleich
Abbildung 3

Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des IfW Kiel.

Das Modell kann einen Rückgang der preisbereinigten Gütersteuern im ersten Quartal von 2,5 % gegenüber dem Vorjahr erklären. Tatsächlich sind die Gütersteuern aber um rund 7,5 % zurückgegangen. Entsprechend können somit nur etwa 0,4 Prozentpunkte bzw. rund ein Drittel der Differenz zwischen den Vorjahresraten von BWS und BIP durch das Modell erklärt werden. Dies spricht dafür, dass die Diskrepanz zwischen BWS und BIP zu großen Teilen auf Messprobleme zurückzuführen ist. Gleichen sich diese – so wie in der Vergangenheit für gewöhnlich zu beobachten war – rasch wieder aus, wird sich die BWS vorerst schwächer entwickeln als das BIP. Für eine etwas schwächere Entwicklung der BWS spricht auch, dass nach den Rückgängen im Winterhalbjahr die privaten Konsumausgaben allmählich wieder anziehen dürften.

1 Bei den nominalen Gütersubventionen kam es im Winterhalbjahr 2022/2023 zu erheblichen Schwankungen, die die Wirkung der Preisbremsen abbilden. Die Preisbremsen machen sich bei den Gütersubventionen jedoch nur beim Deflator bemerkbar, sodass sie wohl nicht wesentlich zur Diskrepanz zwischen preisbereinigter BWS und preisbereinigtem BIP beigetragen haben. Dennoch dürften die Preisbremsen für Gas und Strom die Messprobleme der amtlichen Statistik jüngst vergrößert haben, da die periodengerechte Berücksichtigung der in diesem Rahmen geleisteten Gütersubventionen bei den Deflatoren wohl nur schwer umsetzbar ist. Durch die Komplexität der Energiemärkte (Abschlagszahlungen, Abrechnungszeiträume, Unterschiede zwischen Mietern und Eigentümern) dürfte es schwierig sein, diese Subventionen in die jeweiligen Deflatoren auf der Verwendungsseite abzubilden. Außerdem deutet sich an, dass die in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen angesetzten Ausgaben für die Preisbremsen, die bisher den Zahlen des Wirtschaftsplans des Wirtschaftsstabilisierungsfonds entsprechen, die tatsächliche Entwicklung überzeichnen, sodass demnächst eine Revision der nominalen Gütersubventionen erfolgen dürfte. Die Abwärtsrevision der Gütersubventionen dürfte für sich genommen mit einem geringeren Deflator der BWS und einer Reduktion der Unternehmens- und Vermögenseinkommen einhergehen.

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© Der/die Autor:in 2023

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DOI: 10.2478/wd-2023-0141