Die Umsetzung von EU-Recht in die innerstaatliche Rechtsordnung kann die Haushalte von Bund und Ländern erheblich belasten. Um derartige finanzielle Auswirkungen zu ermitteln, werden die in Gesetzentwürfen veranschlagten Staatsausgaben für Rechtsakte der EU über einen Zeitraum von 30 Jahren statistisch ausgewertet. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Zahl an Umsetzungsgesetzen, die Kosten für die öffentlichen Kassen erzeugen, seit 1990 deutlich angestiegen ist. Zudem haben sich die Summen, die für die Umsetzung und Anwendung von EU-Recht aufgewendet werden müssen, zuletzt stark erhöht. Beide Entwicklungen erschweren die Wahrnehmung parlamentarischer Haushaltsrechte, weil Abgeordnete diese „EU-Nebenkosten“ nicht wirksam kontrollieren können.
Kaum ein Ökonom zweifelt daran, dass die exportorientierte deutsche Wirtschaft und damit indirekt auch der deutsche Steuerstaat erheblich von den Grundfreiheiten im Binnenmarkt der Europäischen Union profitieren (Dreger, 2021). Nach Berechnungen von Mion und Ponattu (2019) belaufen sich die Wohlstandsgewinne, die durch Freihandel entstehen, allein in Deutschland auf rund 86 Mrd. Euro im Jahr, was einer Einkommenssteigerung von 1.046 Euro pro Person entspreche. Auch wenn andere Länder wie die Schweiz (als Nicht-EU-Mitglied über diverse bilaterale Abkommen), Luxemburg oder Irland noch deutlich mehr Vorteile aus dem Binnenmarkt ziehen, gehört Deutschland damit eindeutig zu den Gewinnern der europäischen Integration. Und laut einer aktuellen Studie von Felbermayr et al. (2022), die ökonomische Konsequenzen einer Rückabwicklung verschiedener Integrationsschritte simuliert haben, würde eine Auflösung der EU das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um 5,2 % per annum verringern. Dabei würde sich eine Abwicklung des Binnenmarktes mit -3,6 % besonders negativ auswirken, gefolgt vom Ende der Personenfreizügigkeit im Schengenraum (-1,04 %) und einer Auflösung der Währungsunion (-0,65 %).
Die Kehrseite der Medaille sind allerdings erhebliche Kosten und Risiken einer EU-Mitgliedschaft für den deutschen Staatshaushalt. Deutschland ist seit jeher der größte Nettozahler der EU, zahlt also in der Summe und inzwischen auch pro Kopf wesentlich mehr Geld in den EU-Haushalt ein, als an Rückflüssen in Form von Agrarsubventionen und aus Strukturfonds zu erwarten sind (Becker, 2021). Jüngste Berechnungen für das Haushaltsjahr 2021 haben ergeben, dass der operative Haushaltssaldo auf einen historischen Minusbetrag von 21,4 Mrd. Euro angewachsen ist (Busch et al., 2022). Hinzu kommen neuartige Finanzierungsinstrumente wie das Corona-Wiederaufbauprogramm „NextGenerationEU“, das die Kommission ermächtigt, Kredite von bis zu 750 Mrd. Euro an den Kapitalmärkten aufzunehmen, die etwa zur Hälfte als Zuschüsse an Mitgliedstaaten ausbezahlt werden, die von der COVID-19-Pandemie besonders stark betroffen waren (Stadler, 2023). Der Bundesrechnungshof (2021) hatte früh angemahnt, dass Deutschland voraussichtlich auch hierzu den größten Netto-Beitrag leisten werde, weil nach Berechnungen der Kommission 28,4 Mrd. Euro an Zuschüssen Rückzahlungsverpflichtungen in Höhe von 94,3 Mrd. Euro gegenüberstünden. Daneben kämen kaum absehbare Haftungsrisiken in Milliardenhöhe auf Deutschland zu, sollten andere Mitgliedstaaten ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen.
Kosten der Umsetzung von EU-Recht
Ein weiterer Kostenfaktor, der bislang deutlich weniger Beachtung gefunden hat, sind die finanziellen Auswirkungen der Umsetzung von EU-Recht auf die Haushalte von Bund und Ländern. Verordnungen und Richtlinien der EU können zu Haushaltsmehrausgaben führen, Steuereinnahmen mindern oder einen zusätzlichen Erfüllungsaufwand in Form von Sach- und Personalmitteln erzeugen. Diese Kosten fallen hauptsächlich an, wenn die EU regulativ tätig wird, indem sie Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte Maßnahmen durchzuführen, die nicht als Ausgabeposten im EU-Haushalt vorgesehen sind. In Politikbereichen, die in die Zuständigkeit der EU fallen, verfügt der Unionsgesetzgeber über solche Rechtsetzungsbefugnisse, sofern dies in den Verträgen nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist (Calliess, 2020). Wenn die EU z. B. verschärfte Richtlinien zum Gewässerschutz erlässt, kann die praktische Umsetzung zusätzliches Personal im Bundesumweltamt erforderlich machen, um die Wasserqualität regelmäßig zu überprüfen. Oder wenn die EU biometrische Sicherheitsstandards für Personalausweise einführt, müssen in Einwohnermeldeämtern neue technische Geräte angeschafft werden, etwa um Fingerabdrücke einzuscannen. All diese Kosten werden nicht aus dem EU-Haushalt bestritten, sondern sind von den Mitgliedstaaten zu tragen.
Solche „EU-Nebenkosten“ unterlaufen parlamentarische Haushaltsrechte, in unserem Fall des Bundestages und der Landesparlamente. Während Beiträge zum ordentlichen EU-Haushalt und auch die Gewährung von Finanzhilfen an andere Euroländer in Deutschland einem starken Parlamentsvorbehalt unterliegen (Wimmel, 2018), wird über Gesetzentwürfe zur Umsetzung von EU-Recht in der Regel erst parlamentarisch beraten und entschieden, nachdem Verordnungen und Richtlinien bereits in Kraft getreten sind. Abgeordnete haben dann keine Wahl mehr, sie müssen EU-Rechtsakte in die innerstaatliche Rechtsordnung überführen und die dafür benötigten Gelder bewilligen, wollen sie nicht geltendes Europarecht verletzen. Und selbst wenn der Bundestag seine Mitwirkungsrechte frühzeitig ausübt und Stellungnahmen gegen Gesetzgebungsvorschläge der EU einbringt, ist die deutsche Vertretung im Rat rechtlich nicht daran gebunden bzw. könnte bei Mehrheitsentscheidungen überstimmt werden (Wimmel, 2020). Besonders nachteilig stellt sich die Lage für Landtagsabgeordnete dar, weil die Länder bestenfalls indirekt über den Bundesrat in den EU-Gesetzgebungsprozess eingebunden sind (dazu Hrbek, 2021).
Erfassung und Dokumentation von EU-Umsetzungskosten
Um abschätzen zu können, wie stark die Wahrnehmung parlamentarischer Haushaltsrechte durch Rechtsakte der EU eingeschränkt wird, benötigen wir Informationen über die Häufigkeit und die Höhe von Umsetzungskosten. Soweit ersichtlich liegen keine Haushaltsberichte oder amtliche Statistiken vor, die Aufwendungen für die Umsetzung von EU-Recht dokumentieren bzw. gesondert ausweisen. Haushaltsplänen des Bundes lassen sich zwar jährliche Beitragszahlungen in den regulären EU-Haushalt entnehmen, nicht aber finanzielle Auswirkungen von Verordnungen und Richtlinien. Umsetzungskosten werden hier zusammen mit anderen Ausgabeposten in den Einzelplänen der zuständigen Bundesministerien und sonstigen Bundesbehörden verbucht, ohne zu unterscheiden, welche Ausgaben auf nationale oder unionale Rechtsakte zurückzuführen sind. Stattdessen bieten Gesetzentwürfe zur Umsetzung von EU-Recht eine verlässliche Grundlage zur Erfassung von Umsetzungskosten. Für Bundesgesetze ist obligatorisch anzugeben, ob finanzielle Belastungen für öffentliche Haushalte zu erwarten sind, sollte der Entwurf in vorliegender Fassung verabschiedet werden. In einem ersten Schritt lässt sich auf dieser Basis ermitteln, ob die Zahl bzw. der Anteil an Umsetzungsgesetzen, die Kosten für Bund und/oder Länder erzeugen, im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses zugenommen hat.
Im März 2011 ist eine Gesetzesänderung in Kraft getreten, mit der dem Nationalen Normenkontrollrat unter anderem die Aufgabe übertragen wurde, den voraussichtlichen Erfüllungsaufwand von Bundesgesetzen zu prüfen. Der Erfüllungsaufwand „umfasst den gesamten messbaren Zeitaufwand und die Kosten, die durch die Befolgung einer bundesrechtlichen Vorschrift bei Bürgerinnen und Bürgern, Wirtschaft sowie der öffentlichen Verwaltung entstehen“ (§ 2 Abs. 1 NKRG). Um eine solche Prüfung durchführen zu können, sind die Anforderungen an Gesetzesvorlagen der Bundesregierung in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien wesentlich erhöht worden. Seither reicht es nicht mehr aus, lediglich anzugeben, ob Kosten für Bund und Länder zu erwarten sind, ohne konkrete Summen zu nennen, sondern die Auswirkungen eines Gesetzes auf die Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand müssen so genau wie möglich ermittelt und in Euro-Beträgen dargestellt werden (§ 44 Abs. 2 GGO). Diese Reformen haben dazu geführt, dass in Gesetzentwürfen ab dem Jahr 2012 zwischen direkten Haushaltsausgaben und einem zusätzlichen Erfüllungsaufwand, meist Personal- und Verwaltungskosten, getrennt für Bund und Länder unterschieden wird. In einem zweiten Schritt kann also überprüft werden, wieviel Geld für die Umsetzung von EU-Recht konkret aufgewendet werden muss und ob diese Kosten in den vergangenen zehn Jahren angestiegen sind.
EU-Umsetzungsgesetze mit Kosten für Bund und Länder
Abbildung 1 zeigt zunächst die Zahl an Umsetzungsgesetzen, die Kosten nur für den Bund, nur für die Länder oder für Bund und Länder erzeugen, von der 12. Wahlperiode (1990 bis 1994) bis zur 19. Wahlperiode (2017 bis 2021). Die Daten belegen einen stabilen Trend, wonach EU-Rechtsakte die öffentlichen Haushalte immer häufiger belasten.1 Während in der 12. Wahlperiode gerade einmal 24 Umsetzungsgesetze zu Kosten führten, hat sich deren Zahl bis zur 19. Wahlperiode auf 110 mehr als vervierfacht. In der Summe und vor allem seit der 16. Wahlperiode (2005 bis 2009) hat der Bund deutlich öfter Umsetzungskosten zu tragen als die Länder. Am größten war die Abweichung in der 18. Wahlperiode, als 99 Umsetzungsgesetze (70 nur Bund plus 29 Bund und Länder) negative finanzielle Auswirkungen für den Bund hatten, aber nur 39 (10 nur Länder plus 29 Bund und Länder) für die Länder.
Abbildung 1
EU-Umsetzungsgesetze mit Kosten für Bund und Länder nach Wahlperiode
Quelle: Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentsmaterialien (https://dip.bundestag.de), Datenabruf am 30. Juni 2022, eigene Auswertungen/Berechnungen; für Detailfragen zur Erstellung des Datensatzes siehe Wimmel (2023).
Dass dieser Trend nicht allein auf die gestiegene Zahl an EU-Rechtsakten zurückzuführen ist, wird offenkundig, wenn man die ausgabenwirksamen Umsetzungsgesetze mit allen Umsetzungsgesetzen pro Wahlperiode (N-Werte in den Klammern) ins Verhältnis setzt. Von den 82 Umsetzungsgesetzen aus der 12. Wahlperiode führten lediglich 24 zu Mehrkosten, was 29,3 % entspricht. Bis zur 18. Wahlperiode verdoppelte sich ihr Anteil auf 61,2 % (109 von 178) und erreichte in der 19. Wahlperiode einen Höchststand von 71,4 % (110 von 154). Während in den 1990er Jahren also nur jedes dritte Umsetzungsgesetz überhaupt Kosten für öffentliche Haushalte erzeugte, trifft dies heute für mehr als zwei Drittel der Richtlinien und Verordnungen zu, die in innerstaatliches Recht übertragen und angewendet werden müssen.
Eine Ursache für diese Kostenentwicklung liegt in der Abkehr der EU von rein marktschaffender („negativer“) Integration hin zu einer marktkorrigierenden („positiven“) Rechtsetzung (dazu Scharpf, 2008). Zunächst bestand das vorrangige Ziel darin, die Wirtschaftsgemeinschaft und insbesondere den Binnenmarkt durch die Beseitigung von Zöllen und anderen Handelsbeschränkungen zu vollenden. Die dafür notwendige Harmonisierung von Produktstandards wurde in der Regel durch Verordnungen umgesetzt, die zwar Industrieunternehmen finanziell belasten konnten, aber nur selten direkte Kosten für öffentliche Haushalte erzeugten. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 erlässt die EU verstärkt Richtlinien vor allem in der Klima- und Umweltschutzpolitik, aber auch der Beschäftigungs- und Sozialpolitik, deren Umsetzung und Anwendung zu Mehrausgaben in den Mitgliedstaaten führen, weil sie politische Handlungsvorgaben beinhalten und Regulierungen erforderlich machen. Dass EU-Rechtsakte inzwischen häufiger Erfüllungsaufwand für Bund und Länder nach sich ziehen, ist also zuvorderst einer primärrechtlichen Ausweitung legislativer Kompetenzen und ihrer aktiven Inanspruchnahme durch Organe der EU geschuldet.
Kostenstufen von EU-Umsetzungsgesetzen
Zur Bestimmung der Kostenhöhe wurden alle in den Jahren 2012 bis 2021 vom Bundestag verabschiedeten Umsetzungsgesetze mit Kosten für öffentliche Haushalte vier Kostenstufen zugeteilt. Um für jedes Gesetz die Gesamtkosten zu ermitteln, wurden die im Gesetzentwurf veranschlagten Haushaltsausgaben und der Erfüllungsaufwand addiert. In einigen Entwürfen ist der Erfüllungsaufwand in einmalige und jährliche Kosten ohne Laufzeitbegrenzung unterschieden. Diese jährlichen Kosten flossen nur einmal in die Berechnung ein. Durch diese pragmatische Lösung kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche Gesetze eigentlich einer höheren Kostenstufe zuzuordnen wären, je nachdem, wie lange der EU-Rechtsakt in Kraft ist bzw. die jährlichen Ausgaben fortdauern. Gesichert ist aber, dass die geschätzten Umsetzungskosten die jeweiligen Untergrenzen der Kostenstufen nicht unterschreiten, dass also z. B. für Gesetze in der Kostenstufe C mindestens ein Betrag von 1 Mio. Euro veranschlagt wurde. Bei Gesetzen, die Kosten für Bund und Länder erzeugen, wurden die jeweiligen Teilbeträge summiert.
Das Säulendiagramm in Abbildung 2 zeigt, dass die meisten Umsetzungsgesetze in die Kostenstufe C (1 Mio. bis 10 Mio. Euro) fallen, darunter 39 Gesetze, die Kosten für Bund und Länder erzeugen. Insgesamt 72 Gesetze kosten den deutschen Staat zwischen 100.000 bis 1 Mio. Euro, während in 50 Gesetzentwürfen Ausgaben bis maximal 100.000 Euro veranschlagt wurden. Auf die höchste Kostenstufe D (über 10 Mio. Euro) entfallen die wenigsten Umsetzungsgesetze, allerdings schlagen neun dieser Gesetze mit teilweise weit über 100 Mio. Euro zu Buche (sechs nur Bund, drei Bund und Länder). Die Umsetzung und Anwendung von EU-Recht kann also erhebliche Summen erfordern, die trotz hoher Verschuldung der öffentlichen Haushalte von Bund und Ländern bereitzustellen sind.
Abbildung 2
EU-Umsetzungsgesetze mit Kosten für Bund und Länder nach Kostenstufe
Quelle: Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentsmaterialien (https://dip.bundestag.de), Datenabruf am 30. Juni 2022, eigene Auswertungen/Berechnungen; für Detailfragen zur Erstellung des Datensatzes siehe Wimmel (2023).
Abbildung 3 ordnet die kostenwirksamen Umsetzungsgesetze ab 2012 nach Doppeljahren, unterteilt in die vier Kostenstufen. Die Ungleichverteilung zwischen den Jahren ist auf den Turnus der Wahlperioden zurückzuführen. In der zweiten Hälfte und vor allem kurz vor Ende der Legislatur werden stets deutlich mehr Gesetze erlassen als in der ersten Hälfte, in der Gesetzentwürfe zunächst ausgearbeitet und parlamentarisch beraten werden. Ein Abgleich mit allen Umsetzungsgesetzen pro Doppeljahr (N-Werte in den Klammern) belegt, dass in der zweiten Hälfte der Wahlperiode der Anteil an Gesetzen, die Kosten erzeugen, signifikant höher ausfällt als in den ersten beiden Jahren. Im Doppeljahr 2014/2015 belasteten 50 % (33 von 66) der Umsetzungsgesetze die öffentlichen Haushalte, nach Halbzeit der 18. Wahlperiode stieg die Quote auf 67,9 % (76 von 112). Ein ähnliches Bild zeigte sich in der 19. Wahlperiode, als in der ersten Hälfte (2018/2019) für 67,2 % (41 von 61) der Umsetzungsgesetze Kosten veranschlagt wurden und sich dieser Anteil in der zweiten Hälfte (2020/2021) auf 74,2 % (69 von 93) erhöhte. Bundesregierungen neigen also dazu, die Umsetzung von ausgabenwirksamen EU-Rechtsakten eher am Ende als am Anfang der Legislatur zu beschließen.
Abbildung 3
EU-Umsetzungsgesetze mit Kosten für Bund und Länder nach Jahren
Quelle: Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentsmaterialien (https://dip.bundestag.de), Datenabruf am 30. Juni 2022, eigene Auswertungen/Berechnungen; für Detailfragen zur Erstellung des Datensatzes siehe Wimmel (2023).
Wenn man die Kostenstufen vergleicht, lässt sich zumindest ab den Jahren 2016/2017 eine leichte Tendenz ausmachen, dass die höchste Kostenstufe D anteilig stärker ins Gewicht fällt (2016/2017: 14,5 %, 2018/2019: 14,6 %, 2020/2021: 20,3 %), während die niedrigste Kostenstufe A abnimmt (2016/2017: 25 %, 2018/2019: 22 %, 2020/2021: 10,2 %). Dieser Eindruck verfestigt sich insofern, als dass die neun Umsetzungsgesetze, für die Ausgaben von mehr als 100 Mio. Euro veranschlagt werden, alle in die späteren Doppeljahre fallen (2016/2017: 3, 2018/2019: 2, 2020/2021: 4). Die Umsetzung von EU-Rechtsakten erzeugt somit nicht nur immer häufiger Kosten für Bund und Länder, sondern die dafür veranschlagten Summen steigen sukzessive an.
Kostenintensive EU-Umsetzungsgesetze
Das Umsetzungsgesetz, das die mit Abstand höchsten Gesamtkosten für Bund und Länder erzeugt, setzt eine Umweltrichtlinie zur Förderung energieeffizienter bzw. emissionsarmer Straßenfahrzeuge um. Die Richtlinie legt verbindliche Mindestziele für die Vergabe öffentlicher Aufträge zur Beschaffung klimafreundlicher Kraft- und Nutzfahrzeuge fest, insbesondere für den öffentlichen Personennahverkehr, die Abfallentsorgung und Paketzustelldienste.2 Um diese Ziele bis spätestens zum Jahr 2030 zu erreichen, veranschlagt die Bundesregierung allein für die Neuanschaffung von elektrisch betriebenen Dienstwagen für Bundesministerien und Behörden Haushaltsmehrausgaben von insgesamt rund 469 Mio. Euro. Hinzu kommt für die Verwaltung des Bundes einmaliger (2,4 Mio. Euro) und jährlicher (1,1 Mio. bis 1,3 Mio. Euro) Erfüllungsaufwand. Für Länder und Kommunen entsteht innerhalb der nächsten zehn Jahre laut Gesetzentwurf ein jährlicher Erfüllungsaufwand in Höhe von 163 Mio. bis 333 Mio. Euro und zusätzlich entstehen einmalige Kosten von 1,62 Mrd. Euro, hauptsächlich für Elektrobusse und Ladeinfrastruktur.3 Der Nationale Normenkontrollrat hat in seiner Stellungnahme, die dem Gesetzentwurf anhängt, keine Einwände gegen diese Summen erhoben. Im federführenden Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur wurden die Kosten nicht einmal erörtert, wie sich der Beschlussempfehlung entnehmen lässt. Am 5. Mai 2021 ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von FDP und AfD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.4 Das Gesetz ist seit dem 15. Juni 2021 in Kraft.
Das zweitteuerste Umsetzungsgesetz ist das Gesetz zur Durchführung des Zensus 2021, eine Volkszählung bzw. Haushaltsbefragung, mit der soziodemografische Basisdaten zur Bevölkerung, ihrer Erwerbstätigkeit und ihrer Wohnsituation zusammengetragen werden.5 Laut Gesetzentwurf sind Mitgliedstaaten aufgrund verschiedener Verordnungen unionsrechtlich verpflichtet, solche Daten regelmäßig alle zehn Jahre zu erheben und dem Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) zu übermitteln. Für das Statistische Bundesamt und das Informationstechnikzentrum des Bundes, die für die Zusammenführung und Auswertung der Daten zuständig sind, wird ein einmaliger Erfüllungsaufwand von 272 Mio. Euro geschätzt, davon etwa 88 Mio. Euro für Personalkosten und rund 184 Mio. Euro für Sachkosten. Bei den Statistischen Landesämtern wird für die praktische Durchführung des Zensus ein Aufwand von insgesamt 722 Mio. Euro kalkuliert, wovon rund 238 Mio. Euro auf Personal- und rund 484 Mio. Euro auf Sachkosten entfallen.6 Auch gegen diese Ausgaben erhob der Nationale Normenkontrollrat keine Einwände, wies allerdings mit Nachdruck darauf hin, dass Zensusbefragungen durch registerbasierte Auswertungen zu einem Bruchteil der jetzt entstehenden Kosten gestaltet werden könnten. Der federführende Ausschuss für Inneres und Heimat hat die veranschlagten Summen in seine Beschlussempfehlung übernommen. Am 6. Juni 2019 ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU-, SPD- und AfD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke in dritter Lesung ohne Gegenstimmen angenommen worden.7 Das Gesetz trat nach Zustimmung des Bundesrates am 3. Dezember 2019 in Kraft.
Das Umsetzungsgesetz mit den dritthöchsten Gesamtkosten setzt Änderungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie um. Das wesentliche Ziel der Reformen besteht darin, Beschäftigten aller Wirtschaftszweige, die von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen entsandt werden, die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmemitgliedstaats einschließlich einer gleichen Entlohnung zu garantieren.8 Für die innerstaatliche Umsetzung bzw. Anwendung der Novelle veranschlagt die Bundesregierung in den ersten vier Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes Haushaltsausgaben von insgesamt rund 367 Mio. Euro, um die Einhaltung der neuen Vorgaben durch Personenbefragungen und Arbeitgeberprüfungen zu überwachen. In diese Summe inkludiert ist zudem voraussichtlicher Mehraufwand durch zusätzliche Ermittlungsverfahren. Speziell für die Zollverwaltung des Bundes entsteht laut Gesetzentwurf jährlicher Personalaufwand in Höhe von 64,1 Mio. Euro. Für die Länder fallen keine direkten Mehrkosten an.9 Auch diese Kostenkalkulation wurde weder vom Nationalen Normenkontrollrat noch vom federführenden Ausschuss für Arbeit und Soziales beanstandet. Am 18. Juni 2020 ist der Gesetzentwurf von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen in namentlicher Abstimmung angenommen worden. Die Abgeordneten der Fraktionen FDP und AfD stimmten geschlossen mit Nein, die Abgeordneten der Linkspartei enthielten sich.10 Nach Zustimmung des Bundesrates trat das Gesetz am 30. Juli 2020 in Kraft.
Fazit
Die Verträge von Maastricht und Lissabon führten in diversen Politikbereichen zu einer Übertragung von Hoheitsrechten auf Organe der EU. Diese neuen Zuständigkeiten und Kompetenzen in der Gesetzgebung hat die EU genutzt, indem sie in den vergangenen 30 Jahren zahlreiche Verordnungen und Richtlinien erlassen hat, die von Mitgliedstaaten umgesetzt bzw. angewendet werden müssen. Am Beispiel Deutschlands wurden erstmals die damit verbundenen finanziellen Belastungen für öffentliche Haushalte ermittelt und ausgewertet. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Zahl an Umsetzungsgesetzen, die Kosten für Bund und Länder erzeugen, seit 1990 kontinuierlich angestiegen ist. Zudem haben sich die Summen, die für die Umsetzung und Anwendung von EU-Recht aufgerufen werden, exorbitant erhöht. Allein die Ausgaben für die drei kostenintensivsten Umsetzungsgesetze, die alle in der zuletzt abgeschlossenen 19. Wahlperiode verabschiedet worden sind, belaufen sich auf ein Gesamtvolumen von mindestens 5,2 Mrd. Euro. Der Preis einer EU-Mitgliedschaft ist für deutsche Steuerzahler also höher, als sich Haushaltsplänen und amtlichen Statistiken entnehmen lässt.
Verglichen mit den Beträgen, die für andere Staatsaufgaben bereitgestellt werden oder auch in den ordentlichen EU-Haushalt fließen, fallen diese „EU-Nebenkosten“ zwar kaum ins Gewicht. Trotzdem muss konstatiert werden, dass immer höhere Summen den deutschen Staatshaushalt belasten, die keiner wirksamen parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Ob der Haushaltsgesetzgeber will oder nicht, er muss die erforderlichen Mittel genehmigen, um eine ordnungsgemäße Umsetzung und Anwendung von EU-Recht zu gewährleisten. Dieses Kontrolldefizit ließe sich zumindest fallweise beheben, indem gesetzlich geregelt wird, dass der deutsche Vertreter im Rat einem Gesetzgebungsvorschlag, der ein bestimmtes Finanzvolumen übersteigt, erst abschließend zustimmen darf, wenn der Bundestag oder wenigstens der Haushaltsausschuss einen entsprechenden Beschluss gefasst hat. Damit wäre jedenfalls bei Beschlussvorlagen, die Einstimmigkeit im Rat erfordern, abgesichert, dass Abgeordnete nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden, sondern ex ante entscheiden.
Bei qualifizierten Mehrheitsentscheiden allerdings, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU zur Anwendung kommen, wäre selbst ein solcher Parlamentsvorbehalt unter Umständen wirkungslos. Ein qualifizierter Mehrheitsbeschluss kommt zustande, wenn 55 % der Mitgliedstaaten für einen Gesetzgebungsvorschlag stimmen, die zusammen mindestens 65 % der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen. Deutschland hat derzeit einen Bevölkerungsanteil von rund 18,6 %, sodass der deutsche Vertreter im Rat überstimmt werden kann. Dies war z. B. bei der Richtlinie zur Förderung energieeffizienter bzw. emissionsarmer Straßenfahrzeuge der Fall, als Deutschland zusammen mit Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik mit Nein stimmte, die Annahme des Rechtsaktes aber nicht verhindern konnte. Die Haushaltsrechte deutscher Parlamente waren also ausgerechnet bei dem kostenintensivsten Umsetzungsgesetz, für das Ausgaben von über 2 Mrd. Euro veranschlagt wurden, durch den Vorrang des Europarechts de facto außer Kraft.
- 1 Der leichte Rückgang in der 15. Wahlperiode (2002 bis 2005) ist der um ein Jahr verkürzten Legislatur geschuldet, nachdem ein Antrag von Bundeskanzler Schröder, ihm gemäß Art. 68 GG das Vertrauen auszusprechen, keine Zustimmung fand und daraufhin der Bundestag vorzeitig aufgelöst wurde.
- 2 Richtlinie (EU) 2019/1161 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Änderung der Richtlinie 2009/33/EG über die Förderung sauberer und energieeffizienter Straßenfahrzeuge, ABl. L 188/116 vom 12. Juli 2019.
- 3 Deutscher Bundestag, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1161 vom 20. Juni 2019 zur Änderung der Richtlinie 2009/33/EG über die Förderung sauberer und energieeffizienter Straßenfahrzeuge sowie zur Änderung vergaberechtlicher Vorschriften, Drucksache 19/27657 vom 17. März 2021.
- 4 Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 19/226 vom 5. Mai 2021, S. 28835B-28835C.
- 5 Aufgrund der Coronapandemie wurde die Durchführung des Zensus auf das Jahr 2022 verschoben, siehe Gesetz zur Verschiebung des Zensus in das Jahr 2022 und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes, BGBl I S. 2675 vom 9. Dezember 2020.
- 6 Deutscher Bundestag, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung des Zensus im Jahr 2021 (Zensusgesetz 2021 – ZensG 2021), Drucksache 19/8693 vom 25. März 2019.
- 7 Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 19/104 vom 6. Juni 2019, S. 12781A.
- 8 Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 173/16 vom 9. Juli 2018.
- 9 Deutscher Bundestag, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, Drucksache 19/19371 vom 20. Mai 2020.
- 10 Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 19/166 vom 18. Juni 2020, S. 20779D-20782D.
Literatur
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