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Die Länder der Welt bedürfen der Kooperation, um globale Probleme zu lösen. Zudem hat Deutschland als stark außenwirtschaftlich orientiertes Land ein besonderes Interesse an weltweiter Zusammenarbeit. Die weltweit akzeptierten Menschenrechte scheinen dafür eine gute Grundlage zu sein, doch bei genauerer Betrachtung ist der Bereich weltweit geteilter Werte viel kleiner. Vor allem liegt Deutschland mit seinen Wertvorstellungen nicht etwa im Schwerpunkt der Welt, sondern eher am Rand. Dies zieht sich durch zahlreiche einzelne Werte und zeigt sich folglich auch bei aggregierten Analysen. Die Zahl der echten Wertepartner außerhalb Europas ist klein.

Deutschland hat wie auch viele andere westliche Länder klare Vorstellungen davon, was die „richtigen“ Werte einer Gesellschaft heutzutage sind. Diese Werte ergeben sich aus der Tradition und Entwicklung westlicher Gesellschaften. Kodifiziert sind sie prominent in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN-Generalversammlung von 1948, deren Folgeverträge praktisch alle Staaten der Welt unterschrieben haben. Allerdings bedeutet die abstrakte Zustimmung zur Gültigkeit der Menschenrechte nicht, dass alle dieselben Werte des Zusammenlebens teilen. Solche Differenzen mögen manchmal nur dem Zynismus von Mächtigen geschuldet sein, doch auch jenseits dessen gibt es Differenzen, die in den Werten der jeweiligen Gesellschaften begründet sind. Die Spanne bei einigen dieser Werte ist beträchtlich. Dabei unterscheidet sich die deutsche „Positionierung“ oft deutlich von der Mehrheit in der Welt.

Um diese partiellen Übereinstimmungen und vor allem Unterschiede empirisch zu erfassen, werden die Daten der aktuellen siebten Welle des World Value Survey (WVS; genau genommen hier immer in Kombination mit dem European Value Survey) für 90 Länder genutzt. Diese Daten beruhen auf Befragungen repräsentativ ausgewählter Stichproben der erwachsenen Bevölkerung in den teilnehmenden Ländern. Die Daten zeigen also nicht die Positionen von Regierungen oder jeweiligen Institutionen, sondern die Überzeugungen der Menschen in den entsprechenden Ländern. Was ist diesen Menschen wichtig, worauf legen sie besonderen Wert? Das Spektrum an Werten ist groß, sodass eine Auswahl getroffen werden muss. Diese soll einen Eindruck davon vermitteln, wie die Menschen jeweils in kritischen Feldern denken. Es ist zu erwarten, dass eventuelle Differenzen dann Konsequenzen für das Zusammenleben in diesen Ländern und die Politik der jeweiligen Länder bewirken.

Werte des Zusammenlebens

Das Zusammenleben von Menschen findet, vereinfacht gesagt, auf einer engeren persönlichen und einer weiteren gesellschaftlichen Ebene statt. Auf der persönlichen Ebene gibt es weltweit große Übereinstimmungen darüber, was wichtig ist, insbesondere die Familie. Danach haben weltweit auch Freunde eine große Bedeutung sowie Arbeit und Freizeit. Die Unterschiede werden größer für die Bedeutung von Politik und sie gehen stark auseinander, was die Bedeutung von Religion anbetrifft (erst recht, wenn man Religionen differenzieren würde). Die Bedeutung dieser sechs Felder wird im WVS nacheinander abgefragt, in einer Skala von 1 für „sehr wichtig“ bis 4 „wenig wichtig“. Die Antworten sind in Tabelle 1 wiedergegeben.

Tabelle 1
„Die wichtigsten Dinge im Leben“
  Ø Welt Ø Deutschland Differenz
Familie 1,124 (0,381) 1,131 (0,383) 0,00687
Freunde 1,666 (0,705) 1,483 (0,574) -0,188***
Freizeit 1,751 (0,747) 1,686 (0,615) -0,0659***
Politik 2,645 (0,951) 2,216 (0,760) -0,439***
Arbeit 1,570 (0,784) 1,727 (0,821) 0,161***
Religion 2,180 (1,103) 2,764 (0,992) 0,598***
N 153.119 3.683  

Frage: „Wie wichtig sind dir die folgenden Dinge im Leben?“ Antwortmöglichkeiten von 1 (sehr wichtig) bis 4 (sehr unwichtig); angegeben sind Durchschnitte der Länder sowie Standardabweichungen in Klammern. * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001. Die Angaben der Welt beziehen sich auf 90 Länder, für die Daten der EVS und WVS vorliegen.

Quelle: European Values Study and World Values Survey: Joint EVS/WVS 2017-2022 Dataset.

Die erste Spalte zeigt den Mittelwert aller Antworten, in diesem Fall betrifft dies gut 153.000 Menschen aus 90 Ländern, d. h. im Durchschnitt über 1.500 pro Land, die alle gleich gewichtet werden. Insofern sind diese Antworten nicht repräsentativ für die Welt, sondern kleine Länder, wie viele europäische, sind übergewichtet, verglichen mit der Bevölkerung in China, den USA und anderen großen Ländern. Nach diesen Daten hat Familie die höchste Bedeutung unter den sechs Feldern, mit einem Durchschnitt von 1,12 und einer recht geringen Standardabweichung von 0,38. Den Gegenpol bildet die Bedeutung von Religion, die sehr uneinheitlich gesehen wird. In der zweiten Spalte stehen die Werte für Deutschland und die dritte Spalte zeigt das Testergebnis, ob die deutschen Wertvorstellungen signifikant unterschiedlich vom Weltdurchschnitt sind.

Man sieht, dass die Bedeutung dieser Werte in Deutschland häufig ganz ähnlich wie in der Welt ist, vor allem die sehr hohe Bedeutung von Familie. Dies gilt auch für Freunde, Freizeit und Arbeit, selbst wenn die Unterschiede statistisch signifikant sind. Aber in Deutschland wird Politik mit einem absoluten Abstand von rund 0,4 Punkten im Vergleich zum Weltdurchschnitt höher gewichtet, dagegen Religion mit einem Abstand von 0,6 geringer. Neben einem Bereich von Werten, die weltweit weitgehend geteilt werden, gibt es also auch erhebliche Unterschiede. Deshalb werden im Folgenden weitere Aussagen der Menschen zu vermutlich eher strittigen Wertvorstellungen abgebildet, wobei hier das Antwortspektrum, unabhängig von den verwendeten Antwortkategorien immer in 20 Gruppen mit gleichen Abständen unterteilt wird, um eine gewisse Vergleichbarkeit über die verschiedenen Kodierungen hinweg zu schaffen.

Beurteilung anderer Menschen

In Abbildung 1 werden Antworten auf vier Aussagen dargestellt, die alle etwas darüber aussagen, wie Menschen andere Menschen und deren Verhalten bewerten. In Abbildung 1A geht es um die Rolle von Frauen im Berufsleben, konkret: „Wenn Arbeitsplätze knapp sind, sollten Männer mehr Anspruch auf einen Arbeitsplatz haben als Frauen?“. Man erkennt an der Verteilung der Antworten, dass immerhin knapp die Hälfte der Befragten dies eher so sehen, und dass es erhebliche Zustimmung an den Rändern der Verteilung gibt. Der deutsche Mittelwert liegt dabei ziemlich am Rande der weltweiten Verteilung, d. h. die Deutschen stimmen klar nicht zu und befürworten damit gleiche Rechte auf einen Arbeitsplatz für Männer und Frauen.

Abbildung 1
Zur Bewertung anderer Menschen
Abbildung 1

Es wird jeweils der Durchschnittswert der 90 repräsentativen Länder der Value Survey visualisiert.

Quelle: European Values Study and World Values Survey: Joint EVS/WVS 2017-2022 Dataset, Items c001_01, f120, f118 und a124_02.

Bei der Frage „Wann kann Abtreibung gerechtfertigt werden?“, antworten die meisten Menschen ablehnend, viele lehnen eine Rechtfertigung nahezu vollkommen ab (vgl. Abbildung 1B). Wieder unterscheidet sich Deutschland davon, indem die Antworten recht genau in der Mitte der möglichen Antworten liegen, also zwischen „niemals“ und „immer“ rechtfertigen. Noch kontroverser sind die Antworten auf Weltebene auf die Frage „Wann kann Homosexualität gerechtfertigt werden?“. Die Mehrheit der Antwortenden lehnt eine Rechtfertigung deutlich ab (vgl. Abbildung 1C). Die Menschen in Deutschland dagegen tendieren klar dazu, Homosexualität fast immer zu rechtfertigen. Deutlich homogener in der Welt ist die Ablehnung von Rassismus anhand der Frage „Hättest Du ein Problem, Nachbarn einer anderen Herkunft zu haben?“. Fast alle Menschen antworten eher nie, in Deutschland ist diese Haltung besonders ausgeprägt (vgl. Abbildung 1D).

Beurteilung von Demokratie und Toleranz

In Abbildung 2 werden Antworten auf vier Aussagen abgebildet, die für eine Demokratie von Bedeutung sind. Abbildung 2A fragt direkt „Wie findest Du ein demokratisches politisches System?“. Die Antworten darauf sind aus Sicht einer Demokratie ermutigend, weil fast alle Menschen dieses gut oder sehr gut finden.

Abbildung 2
Bewertungen zur Gesellschaft

 

Abbildung 2

Es wird jeweils der Durchschnittswert der 90 repräsentativen Länder der Value Survey visualisiert.

Quelle: European Values Study and World Values Survey: Joint EVS/WVS 2017-2022 Dataset, Items e117, e114, a165 und a035.

Diese Gemeinsamkeit relativiert sich allerdings erheblich, wenn so etwas wie die Gegenfrage gestellt wird: „Wie findest Du eine starke Führungspersönlichkeit, die sich weder um Parlament noch Wahlen kümmern muss?“. Die Verteilung der Antworten dazu zeigt, dass die meisten Menschen auf der Welt dies zwar ablehnen, aber überraschend viele stimmen auch zu, gegeben, dass eigentlich alle eine Demokratie als politisches System gut finden (vgl. Abbildung 2B). Aus einer deutschen, westlichen Perspektive heraus, scheinen diese Antworten zu einem großen Teil nicht zusammenzupassen oder, anders gewendet, scheinen viele Menschen Demokratie anders zu interpretieren als es in Deutschland selbstverständlich sein mag.

Als letztes werden Ergebnisse zu Vertrauen und Toleranz betrachtet, die ein demokratisches Zusammenleben erleichtern. In Abbildung 2C werden die Antworten auf die Frage „Würdest du sagen, dass den meisten Menschen vertraut werden kann?“ wiedergegeben. Zwischen den Extremen „nein“ und „ja“ ist Deutschland in der Mitte positioniert, aber es wird zugleich deutlich, dass die meisten Menschen in der Welt viel weniger Vertrauen zeigen. Insgesamt positiver – aus demokratischer Perspektive – fallen die Antworten zu Toleranz aus, erfragt als: „Sollten Toleranz und Respekt gegenüber anderen Menschen von Kindesalter an erlernt werden?“. Fast alle Menschen halten dies auf einer Skala zwischen „nicht genannt“ und „wichtig“ für eher wichtig, besonders auch in Deutschland.

Aggregation von einzelnen Werten

In der Summe wird aus den Antwortverteilungen, wie sie in den Abbildungen 1 und 2 wiedergegeben werden, klar, dass die Wertevorstellungen in der Welt offensichtlich heterogen sind und Deutschland in der Welt nicht „mittig“, sondern eher am Rand platziert ist. Um im nächsten Schritt von der Analyse einzelner Fragen und zugehöriger Antworten zu einer aggregierten Analyse zu kommen, die gesamthaft die Werte in Ländern vergleichend abbildet, ist eine Aggregation über die einzelnen Werte notwendig. Schließlich decken die berichteten Werte vielfältige Bereiche ab und Übereinstimmungen zwischen Ländern können bei einzelnen Werten größer oder kleiner sein. Man muss also für Vergleiche zwischen Ländern zum einen bestimmte Werte auswählen und zum anderen zusätzlich die Ausprägungen dieser Werte aggregieren. Für dieses Vorgehen gibt es keine allseits akzeptierte Blaupause.

Im Folgenden werden dazu zwei Vorschläge gemacht und umgesetzt. Beim ersten Vorschlag werden die jeweiligen Werte aus den acht gezeigten Kategorien pro Land aggregiert. Die Ordnung der Kategorien entspricht derjenigen der Abbildungen, sodass Deutschland immer ein recht hoher Wert zugeordnet wird. Weitere Umformungen werden bewusst nicht vorgenommen. Damit ergibt sich ein eindimensionales Maß von Wertevorstellungen zwischen Ländern, bei denen Libyen die niedrigste Ausprägung aufweist und Schweden die höchste. Nach diesem Maß weist Deutschland einen hohen Wert auf, und liegt bei den oberen 15 % der Länder, sodass gut 85 % der Länder einen geringeren Wert haben, der sich meist sehr deutlich vom deutschen Wert unterscheidet.

Aggregation von Inglehart und Welzel

Der zweite Vorschlag übernimmt den Ansatz von Inglehart und Welzel (2005), der ebenfalls als Basisinformation den World Value Survey nutzt und ein aggregiertes Maß für kulturelle oder, damit verbunden, Werteunterschiede sucht. Diese Autoren schlagen auf Grundlage der langfristig verfügbaren Informationen im World Value Survey zwei Dimensionen vor, die sie als aussagekräftig erachten, um Kulturen zu charakterisieren. Das sind zum einen „traditionelle vs. säkular-rationale Werte“ und zum anderen „Überleben vs. Selbstverwirklichung“ als Werte. Für beide Dimensionen verwenden die Autoren jeweils fünf Fragebogenitems und bilden aus den Antworten zwei Faktoren. Die Ergebnisse für diese beiden Faktoren lassen sich grafisch in einem zweidimensionalen Schaubild abtragen: Abbildung 3 zeigt dies für die erfassten 90 Länder in der jüngsten Welle von 2017 bis 2022. Grafisch gesprochen liegen links unten Länder bei denen Tradition und Überleben die Werte dominieren und rechts oben stehen Länder, die durch säkulare Rationalität und Selbstverwirklichung geprägt sind.

Abbildung 3
Verteilung der „traditionellen vs. säkular-rationalen“ und „Überlebens- vs. Selbstverwirklichungswerte“
Abbildung 3

Quelle: Inglehart und Welzel (2005).

Da die Ausprägungen beider Dimensionen tendenziell positiv korrelieren, also Deutschland z. B. stark durch sowohl säkulare Rationalität als auch Selbstverwirklichung geprägt ist, nehmen wir hier eine weitere Vereinfachung vor und addieren die Werte beider Dimensionen für jedes Land. Damit ergibt sich eine eindimensionale Werteskala, hier als „Werte­index“ bezeichnet, die die empirische Arbeit erleichtert (im Vergleich zu einer zweidimensionalen Skala). Den geringsten Wert mit -3,09 weist Ägypten auf, den höchsten Schweden mit 4,29 und Deutschland liegt mit 3,11 in den oberen 10 %. „Oben“ steht hier, um dies nochmals zu betonen, nicht für „gut“ oder „richtig“, sondern es geht um die Ähnlichkeit von Werten, nicht um eine Bewertung von Werten.

Für die weitere Analyse wird dieser „Werteindex“, ein vereinfachtes Maß basierend auf Inglehart und Welzel, verwendet. Der Hauptgrund ist, dass er in der Literatur zu einem gewissen Grad etabliert ist und seine Konstruktion für den Zweck des Kulturvergleichs erfolgt ist. Für den vorliegenden Beitrag genügt der Hinweis, dass der zuerst vorgestellte Vorschlag zur Aggregation der Antworten zu acht verschiedenen Wertvorstellungen (aus den Abbildungen 1 und 2) mit dem nun verwendeten Vorschlag hoch korreliert ist (Spearman Korrelationskoeffizient von 0,63, p-Wert 0,00). Insofern sind die Abbildungen 1 und 2 zwar zu einem gewissen Grad willkürlich gewählt, aber sie geben die deutsche Situation durchaus zutreffend wieder. Ferner ist dies zugleich ein Hinweis darauf, dass das Gesamtbild nicht von der genauen Auswahl von Wertvorstellungen oder der Konstruktion des Index abhängt, auch wenn es dazu eine berechtigte, vielstimmige Diskussion gibt.

Wer sind Deutschlands „Wertepartner“?

Für die Wirtschaftspolitik ist nun interessant zu sehen, welche Länder ähnliche Wertvorstellungen wie Deutschland haben. Um diese Analyse zu strukturieren, werden im Folgenden vier Ländergruppen (1 bis 4) gebildet, die mehr oder weniger ähnlich zu Deutschland sind. Im ersten Schritt werden diejenigen Länder erfasst, die in der zweidimensionalen Analyse von Inglehart und Welzel (2005) zu den „protestantischen“ Ländern gerechnet werden, das sind die skandinavischen Länder, die Niederlande, Neuseeland und Deutschland, wobei Deutschland, das Land mit dem niedrigsten Wert dieser Gruppe in der hier verwendeten eindimensionalen Werteskala ist (bei Inglehart und Welzel ist es ebenfalls grafisch ablesbar ein Grenzfall). Da der deutsche Wert bei 3,11 liegt, ist dies zugleich der Grenzwert dieser Gruppe. Tabelle 2 nennt alle Länder aus dieser Gruppe (1) und die größten Länder der anderen Gruppen (2) bis (4).

Tabelle 2
Ländergruppen nach dem Werteindex
(1): WI ≥ 3,11 (2): WI ≥ 0,02 (3): WI ≥ -1,16 (4): WI ≥ -3,09
Schweden, Norwegen, Dänemark, Island, Neuseeland, Finnland, Niederlande, Deutschland (1) + Schweiz, Kanada, Australien, England, Österreich, Frankreich, Spanien, USA, Italien, China, Polen, Portugal (2) + Ukraine, Argentinien, Russland, Südafrika, Brasilien, Mexiko, Türkei, Rumänien (3) + Kenia, Kolumbien,Iran, Peru, Saudi-Arabien, Pakistan, Tunesien, Indonesien, Irak, Nigeria, Qatar, Ägypten

Die Länder sind nach dem Werteindex 2017 bis 2022 der Größe absteigend sortiert, in Gruppen (2) bis (4) werden jeweils nur die größten Länder aufgeführt.

Quelle: European Values Study and World Values Survey: Joint EVS/WVS 2017-2022 Dataset.

Die Gruppe (2) enthält diejenigen Länder, deren Werteindex wenigstens so groß ist, wie derjenige des „schwächsten“ EU-Landes vor der Osterweiterung, das ist Griechenland mit 0,02. In dieser Gruppe liegen neben den „typischen“ westlichen Industrieländern, wie den europäischen, den USA oder Australien, und praktisch allen EU-Ländern auch ostasiatische Länder, wie Japan oder China, die kulturell als konfuzianisch geprägt gelten und insofern hohe säkular-rationale Werte aufweisen. Gruppe (3) umfasst alle Länder mit einem Wert wenigstens so hoch wie derjenige des „schwächsten“ EU-Landes, das ist Rumänien mit einem Wert von -1,16. Allerdings liegen in dieser Gruppe (3) nur zwei EU-Länder, Zypern und eben Rumänien, die insofern „Ausreißer“ darstellen (während Bulgarien, Ungarn und andere zu Gruppe 2 rechnen). In Gruppe (3) fallen auch viele große Schwellenländer, wie Brasilien, Mexiko oder die Türkei. Gruppe (4) schließlich umfasst die restlichen Länder, darunter die meisten afrikanischen und arabischen Länder, aber auch Indonesien, Pakistan, Iran oder Peru. Eine grafische Übersicht zur Verteilung dieser vier Gruppen auf der Welt bietet Abbildung 4.

Abbildung 4
Verteilung der Werteindizes weltweit
Summe des Survival und Traditional Index nach Land
Abbildung 4

Quelle: European Values Study and World Values Survey: Joint EVS/WVS 2017-2022 Dataset.

Wenn Wertepartner den Austausch begrenzen

Die Ähnlichkeit bei Werten kann wirtschaftspolitische Entscheidungen in zweierlei Hinsicht beeinflussen. Zum einen dürfte der Umgang mit Ländern, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Deutschland aufweisen einfacher sein, z. B. was den Umgang mit unverhofft auftretenden Problemen bei Verträgen anbelangt, die häufig unvollständig sind. Zum anderen mag die Politik bewusst Länder – z. B. im Ausbau des Außenhandels – bevorzugen, die eine höhere Ähnlichkeit aufweisen, weil man bei vielen anderen Ländern größere Unterschiede sieht, die man als Defizite verstehen kann. Sofern man eine solche Position einnimmt, also Länder mit ähnlichen Werten bevorzugt, definiert dies einen Kreis an Ländern, denen man sich enger verbunden fühlt und die man eventuell als „Wertepartner“ bezeichnen kann.

Im Weltmaßstab reichen dafür die wenigen Länder aus der kleinen Gruppe (1) nicht wirklich aus. Deutlich relevanter wird die Gruppe der Wertepartner, wenn man Gruppe (2) hinzunimmt. Dies sind dann also alle Länder, die ähnlich zur gesamten Spannbreite der EU-Länder sind (von den beiden genannten Ausreißern abgesehen). Da hierzu auch große asiatische Länder, wie Japan und vor allem China, zähle, deckt diese Länderdefinition (also Gruppe 1 plus 2) die gute Hälfte der hier erfassten Länder und etwa die Hälfte der erfassten Weltbevölkerung ab (wobei wiederum mehr als die Hälfte davon allein auf China entfällt). Bezogen auf wirtschaftliche Größen wie das Bruttoinlandsprodukt und die Bedeutung im Außenhandel (erfasst als deren Importe aus Deutschland) betragen die Anteile jedoch nur noch 17 % und 11 % wie Tabelle 3 zeigt.

Tabelle 3
Ausgeschlossener Teil der Welt nach Höhe des Werteindex
Dimension Welt (1): WI ≥ 3,11 (2): WI ≥ 0,02 (3): WI ≥ -1,16
Länderzahl 88 81 48 28
Bevölkerung 5.150 Mrd. 99 % 49 % 33 %
BIP 75,1 Bn. US-$ 96 % 17 % 7 %
Importe aus Deutschland 1,49 Bn. US-$ 86 % 11 % 2 %

WVS und EVS sind für 90 Länder verfügbar von 2017 bis 2022. Indikatoren sind aus 2021. BIP in derzeitigen US-Dollar. Ausgeschlossen von der Stichprobe wurde Nordirland und Deutschland. Außenhandelsdaten nicht verfügbar für Puerto Rico und Bolivien 2021, BIP nicht verfügbar für Venezuela.

Quellen: World Bank, World Development Indicators, 2021; Statistisches Bundesamt (Destatis) Außenhandel Deutschland, 2021.

Das Bild ändert sich ein wenig, wenn man die Wirkung der Auswahl der im WVS erfassten Länder abschätzt. Schließlich fehlt hier rund die Hälfte aller Länder auf der Welt und rund 3 Mrd. von 8 Mrd. Menschen. Die nicht erfassten Länder sind fast durchgängig ärmere Entwicklungsländer, vor allem aus Afrika, aber auch Indien, sodass man davon ausgehen kann, dass diese Länder weitgehend nicht zur Gruppe (1 und 2) der Wertepartner zählen werden. Klassifiziert man sie entsprechend, so erfassen die Wertepartner ein Viertel der Länder, ein knappes Drittel der Weltbevölkerung, rund drei Viertel des Welt-BIP und über 80 % des deutschen Außenhandels. Zusammen ist dies eine große Gruppe in der Welt, ökonomisch dominierend, aber auf die Menschen oder Zahl der Staaten bezogen eine klare Minderheit. Und dies, obwohl die Grenze der Wertepartner – aus einer deutschen Perspektive – bereits recht großzügig gezogen wurde und viele Länder in vielen Punkten Werte sehr anders verstehen als die Menschen in Deutschland.

Sind Wertepartner zugleich Demokratien?

Ferner rechnet ein Land wie China zu den „Wertepartnern“ in der getroffenen Abgrenzung, was man anders sehen mag. Der Grund liegt in dem weiten Spektrum an Wertvorstellungen begründet, das auch das Thema politisches System berührt, aber eben nicht davon dominiert wird. Ferner geht es beim Werteindex um Einstellungen der Menschen und nicht die der Politiker:innen. Trotz dieser Einschränkungen ist der gewählte Werteindex positiv mit einem breiten Demokratieindex, den die Weltbank ermittelt, korreliert (Menkhoff, 2022). Abbildung 5 zeigt diesen Zusammenhang für die erfassten Länder, der Spearman-Korrelationskoeffizient beträgt 0,78 und ist statistisch hoch signifikant.

Abbildung 5
Beziehung zwischen Werte- und Demokratieindex
Abbildung 5

Quellen: Inglehart und Welzel (2005); World Bank, World Development Indicators, 2021.

Abgesehen von den Top-10-Demokratien, gemäß Weltbank-Index, die alle auch einen sehr hohen Werteindex aufweisen, ist der Zusammenhang allerdings nicht ganz eng. So gibt es z. B. mehrere Länder mit einem Werteindex von etwa Null, deren Wert im Demokratieindex fast die gesamte Bandbreite einnehmen kann: er kann bei -1,5 liegen oder im anderen Extrem auch bei 1,2.

Strategie auf Wertepartner abstellen?

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Menschen auf der Welt sicher einige Werte miteinander teilen, wie die hohe Bedeutung der Familie, aber viele Werte doch eine sehr unterschiedliche Stellung haben. Manchmal scheinen Vorstellungen auch ähnlich zu sein, wie die geäußerte Wertschätzung für Demokratie (oder Menschenrechte), doch offensichtlich verbinden die Menschen damit oft etwas anderes als man es sich in Deutschland vorstellt, wie z. B. starke Führungspersönlichkeiten, die nicht durch Parlamente eingeschränkt werden. Sicher kann man auch andere Werte als in diesem Beitrag heranziehen und man kann sie anders aggregieren, das Ergebnis wird aber vermutlich jedes Mal qualitativ ähnlich ausfallen: Viele Werte, wie sie die Menschen in Deutschland schätzen und wie sie von der deutschen Politik vertreten werden, haben auf der Welt keine Mehrheit.

Gleichzeitig liegt es aber im deutschen Interesse, gleichgültig ob man an die außenwirtschaftlichen Interessen denkt oder an die Sicherung globaler Güter (die breite internationale Kooperation erfordert) denkt, mit den weitaus meisten Ländern Übereinkommen zu finden, trotz aller Konkurrenz (Görg und Kamin, 2021). Solche Übereinkommen werden im Allgemeinen nicht auf dem Maßstab geteilter Werte basieren können. Wertepartnerschaften sind entweder eine ziemlich inhaltsleere Kategorie oder sie sind im internationalen Rahmen, gerade außerhalb Europas, rar. Die (Wirtschafts-)Politik muss sich also in diesem Sinn in einer „fremden“ Welt bewegen und vielleicht ist es ein Stück weit hilfreich zu akzeptieren, dass Menschen in anderen Ländern gegenwärtig meist andere Vorstellungen von einer guten Gesellschaft haben als die in Deutschland. Sicher wäre es aus deutscher Sicht harmonischer und einfacher, wenn alle so „bewerten“ würden wie Deutschland, aber genau dies werden die Menschen in anderen Ländern auch aus ihrer Perspektive denken.

Der Verfasser dankt Annika Westen für wertvolle Unterstützung.

Literatur

Görg, H. und K. Kamin (2021), Globalisierung trifft Geoökonomie, Wirtschaftsdienst, 101(11), 854-857, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2021/heft/11/beitrag/globalisierung-trifft-geooekonomie.html (24. Juli 2023).

Inglehart, R. und C. Welzel (2005), Modernization, Cultural Change and Democracy: The Human Development Sequence, Cambridge University Press.

Menkhoff, L. (2022), Kleine Welt: Wenn Deutschland nur mit Demokratien handelt, Wirtschaftsdienst, 102(7), 523-528, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2022/heft/7/beitrag/kleine-welt-wenn-deutschland-nur-mit-demokratien-handelt.html (24. Juli 2023).

Weltbank (2021), World Development Indicators.

World Value Survey (2022), European Values Study and World Values Survey: Joint EVS/WVS 2017-2022 Dataset (Joint EVS/WVS). JD Systems Institute & WVSA. Dataset Version 4.0.0.

Title:Strange World: Only a Minority Shares Germany’s “Values”

Abstract:Countries in the world need cooperation to solve global problems, and Germany with its strongly outward-oriented economy has a particular interest in world-wide cooperation. The generally accepted human rights seem to provide a solid ground for this, but at a closer look, the area of generally shared values is much smaller. In particular, Germany with its moral concepts is not representative of the world. This applies to several values and consequently can also be seen in aggregated analyses. The number of partners sharing the same values is rare beyond Europe.

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© Der/die Autor:in 2023

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2023-0154