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Nach 20 Jahren zäher Verhandlungen einigten sich die EU und die Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay 2019 auf ein Handelsabkommen. Heute stellt sich die Frage: Hat das Abkommen eine Chance auf Umsetzung und welche Bedingungen müssen dafür erfüllt werden?

Im März 2023 hat die EU den Mercosur-Staaten ein „zusätzliches Instrument“ zur Nachhaltigkeit vorgeschlagen, das dem Abkommen beigefügt werden soll, um so die EU-internen Widerstände bei der Ratifizierung zu überwinden. Die Mercosur-Staaten haben bisher noch nicht offiziell reagiert. Aber es ist klar, dass sie Gegenleistungen für die von der EU geforderten zusätzlichen Garantien zum Umweltschutz erwarten. Hier geht es dem Vernehmen nach um den Bereich der öffentlichen Beschaffung und um den Schutz heimischer Klein- und Mittelbetriebe. Außerdem wollen die Mercosur-Staaten Unterstützung durch die EU bei der Dekorbanisierung ihrer Energiesysteme. Und sie wollen ihre nationalen Strategien der Reindustrialisierung absichern. Anfang Juni 2024 finden Wahlen zum EU-Parlament statt. Wenn das Abkommen nicht wieder auf die lange Bank geschoben werden soll, muss daher eine Einigung bis Ende 2023 stehen. Spitzenpolitiker der EU und des Mercosur haben anlässlich des Europa-Lateinamerika-Gipfels im Juli einen Abschluss bis Jahresende in Aussicht gestellt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die EU schnell auf die Forderung des Mercosur reagieren kann, zumal die Gegenleistungen für die EU mit Kosten verbunden wären, die es abzuschätzen und zu verteilen gilt. Auch die Inhalte des von der EU vorgeschlagenen „zusätzlichen Instruments“ selbst sind umstritten. Es ist unklar, ob sich z. B. Österreich, das eine Ratifizierung des Abkommens ablehnt, zu einer Zustimmung durchringt. Ähnlich fraglich scheinen die Positionen Frankreichs und der Niederlande zu sein. Schließlich ist es noch nicht klar, ob das Abkommen in zwei Teile geteilt werden sollte: einen Teil, für den die EU eine ausschließliche Kompetenz besitzt und der ohne Zustimmung aller EU-Länder beschlossen werden kann, und einen zweiten Teil, für den das nicht gilt. Die genannten Länder sind jedenfalls strikt gegen eine solche Trennung. Wenn sie ihren Willen bekommen, dann würde die Ratifizierung des Abkommens schwierig.

Klar ist: Das Abkommen hat eine signifikante Größe. Die EU wirft ein BIP (in laufenden US-Dollar) von 16 % des Welt-BIP in die Waagschale, die Mercosur-Staaten von 3 %. Das ist siebenmal mehr als das Gewicht von Vietnam, das Land, mit dem das letzte große Abkommen in Kraft getreten ist. Dazu kommt, dass das Ausmaß des Handelsprotektionismus stark asymmetrisch ist, sowohl bei Zöllen als auch im nicht-tarifären Bereich. Der durchschnittlich angewandte Zollsatz Brasiliens auf Industriegüter liegt bei fast 12 %, jener der EU bei weniger als 4 %. Hieraus resultieren Wohlstandsgewinne, deren absolute Höhe in Europa höher als in den Mercosur-Staaten ausfallen dürfte. Dazu kommt: Brasilien könnte jederzeit die aktuell angewandten Zölle auf die im WTO-Recht verankerten Maximalwerte anheben; das wären durchschnittlich ca. 30 %. Die angewandten Zölle der EU hingegen entsprechen bereits in fast allen Fällen den erlaubten Höchstwerten. Aus der Differenz zwischen praktizierten und erlaubten Zöllen (water in the tariff) resultiert handelspolitische Unsicherheit, deren Abschaffung durch das Abkommen in Studien nicht quantifiziert wird, aber in vergangenen Handelsliberalisierungen als quantitativ sehr erheblich geschätzt wurde (Handley und Limao, 2022). Daher sind die für die EU errechneten 15 Mrd. Euro Realeinkommensgewinn pro Jahr eher als Untergrenze anzusehen.

Die makroökonomischen Effekte stehen aber ohnehin nicht im Zentrum der Diskussion. Viel wichtiger sind drei Themen: Erstens werden verteilungspolitische Konsequenzen befürchtet. Bei Zucker, Ethanol, Rind- und Hühnerfleisch könnten die Importe in die EU stark steigen und heimische Produzenten in Bedrängnis bringen. Daher sind in diesen sensiblen Bereichen quantitative Beschränkungen verhandelt worden. Bei den wichtigen Sojabohnen ist nicht mit einem Importanstieg zu rechnen, weil die EU schon jetzt keine Zölle erhebt. Zweitens könnte das Abkommen aufgrund einer Ausdehnung der Agrarproduktion in den Mercosur-Staaten zu zusätzlicher Entwaldung führen. Das ist eine ernstzunehmende Problematik. Sie ist aber aufgrund der verbleibenden Beschränkungen im Agrarhandel mit der EU begrenzt. Das vorgeschlagene Instrument soll diese Sorgen adressieren. Drittens ist das wichtigste Argument für das Abkommen ein geopolitisches. Schon jetzt dominiert China den Außenhandel der Mercosur-Staaten und sichert sich wichtige Rohstoffe. Umweltschutz und Menschenrechte spielen dabei keine Rolle. Will Europa weiter mitreden, sollte es das Abkommen akzeptieren. Das gilt auch für Länder wie Österreich, die im Unterschied zu Spanien oder Portugal selbst wenig Kontakte nach Lateinamerika haben. Es wäre den Mercosur-Staaten kaum zu erklären, warum die gerade laufenden Modernisierungen der bestehenden Abkommen mit Chile oder Mexiko unproblematisch seien, ein Abkommen mit Brasilien aber nicht möglich sei.

Literatur

Handley, K. und N. Limao (2022), Trade Policy Uncertainty, Annual Review of Economics, 14, 363-395.

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© Der/die Autor:in 2023

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DOI: 10.2478/wd-2023-0143