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Lieferengpässe und geoökonomische Spannungen haben dazu geführt, dass der Handel zwischen Deutschland und China zunehmend in den Fokus der öffentlichen Debatte rückt. Insbesondere bei den Importen von Elektronik und Seltenen Erden aus China zeigt sich die wirtschaftliche Abhängigkeit (Sandkamp et al., 2023). Mit mehr als 100 Mrd. Euro pro Jahr spielen allerdings auch die deutschen Exporte nach China eine wirtschaftliche Rolle für hiesige Firmen. In den vergangenen 20 Jahren hat sich dieser Handelswert mehr als verachtfacht. Die Preisbereinigung dieser Zeitreihe in Abbildung 1 zeigt jedoch: Seit 2018 ist die reale Entwicklung der deutschen Exporte nach China rückläufig. 2022 lag die Ausfuhrmenge 7,5 % unterhalb des Höchstwertes von 2018.

Abbildung 1
Deutsche Exporte nach China
Deutsche Exporte nach China

Leichte Unterschiede zu Daten des Statistischen Bundesamtes ergeben sich durch Wechselkursumrechnungen.

Quelle: UN Comtrade (2023); eigene Darstellung und Berechnungen.

Es ist jedoch nicht ersichtlich, ob diese Abkühlung im Handel der allgemeinen Konjunktur der beiden Partnerländer folgt oder ob Sondereffekte den Handel beeinflussen. Um dies zu prüfen, soll ein kontrafaktischer Verlauf für die deutschen Exporte nach China auf Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung der beiden Länder berechnet werden. Eine einfache Version der Gravitationsgleichung nach Anderson und van Wincoop (2003) dient als Grundlage. Es setzt die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, Chinas und der Welt insgesamt sowie die zeitunabhängigen Transportkosten in Relation zu den Exporten von Deutschland nach China.1 Sofern andere Sondereffekte wie Lieferengpässe das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der betroffenen Länder beeinflussen, gehen diese in den kontrafaktischen Verlauf mit ein. Abbildung 2 stellt die tatsächlichen Handelswerte (hellblaue Linie), den kontrafaktischen Verlauf (pinke Linie) sowie die daraus resultierende Differenz (blaue Balken) dar. Am aktuellen Rand überragt der erwartete (kontrafaktische) Verlauf den tatsächlichen Exportwert deutlich. 2021 lag diese Exportlücke bereits bei 19,3 Mrd. US-$ (16,4 Mrd. Euro) und stieg 2022 noch einmal auf 31 Mrd. US-$ (30 Mrd. Euro). Das Gravitationsmodell hätte damit einen 28 % höheren Ausfuhrwert vorausgesagt.

Abbildung 2
Verlauf der Exportlücke nach China
Verlauf der Exportlücke nach China

Das kontrafaktische Beispiel stellt die hypothetische Entwicklung des Handels auf Grundlage der Konjunkturentwicklung der beteiligten Länder gemäß des Gravitationsmodells dar. Die Exportlücke ist die Differenz zwischen beiden Linien (rechte Skala.)

Quelle: Destatis (2023); eigene Darstellung und Berechnungen.

Drei Aspekte spielen für die Erklärung der Exportlücke eine Rolle: Erstens substituieren deutsche Firmen mit ihrer Produktion in China die Exporte. Zweitens hat China seinen heimischen Wertschöpfungsanteil an der Produktion erhöht. Drittens verschieben chinesische Firmen ihren Import von Kapitalgütern zu Vorleistungsgütern.

Ein Erklärungsansatz für die Handelslücke könnte in der verstärkten Aktivität deutscher Unternehmen in China liegen. Während sich die Schere zu den erwarteten Ausfuhren öffnet, verzeichnen deutsche Firmen und Arbeitnehmer:innen in China eine deutliche Zunahme ihrer grenzüberschreitenden Primäreinkommen sowie der reinvestierten Gewinne (vgl. Abbildung 3). Primäreinkommen beziehen sich hierbei auf die Gesamtsumme, die deutsche Unternehmen durch Zinsen oder Gewinne sowie deutsche Arbeitnehmer:innen durch ihre Arbeit in China erwirtschaften und nach Deutschland transferieren. Zusammen mit den reinvestierten Gewinnen geben diese Kennzahlen Aufschluss darüber, wie erfolgreich deutsche Unternehmen in China produzieren und wie erfolgreich deutsche Staatsangehörige ihre Expertise in China einbringen. Die Primäreinkommen sind bereits seit 2009 stetig gewachsen, jedoch erhielten sie nach dem ersten Jahr der COVID-19-Pandemie einen zusätzlichen Schub. Im Gegensatz dazu betrugen die reinvestierten Gewinne bis 2020 etwa 4 Mrd. Euro pro Jahr und stiegen 2021 sprunghaft auf etwa 12 Mrd. Euro an. Dieser gleichzeitige Anstieg von Primäreinkommen und reinvestierten Gewinnen im Einklang mit der wachsenden Exportlücke lässt darauf schließen, dass einige deutsche Unternehmen den Export von Deutschland nach China durch die Produktion in China ersetzen.

Abbildung 3
Verlauf der Exportlücke und Gewinne deutscher Unternehmen in China
Verlauf der Exportlücke und Gewinne deutscher Unternehmen in China

Die Exportlücke spiegelt die Differenz zwischen dem hypothetischen Verlauf der Exporte und den tatsächlichen wider.

Quellen: Refinitiv (2023, Währungskurse für die Umrechnung der Exportlücke in Euro); Bundesbank (2023, Reinvestierte Gewinne und Primäreinkommen); eigene Darstellung und Berechnungen.

Zudem könnten auch Entwicklungen der chinesischen Importe allgemein einen Einfluss auf die Schwäche der deutschen Exporte in die Volksrepublik haben. Das Verhältnis von Importen zum chinesischen BIP ist seit 2003 von 29 % auf 15 % gesunken. Dies deutet darauf hin, dass die chinesische Wertschöpfung anteilsmäßig an allen von China produzierten Gütern deutlich zugenommen hat. Diese Entwicklung dürfte vor allem auf den technologischen Fortschritt in China und den strukturellen Wandel von der Landwirtschaft zur Industrieproduktion zurückzuführen sein. Interessanterweise ist zu beobachten, dass ab 2015 der Import von Zwischengütern durch China merklich angestiegen ist und diese mehr als die Hälfte aller chinesischen Importe ausmachen. Im Gegensatz dazu sind die Einfuhren von Kapitalgütern, zu denen wichtige deutsche Exportgüter wie Maschinen gehören, seit 2013 sogar nominal zurückgegangen. Da die Bruttoinvestitionen Chinas in diesem Zeitraum deutlich gestiegen sind, scheint China vermehrt Kapitalgüter in großem Umfang selbst herzustellen. Diese Entwicklung kann ebenfalls mit dem technologischen Fortschritt in China erklärt werden. Deutschland hat gleichzeitig nur begrenzte Chancen, von den zunehmenden Vorleistungsimporten Chinas zu profitieren, da diese aus Schwellenländern mit niedrigen Lohnkosten wie Vietnam und Malaysia stammen.

Die Analyse mithilfe des Gravitationsmodells zeigt, dass der anhaltend negative Trend der deutschen preisbereinigten Exporte nach China nicht auf übliche Schwankungen zurückzuführen ist. Stattdessen deutet die Berechnung auf eine Exportlücke hin, die einen Wert von bis zu 30 Mrd. Euro erreicht. Dies entspricht etwa 0,6 % des deutschen BIP, basierend auf einer inländischen Wertschöpfung von 80 %. Ein deutlicher Anstieg der grenzüberschreitenden Primäreinkommen aus China sowie die steigenden reinvestierten Gewinne deutscher Unternehmen legen nahe, dass deutsche Firmen zunehmend nicht mehr nach China exportieren, sondern ihre Produktion direkt vor Ort aufnehmen. Länder, wie Vietnam und andere aufstrebende Volkswirtschaften in Südostasien, profitierten hingegen von einem erhöhten chinesischen Import von Zwischengütern.

  • 1 Das BIP der EU und Asiens – ohne die jeweiligen BIP der Handelspartner – dienen zusätzlich als Proxys für multilaterale Resistenzen. 2021 und 2022 werden explizit nicht in die Schätzung der Parameter einbezogen, sodass die von dem Modell für diese Jahre erwarteten Werte als „out-of-sample“-Prognosen verstanden werden können.

Literatur

Anderson, J. E. und E. van Wincoop (2003), Gravity with gravitas: A solution to the border puzzle, American Economic Review, 93(1), 170-192.

Bundesbank (2023), Zeitreihen-Datenbanken. Außenwirtschaft: Zahlungsbilanz und Leistungsbilanz, https://www.bundesbank.de/de/statistiken/zeitreihen-datenbanken (14. August 2023).

Destatis (2023), Statistisches Bundesamt, Genesis Reihe 51000-0003, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online (14. August 2023).

Refinitiv (2023), Refinitiv Financial Solutions, US Dollar – Euro annual exchange rate, Via API Access (14. August 2023).

Sandkamp, A.-N., V. Stamer, F. Wendorf und S. Gans (2023), Leere Regale made in China: Wenn China beim Handel mauert, Kiel Policy Brief, 164.

UN Comtrade (2023), United Nations, UN Comtrade Database, Via API Access (14. August 2023).

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© Der/die Autor:in 2023

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DOI: 10.2478/wd-2023-0179