Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Dieser Beitrag ist Teil von Familienpolitik – Quo vadis?

Die Debatten um den Haushaltsentwurf 2023/2024 der Bundesregierung machten vor dem Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ, 2023) nicht halt. Auch hier sollte gespart werden. Zunächst wurden für die Kindergrundsicherung 2 Mrd. Euro als „Platzhalter“ in den Haushalt eingestellt – entgegen einer vielfach höheren Kostenschätzung der zuständigen Bundesministerin Lisa Paus. Sodann forderte Finanzminister Christian Lindner eine Kostensenkung beim Elterngeld. Statt der von ihm zunächst angedachten prozentualen Kürzung der Leistungen für alle, entschied sich die Familienministerin für eine Kappung des Elterngelds für Höchstverdiener:innen.

Der Aufschrei war groß. Übergreifend stellte sich die Frage, warum man überhaupt an familienpolitischen Leistungen spart, hatte man Familien doch während der Pandemie so viel zugemutet. Wo bleiben Anerkennung, Dankbarkeit und Respekt? Schnell ging es auch um Verteilungsfragen und falsche Anreize: Warum sollten Eltern, die zu den oberen 5 % der Einkommensverteilung gehören, vom Staat mit Steuermitteln unterstützt werden? Haben diese Eltern nicht genug Geld, um ihre Auszeiten selbst abdecken zu können? Ähnlich bei der Kindergrundsicherung: Werden Eltern nicht zu Sozialschmarotzern, träge und arbeitsscheu, wenn sie ausreichend Geld für ihre Kinder bekommen? Reden wir gar über ein riesiges Subventionsprogramm für Familien mit Zuwanderungsgeschichte? Umgekehrt: Warum sollte eine Lohnersatzleistung, die Eltern dezidiert Zeit mit ihren Kindern ermöglichen soll, nicht allen Eltern zugutekommen? Warum sollten Kinder keine ausreichenden Leistungen erhalten, nur weil ihren Eltern Faulheit unterstellt wird? Wobei, das sei entschieden angemerkt, jede empirische Evidenz fehlt, dass eine bessere Absicherung der Kinder zu Mitnahmeeffekten bei ihren Eltern führt.

All diese Fragen hätten eine überaus fruchtbare Debatte über die Systematik familienpolitischer Leistungen insgesamt anstoßen können. Dies aber geschah nicht. Getöse schlägt evidenzbasierte Politik. Irritierend war und ist auch das Stakkato der Gegenvorschläge, der Wettbewerb um Ideen, wo man überall sparen könnte. Ehegattensplitting, Kindergrundsicherung, Hinterbliebenenrente und kostenfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse kamen auf den Tisch. Für die betroffenen Familien ein Feilschen, ja purer Hohn. Im Dunkeln blieben indes die Ziele einer inklusiven Familienpolitik, insbesondere in ihrer Verzahnung mit der Bildungs-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Der vorliegende Beitrag versucht diese Lücke zu schließen.

Aktuelle Herausforderungen der Familienpolitik

Die Familienpolitik hat viele Aufgaben und viele Baustellen. Wir konzentrieren uns auf Politiken für Kinder und Eltern, insbesondere unter dem Mandat der Teilhabe, der Chancengerechtigkeit und der Gleichstellung. Die grundgesetzliche Ausgangslage ist eindeutig: Alle Menschen in Deutschland, Junge wie Alte, Frauen wie Männer, Gesunde wie Kranke, Personen mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte sollen an unserer Gesellschaft teilhaben können – finanziell, kulturell, diskriminierungsfrei.

Teilhabe von Kindern

Für die Teilhabe von Kindern stehen familienpolitische Regelungen wie z.B. das Kindergeld, der Kinderfreibetrag, der Kinderzuschlag, Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets sowie Leistungen nach Sozialgesetzbuch II und XII zur Verfügung. Hinzu kommen die Infrastruktur für Kinder, Kitas, Vorschulen und Ganztagsschulen sowie, in einigen Bundesländern, eine zielgenaue Unterstützung von Schulen in Gebieten mit hohem Bürgergeldbezug.

Diese Maßnahmen erzielen bislang nicht die gewünschten Ergebnisse. Wie Abbildung 1 zeigt, ist die Armutsgefährdung von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren mit fast 21 % (das entspricht etwa 3 Mio. Kindern) höher als in anderen Altersgruppen, mit Ausnahme der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren mit fast 26 %.

Abbildung 1
Armutsgefährdungsquoten¹ in Deutschland insgesamt und nach Altersgruppen, 2021
Armutsgefährdungsquoten in Deutschland insgesamt und nach Altersgruppen, 2021

¹ Gemessen am Bundesmedian.

Quelle: Funcke und Menne (2023).

Die nötigen Infrastrukturen für Kinder sind ebenfalls nicht gegeben. Zwar wurde 1996 der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab 3 Jahren bis zum Schuleintritt eingeführt und 2013 auf einen Rechtsanspruch ab dem 1. Lebensjahr ausgeweitet. Und seitdem sind die Betreuungsquoten stark gestiegen. Tatsächlich fehlt es jedoch vielerorts an Betreuungsplätzen, Kita- und auch Schulpersonal. Viele Kinder, deren Eltern eine Betreuung wünschen, können ihren Rechtsanspruch nicht einlösen. Bei den unter 3-Jährigen liegen zwischen der Betreuungsquote und dem Bedarf fast 14 Prozentpunkte, bei den 1-Jährigen 26 Prozentpunkte, bei den 2-Jährigen knapp 15 Prozentpunkte (BMFSFJ, 2023). Viele Kinder und deren Eltern sind zudem damit konfrontiert, dass Betreuungszeiten gekürzt oder die Einrichtungen geschlossen werden, weil das Personal fehlt. Nach einer Erhebung der Hans-Böckler-Stiftung waren im Jahr 2023 davon 57 % der erwerbstätigen Eltern betroffen. Ein Drittel der Eltern, und hier ganz überwiegend die Mütter, hat daher die eigenen Erwerbszeiten reduziert (Kohlrausch et al., 2023).

Die Bildungsarmut von Kindern ist erdrückend hoch. Im Jahr 2021 haben 47.500 junge Menschen die Schulzeit ohne Hauptschulabschluss beendet, das ist ein Anteil von mehr als 6 % aller gleichaltrigen Jugendlichen (Klemm, 2023). Bei fast 22 % der Viertklässler:innen liegen die Kompetenzwerte in Mathematik unterhalb dessen, was man als Minimum bezeichnet. In anderen Fächern ist es nicht besser (Stanat et al., 2022). Ganz überwiegend kommen bildungsarme Kinder aus sozioökonomisch prekären Lagen und aus Familien, in denen Deutsch nicht die Familiensprache ist. Die Armut der Eltern ist die Armut der Kinder. Dies zeigt sich auch im Zugang zum Studium: 27 von 100 Nichtakademikerkindern beginnen ein Studium, bei Akademikerkindern sind es 78 von 100 (Stifterverband, 2021). Aus vielen Studien wissen wir, dass bildungsarme Kinder und Jugendliche häufig schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, eine niedrigere Lebenserwartung, ein geringeres Vertrauen in politische Institutionen und demokratische Entscheidungsprozesse haben als besser Gebildete und auch psychisch weit weniger den vielen Herausforderungen unserer Zeit trotzen können.

Gleichstellung von Frauen und Männern

Trotz aller Fortschritte liegt auch die Gleichstellung von Frauen und Männern noch in weiter Ferne. Die Erwerbstätigenquote von Frauen hat sich zwar jener von Männern angenähert, Frauen arbeiten aber weiterhin häufiger in Teilzeit und sind häufiger geringfügig beschäftigt. Auch die horizontale Geschlechtersegregation nach Berufen und die vertikalen Trennlinien nach erreichter Position sind noch markant.

Entsprechend bleibt es bei der im Vergleich zu Männern niedrigeren Bezahlung von Frauen pro Arbeitsstunde, einem geringeren Jahreseinkommen und, davon abgeleitet, einer wesentlich kleineren Altersrente. Eine 1985 geborene Frau in Westdeutschland mit Kindern verdient im Laufe ihres Lebens ca. 1 Mio. Euro weniger als ein Mann aus der gleichen Alterskohorte (Barišić und Consiglio, 2020). Die Alterseinkünfte von Frauen liegen 2021 fast ein Drittel unter denen von Männern, jede fünfte Frau ab 65 Jahren war zudem armutsgefährdet, bei den Männern waren es 17,5 % (Destatis, 2023a).

Auch im familialen Bereich sind die Arbeiten ungleich verteilt. Frauen und Mütter leisten deutlich mehr Familien- und Sorgearbeit, der Gender Care Gap ist immens. Dies zeigt sich auch bei der Elternzeit. 2019 nahmen rund 98 % der Mütter Elternzeit, bei den Vätern waren es nur 44 %. Mütter gingen im Schnitt 13,5 Monate in Elternzeit, Väter nur 1,45 Monate.1 Zudem tragen Frauen den Großteil der täglichen, meist unsichtbaren Planungs- und Organisationsarbeit in Familien. Dies belegen aktuelle Umfragen, wie die Vermächtnisstudie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, infas – Institut für angewandte Sozialwissenschaft und der Wochenzeitung Die Zeit sowie die Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung (vgl. Abbildung 2). Auch zeigt sich, dass sich die mentale Last bei Männern mit und ohne Kinder nicht unterscheidet. Bei Müttern liegt sie dagegen wesentlich höher als bei Frauen ohne Kinder (74 % zu 56 %) (Lott und Bünger, 2023).

Abbildung 2
Alltagsorganisation bei Paaren und Familien (Mental Load)

Wahrscheinlichkeit, überwiegenden Anteil zu leisten

Alltagsorganisation bei Paaren und Familien (Mental Load)

Quelle: WSI Report, Nr. 87, (2023).

Auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Familienpolitik

Um den familienpolitisch zentralen Themen soziale Teilhabe und Gleichstellung gerecht zu werden, bedarf es einer systematisch ansetzenden, konsistenten und zukunftsfähigen Kinder-, Familien- und Elternpolitik. Eine solche Politik müsste diesen fünf Leitsätzen folgen:

  1. dem grundgesetzlich festgeschriebenen Schutz von Ehe und Familie,
  2. dem grundgesetzlich festgeschriebenen Recht auf Teilhabe,
  3. der grundgesetzlich festgeschriebenen Gleichstellung von Frauen und Männern,
  4. der Verringerung sozialer Ungleichheit,
  5. der Gleichstellung von bezahlter und unbezahlter Arbeit mit finanziell abgesicherter Zeit für die Erziehung von Kindern, die Pflege von Älteren und das Ehrenamt.

Die Gestaltung und Umsetzung dieser Ziele muss als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe begriffen werden. Familienpolitik ist stets auch Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Deren Grundsätze und Strategien müssen verständlich und für alle Bürger:innen zugänglich kommuniziert werden. Nur so ist das Vertrauen der Menschen in die Politik zu stärken. Hierzu gehören bei einem Politikwechsel auch ausreichende Übergangszeiten, damit sich die Bürger:innen hinlänglich auf die neuen Regelungen einstellen können. Im Folgenden skizzieren wir Elemente einer solchen modernen und zukunftsfähigen politischen Programmatik.

Soziale Teilhabe

Kinder haben nach Artikel 1 unseres Grundgesetzes das Recht, würdig am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ein würdiges Leben meint ein Leben ohne Armut und mit einer ausreichenden Bildung. Teilhabe wiederum setzt ein Minimum an sozioökomischen Ressourcen voraus, einen festen Sockel also, der wie der Mindestlohn regelmäßig überprüft und angepasst werden muss. Teilhabe schließt aber auch die Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung ein. Hier geht es nicht um ein Minimum, sondern um einen prozentualen Anteil an vorhandenen Ressourcen, der Menschen zugesprochen werden sollte. Erhöht sich der Wohlstand der Bevölkerung, so sollen alle davon profitieren. Vermindert er sich, so wird das ebenfalls von allen getragen. Das gängige Maß hierfür ist die Armutsgefährdungsquote, definiert als 60 % des Medians aller Einkommen der Bevölkerung. Nach dieser Definition wird es also immer armutsgefährdete Menschen geben. Keine Gruppe sollte aber überdurchschnittlich betroffen sein. Wie wir gesehen haben, sind Kinder deutlich stärker armutsgefährdet als andere Altersgruppen (vgl. Abbildung 1).

Neben der im aktuellen Koalitionsvertrag festgeschriebenen Neubestimmung des soziokulturellen Existenzminimums für Kinder braucht es daher zwingend Maßnahmen, die Kindern helfen, den Bereich der Armutsgefährdung zu verlassen. Diese Leistungen müssen universell für alle Kinder gelten, also unabhängig vom Elternhaus sein. Das Kindergeld und die Infrastruktur für Kitas, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsstätten sind solche universellen Leistungen. Gerade bei der Infrastruktur für Kinder gibt es aber enormen Handlungsbedarf. Zudem braucht es partikulare zielgerichtete Hilfen für Kinder in prekären Lagen wie den Kinderzuschlag, das Bildungs- und Teilhabepaket sowie Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch in ausreichender Höhe. Diese Leistungen sind in der angedachten Kindergrundsicherung zusammenzufassen. Ziel ist es, administrative Hürden abzubauen und die Leistungen aus einer Hand auszuzahlen. Der Staat muss auf die Eltern zukommen, die Bringschuld des Staates muss also die Holschuld der Familien ablösen.

All das wird jedoch nicht ausreichen. Die Kindergrundsicherung ist zwingend mit zielgerichteten, partikularen Anstrengungen der Bildungspolitik zu ergänzen. Kinder haben unterschiedliche familiäre Ausgangslagen, auf die das Schulsystem eingehen muss. Kitas und Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern, die Lernmittel befreit sind und/oder deren Familiensprache nicht Deutsch ist, brauchen eine bessere Personaldecke, multiprofessionelle Teams, teilweise auch ein Curriculum, das auf ihre Herkunftslage ausgerichtet ist. Das in Planung befindliche Startchancenprogramm ist hier ein erster Schritt, muss aber finanziell deutlich aufgestockt werden. Es muss auch Kitas umfassen und einen Verteilungsschlüssel enthalten, der anteilig mehr Ressourcen für den Unterricht bereitstellt. Das alles geht nur durch eine engere Verzahnung von Bund und Land und ein stärkeres Miteinander der Länder. Den Bildungsnotstand der Kinder zu bekämpfen muss wichtiger sein als die Lage der Schule in einem Bundesland oder einer Kommune. Politik und Gesellschaft sind dafür verantwortlich, die (Bildungs-)Armut der Kinder zu reduzieren und ihre Lebenschancen von den Ressourcen der Eltern zu entkoppeln.

Geschlechtergerechtigkeit

Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung (Art. 6 Abs. 1 GG). Die Eheleute sind gesetzlich zur gegenseitigen Unterhaltszahlung verpflichtet. Hierauf berufen sich Regelungen wie das Ehegattensplitting, die abgeleitete Rente oder die kostenlose Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Lange Zeit war dies überaus passend und plausibel. Bis weit in die 1980er Jahre galt eine „funktionale“ Aufteilung aller notwendigen Tätigkeiten zwischen den Eheleuten als Ideal. Marktferne Tätigkeiten wie die Erziehung von Kindern, die Pflege Älterer und das Ehrenamt wurden einer Person übertragen, meist der Frau, alle marktförmigen Tätigkeiten, also die Erwerbsarbeit, der anderen Person, dem Mann.

Mit den hohen Bildungsgewinnen von Frauen, ihrem Wunsch nach einem Stück „eigenes Leben“ und finanzieller Unabhängigkeit änderte sich diese Zuschreibung einseitig und schleichend. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen stieg kontinuierlich, die Beteiligung von Männern an nicht-marktförmigen Tätigkeiten dagegen nicht. Zügig wurden Indikatoren entwickelt, die die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen im Arbeitsmarkt messen und dabei zumindest implizit davon ausgehen, dass sich die Ungleichheit dann verringert, wenn Frauen die Erwerbsverläufe von Männern leben. Doch nicht nur neue statistische Maße, auch Gleichstellungsbeauftragte, die Führungspositionengesetze I und II, das Entgelttransparenzgesetz und viele Anstrengungen mehr zeugen davon, wie ernst der Staat die Gleichstellung von Männern und Frauen in der Erwerbsarbeit verfolgt. Der riesige Bereich nicht-marktförmiger Tätigkeiten wurde dagegen lange ignoriert und weggedrückt.

Erst in jüngerer Zeit befasst sich die Politik auch mit nicht-marktförmigen Tätigkeiten. Rentenpunkte für Kinder, das Brückenteilzeitgesetz, das Pflegezeitgesetz und die Einführung des Elterngeldes 2007 sind Beispiele dafür. Das Elterngeld hebt auch die familiäre Fürsorgeverantwortung der Väter hervor und setzt entsprechende Anreize. Mit Erfolg: Vor dessen Einführung haben ca. 2 % der Väter Erziehungsgeld beansprucht, heute nutzen 47 % das Elterngeld (BMFSFJ, 2016; Brehm et al., 2022).

Gleichermaßen änderte man zügig das Unterhaltsrecht und setzte als neue Norm die selbstständige Absicherung der Frauen durch eigene Erwerbsarbeit. Alle anderen Regelungen blieben dagegen bestehen. Im Ergebnis entstand eine überaus inkonsistente Familienpolitik. So sind Frauen nach dem Unterhaltsrecht gehalten, sich nach einer Scheidung schnell selbstständig finanzieren zu können. Das Ehegattensplitting, die Hinterbliebenenrente und die kostenlose Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse setzen jedoch den Anreiz, wesentlich weniger als der Partner erwerbstätig und damit in gewisser Weise von ihm abhängig zu sein. Ehepaare mit sehr ungleichen Verdiensten profitieren besonders von steuerlichen Ersparnissen durch das Ehegattensplitting.

So kann es nicht weitergehen. Wir brauchen eine Grundsatzentscheidung, eine klare Linie, nach der sich Paare richten können. Ausgangspunkt muss die Summe aller zu verrichtenden Tätigkeiten sein. Ein Zurück zu der „funktionalen Aufgabenteilung“ darf es nicht geben und ist zudem arbeitsmarktpolitisch nicht gewünscht. Setzt man auf die Vollzeiterwerbstätigkeit von Paaren, muss man die Summe der zu verrichtenden Tätigkeiten notwendig reduzieren, es fehlt schlicht an Zeit. Die Geburtenquote wird weiter fallen, der Zusammenhalt in der Gesellschaft weiter abnehmen. Die Forschung ist hier eindeutig.2 Belässt man dagegen die Gesamtheit aller Tätigkeiten, muss man bei einer partnerschaftlichen Teilung aller Tätigkeiten ein neues Normal in der bezahlten Erwerbsarbeit finden. Eine 32-Stunden-Woche für alle, gedacht über den gesamten Lebensverlauf, erscheint machbar. Pro Haushalt sind das dann 64 Stunden in der Woche statt bislang 39 Stunden.

Geht man diesen Weg, so müssen familienpolitische Instrumente diesen fördern. Das Ehegattensplittung muss reformiert und beispielsweise zu einer Individualbesteuerung mit steuerlichem Grundfreibetrag werden. Die kostenfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung muss fallen, auch die abgeleiteten Renten. Ein Sparprogramm wird das nicht. Denn im Gegenzug müssen nicht-marktförmige Tätigkeiten gestützt werden, etwa durch die zügige Umsetzung der EU-rechtlich gebotenen Familienstartzeit, deutlich mehr Partnermonate, höhere Mindest- und Höchstsätze beim Elterngeld und verstärkte Maßnahmen für Kinder.

Eine moderne, zukunftsfähige Familien-, Zeit- und Gesellschaftspolitik stellt die gesamtgesellschaftliche Verantwortung in den Mittelpunkt, kommuniziert ihre konkrete Ausgestaltung öffentlich und streitet darüber. Es ist an der Zeit, mehr Fortschritt zu wagen, wie es sich die Ampelkoalition für mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben hat. Damit der Fortschritt auch Wirklichkeit wird, braucht es unser aller Mitwirkung, denn es geht um zentrale Fragen unseres Gemeinwesens.

Bei dem Artikel handelt es sich um eine ausgearbeitete und weiterführende Fassung eines Artikels über Familienpolitik, der zunächst bei ZEIT Online erschienen ist (https://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2023-07/familienpolitik-kindergrundsicherung-elterngeld-sorgearbeit-gleichstellung).

  • 1 Eigene Berechnungen auf Basis von Destatis (2020) und WSI (2023).
  • 2 Die Kinderlosenquote von Frauen am Ende des fertilen Alters beträgt 20 % (Destatis, 2023b). Die Vermächtnisstudie zeigt, dass immer weniger Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als erreichbares Ziel ansehen, viele entscheiden sich deshalb gegen Kinder (Hipp, 2023).

Literatur

Barišić, M. und V. Consiglio (2020), Frauen auf dem deutschen Arbeitsmarkt: Was es sie kostet, Mutter zu sein, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/frauen-auf-dem-deutschen-arbeitsmarkt-1 (17. August 2023).

BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2016), Elterngeld wird zehn Jahre alt, https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/elterngeld-wird-zehn-jahre-alt-113298 (17. August 2023).

BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2023), Kindertagesbetreuung Kompakt – Ausbaustand und Bedarf 2022, https://www.bmfsfj.de/resource/blob/228470/dc2219705eeb5b8b9c117ce3f7e7bc05/kindertagesbetreuung-kompakt-ausbaustand-und-bedarf-2022-data.pdf (17. August 2023).

Brehm, U., M. Huebener und S. Schmitz (2022), 15 Jahre Elterngeld: Erfolge, aber noch Handlungsbedarf, Bevölkerungsforschung aktuell, 6, 3-7.

Destatis (2020), Beendete Leistungsbezüge und durchschnittliche Bezugsdauer nach Geschlecht, Anteil der Vätermonate und Ländern, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Elterngeld/Tabellen/liste-geburten-bezugsdauer-jahr.html#613056 (17. August 2023).

Destatis (2023a), Gender Pension Gap: Alterseinkünfte von Frauen 2021 fast ein Drittel niedriger als die von Männern, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/03/PD23_N015_12_63.html (17. August 2023).

Destatis (2023b), Kinderlosenquote seit zehn Jahren konstant bei 20 %, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/06/PD23_226_12.html (17. August 2023).

Funcke, A. und S. Menne (2023), Factsheet Kinder- und Jugendarmut in Deutschland, Bertelsmann Stiftung, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/factsheet-kinder-und-jugendarmut-in-deutschland (17. August 2023).

Hipp, L. (2023), Unsichtbare Hürden, ZEIT Online, https://www.zeit.de/2023/22/frauen-familie-beruf-ungleichheit-vermaechtnisstudie (17. August 2023).

Klemm, K. (2023), Jugendliche ohne Hauptschulabschluss – Demographische Verknappung und qualifikatorische Vergeudung, Bertelsmann Stiftung, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/jugendliche-ohne-hauptschulabschluss-1 (17. August 2023).

Kohlrausch, B., A. Hövermann und H. Emmler (2023), Kinderbetreuung: 57 Prozent der erwerbstätigen Eltern mit Schließungen oder verkürzten Betreuungszeiten konfrontiert, https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-kinderbetreuung-51190.htm (17. August 2023).

Lott, Y. und P. Bünger (2023), Mental Load – Frauen tragen die überwiegende Last, WSI Report, 87, 1-18.

Stanat, P., S. Schipolowski, R. Schneider, K. Sachse und S. Weirich (2022), IQB-Bildungstrend 2021: Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), Waxmann.

Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e. V. (2021), Vom Arbeiterkind zum Doktor – Der Hürdenlauf auf dem Bildungsweg der Erststudierenden, https://www.stifterverband.org/medien/vom_arbeiterkind_zum_doktor (17. August 2023).

WSI – Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung (2023), Elterngeldbezug in Deutschland 2008-2019, https://www.wsi.de/data/wsi_gdp_so-elterngeld-01-1.pdf (17. August 2023).

Title:The Path to a Sustainable Family Policy

Abstract:Before the 2023 summer recess, family policy was, surprisingly, the centre of political debate. Guaranteed child allowance, the abolition
of parental benefits for the highest earners, the abolition of income tax relief for married couples, and the pension for surviving dependents
were up for negotiation. However, the heated discussions neglected the central question: In which direction is our society headed, and what
must our family policy aim for? What criteria should it follow? This article addresses these questions, outlines the situation of children and parents,
sketches normative guidelines for an inclusive family policy and makes suggestions for its design.

Beitrag als PDF

© Der/die Autor:in 2023

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2023-0168