Unternehmen und Gesellschaft stehen in Deutschland unter einem hohen Transformationsdruck, der aus den gleichzeitig wirkenden Trends der Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und Deglobalisierung resultiert (Demary et al., 2021). Die Effekte der Digitalisierung zeigen sich bei der Beschäftigung in IT-Berufen, die von Ende 2012 bis Ende 2022 besonders dynamisch gestiegen ist und das hohe Beschäftigungswachstum in den sonstigen MINT-Berufen deutlich übertrifft. Datengetriebene Geschäftsmodelle werden in den vergangenen Jahren immer wichtiger. Eine Befragung des IW-Zukunftspanels macht dabei deutlich, dass der Nutzen datengetriebener Geschäftsmodelle kleinen und mittleren Unternehmen oft nicht klar ist. 53 % der Unternehmen nannten fehlende Fachexpert:innen als wichtiges Hemmnis für die Digitalisierung. Ein Großteil aller Unternehmen erwartet für die kommenden fünf Jahre einen steigenden Bedarf an IT-Expert:innen, besonders häufig erwarten dies innovierende Unternehmen (Anger et al., 2023).
Auch für den Klimaschutz sind Innovationen zentral, um die Geschäftsmodelle erfolgreich anzupassen. So schafft der Green Deal besonders aus Sicht der innovierenden Unternehmen Anreize, in klimafreundliche Technologien und Produkte zu investieren. Auswertungen des IW-Zukunftspanels zeigen, dass Unternehmen für die Entwicklung klimafreundlicher Technologien und Produkte in den kommenden fünf Jahren vor allem zusätzliche IT-Expert:innen und zusätzliche (Umwelt-)Ingenieur:innen benötigen. Besonders innovierende und größere Unternehmen erwarten dabei stark steigende Bedarfe an MINT-Akademiker:innen (Anger et al., 2023).
Als dritter und vierter Treiber werden Demografie und Deglobalisierung die Fachkräftebedarfe weiter erhöhen. Aktuell scheiden jährlich über 64.700 MINT-Akademiker:innen aus Altersgründen aus dem Arbeitsmarkt aus. In fünf Jahren wird bei gleichen altersspezifischen Erwerbstätigenquoten der jährliche demografische Ersatzbedarf um 7.400 auf 72.100 zunehmen, in zehn Jahren auf 77.900 steigen. Durch die Deglobalisierung zeigt sich eine zunehmende ökonomische Verunsicherung, auch ausgelöst durch deutliche Verschlechterungen bei Energiepreisen im Vergleich zu wichtigen Wettbewerbern wie den USA. Unternehmen stehen unter hohem Druck, sich durch Innovationen und neue Geschäftsmodelle an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen und krisenresilienter zu werden. Für zusätzliche Forschungsimpulse werden vor allem MINT-Fachkräfte benötigt: eigene Auswertungen auf Basis des Mikrozensus zeigen, dass im Jahr 2019 rund 77 % der Erwerbstätigen im Tätigkeitsfeld Forschung und Entwicklung eine MINT-Qualifikation hatten. Für eine Zunahme der FuE-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf 3,5 %, würden zusätzlich etwa 50.000 Personen mit einer MINT-Qualifikation benötigt (Anger et al., 2023).
Den steigenden Fachkräftebedarfen durch Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und Deglobalisierung stehen jedoch rückgängige MINT-Absolventenzahlen im Inland gegenüber. Betrug die Zahl der MINT-Studierenden im ersten Hochschulsemester im Studienjahr 2016 noch rund 198.000 und sank bis zum Studienjahr 2019 noch vergleichsweise langsam auf 192.500, so nahm die Zahl der Studienanfänger:innen danach stark auf 176.300 im Studienjahr 2022 ab (Statistisches Bundesamt, 2023). In den kommenden Jahren ist folglich mit einem Rückgang bei den Erstabsolvent:innen in den MINT-Fächern zu rechnen. Auch langfristig dürfte das Angebot an MINT-Kräften aus dem Inland weiter abnehmen, da sowohl die durchschnittlichen Mathematik-Kompetenzen bei Schüler:innen in den letzten Vergleichsarbeiten deutlich gesunken als auch die Ungleichheit gestiegen sind (Stanat et al., 2022). Die gesunkenen Kompetenzen könnten sich negativ auf das Potenzial an Studienanfänger:innen in den MINT-Fächern auswirken. Die Effekte der Coronapandemie dürften dabei zu weiteren Kompetenzeinbußen gerade in der Mathematik führen (Anger und Plünnecke, 2020).
Hohe Dynamik bei ausländischer Beschäftigung in akademischen MINT-Berufen
Für die Fachkräftesicherung in akademischen MINT-Berufen und zur Sicherung der Innovationskraft der Gesellschaft gewinnt die Zuwanderung daher in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung. Die Bedeutung der Zuwanderung für die Innovationskraft zeigt sich bei der Entwicklung der Patentanmeldungen. Nach Auswertungen der IW-Patentdatenbank nahm zwischen den Jahren 2010 und 2019 der Anteil der Erfindenden mit ausländischen Wurzeln unter Erfindenden mit Wohnsitz in Deutschland von 6,4 % auf 10,9 % zu. Besonders hoch ist die Dynamik dabei in Digitalisierungstechnologien und in der IT-Branche (Haag et al., 2022).
Auch zur Fachkräftesicherung in den MINT-Berufen trägt die Zuwanderung nach Deutschland bereits seit Jahren bei. Im August 2012 verbesserten sich die Rahmenbedingungen für die Zuwanderung durch die Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union und durch verstärkte Werbung um MINT-Akademiker:innen aus Drittstaaten. Mit ersten Erfolgen: von Ende Dezember 2012 bis Ende Dezember 2022 nahm die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in akademischen MINT-Berufen von 1.078.731 auf 1.594.874 und damit um 47,8 % zu. Unter ausländischen Personen stieg die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in akademischen MINT-Berufen von 69.612 auf 201.781 und damit um 189,9 %. Der Ausländeranteil an allen Beschäftigten in akademischen MINT-Berufen stieg dabei kontinuierlich von 6,5 % Ende 2012 auf 12,7 % Ende 2022 (Anger und Plünnecke, 2023).
Besonders dynamisch entwickelte sich dabei die Zuwanderung aus demografiestarken Drittstaaten. Während die Beschäftigung von Personen mit einer Staatsangehörigkeit aus der EU und gleichgestellten Ländern von Ende 2012 bis Ende 2022 um 91 % zunahm, stieg die Beschäftigung in akademischen MINT-Berufen von Personen mit einer Staatsangehörigkeit aus Drittstaaten (ohne Syrien, Afghanistan, Eritrea und Irak) im selben Zeitraum von 30.298 auf 121.810 und damit um 302 % (vgl. Abbildung 1). Besonders intensiv warb die Bundesregierung um MINT-Fachkräfte in Indien. Die Beschäftigtenzahl von Inder:innen in akademischen MINT-Berufen stieg innerhalb von zehn Jahren von 3.750 auf 27.566 und damit um 635 %. Relativ groß fiel auch der Beschäftigungszuwachs von Personen mit einer Staatsangehörigkeit aus Mittel- und Südamerika von 2.305 auf 9.869 und damit um 328 % und von Personen aus Nordafrika mit einem Zuwachs von 1.265 auf 8.054 (537 %) aus. Gerade die Regionen Indien, Lateinamerika und Nordafrika dürften auch langfristig gute Potenziale für eine qualifizierte Zuwanderung nach Deutschland bieten (Geis-Thöne, 2022a; 2023).
Abbildung 1
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in akademischen MINT-Berufen nach Staatsangehörigkeit
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der BA (2023).
Die Zuwächse bei der Beschäftigung in akademischen MINT-Berufen sind innerhalb Deutschlands dabei sehr unterschiedlich, wie exemplarisch ein Blick auf die regionale Beschäftigungsentwicklung in Ingenieurberufen zeigt. Der Ausländeranteil an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Ingenieurberufen stieg von Ende 2012 bis Ende 2022 von 6,0 % auf 10,5 %. Zwischen den Bundesländern gibt es dabei große Unterschiede: vergleichsweise hoch ist der Ausländeranteil in den Ingenieurberufen Ende 2022 in Berlin mit 19,0 %, in Hamburg mit 13,6 % und in Bayern mit 12,9 %, vergleichsweise gering in Sachsen-Anhalt (4,1 %) und Mecklenburg-Vorpommern (3,9 %). Erste ostdeutsche Bundesländer wie Brandenburg (7,4 %), Thüringen (6,4 %) und Sachsen (5,3 %) haben inzwischen einzelne westdeutsche Bundesländer wie Schleswig-Holstein (5,1 %) beim Ausländeranteil in Ingenieurberufen überholt.
Werden die 400 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland betrachtet, so fällt die Entwicklung der Ausländeranteile noch deutlich differenzierter aus. Unter den zehn Kreisen mit dem höchsten Ausländeranteil in Ingenieurberufen liegen vier in Bayern (Starnberg, Landkreis München, Landeshauptstadt München sowie Freising), drei in Hessen (Main-Taunus-Kreis, Offenbach am Main und Hochtaunuskreis) und einer in Thüringen (Ilm-Kreis), Brandenburg (Frankfurt an der Oder) und Berlin (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2
Ausländeranteil unter sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Ingenieurberufen; Top-10-Kreise
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der BA (2023).
Bei der dynamischen Entwicklung helfen größere internationale Unternehmen und der Standort einer technischen Universität. So nahm im Ilm-Kreis auch dank hoher Absolventenzahlen der TU Ilmenau der Ausländeranteil innerhalb von zehn Jahren von 4,8 % auf 22,3 % zu. In Frankfurt (Oder) stieg der Ausländeranteil von 6,8 % auf 21,2 %, in Berlin von 5,9 % auf 19,0 %. Innerhalb Ostdeutschlands weist zudem Gotha (Thüringen) mit Platz 30 und einer Zunahme von 0,7 % auf 13,7 % einen relativ hohen Ausländeranteil auf. Interessant ist auch die Entwicklung im Oder-Spree-Kreis, in dem der Ausländeranteil in Ingenieurberufen im Zehn-Jahresvergleich von 2,2 % auf 9,1 % zunahm. Der Anstieg erfolgte dabei sprunghaft im Zuge der Ansiedlung des Tesla-Werks (Anger und Plünnecke, 2023). Auch Ansiedlungen wie Intel in Magdeburg bieten daher Potenziale, internationale Fachkräfte für den Standort zu gewinnen. Durch diese zuwandernden Personen entstehen persönliche Netzwerke in deren Herkunftsregionen, die wiederum die Potenziale für weitere Zuwanderung verbessern und damit helfen können, die demografischen Herausforderungen der Region besser zu meistern.
Fazit
Zuwanderung gewinnt für die Sicherung der Fachkräfteverfügbarkeit und Innovationskraft an Bedeutung. Durch die Weiterentwicklung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes entstehen Chancen, die Zuwanderung von Fachkräften auch in den MINT-Berufen weiter zu stärken. Wichtig ist vor allem, die entsprechenden bürokratischen Prozesse bei der Zuwanderung zu verbessern und zu beschleunigen. Ferner sollte weiterhin gezielt für Zuwanderung nach Deutschland im Ausland geworben werden. Besonders erfolgreich ist die Zuwanderung über die Hochschulen, da hierdurch Netzwerke in demografiestarke Drittstaaten entstehen und international Studierende häufig MINT-Studiengänge wählen und nach dem Studium zu hohen Anteilen in MINT-Experten- und Spezialistentätigkeiten erwerbstätig sind (Geis-Thöne, 2022b). Daher sollten Hochschulen in Kooperation mit anderen Institutionen wie dem DAAD diese Studierenden eng begleiten, frühzeitig zum Bleiben motivieren und den Erwerb von Deutschkenntnissen unterstützen und Beratungs- und Vermittlungsangebote zur Arbeitsplatzsuche machen (acatech, 2023).
Literatur
acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, IPN – Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, Joachim Herz Stiftung (2023), MINT-Nachwuchsbarometer 2023, https://www.acatech.de/publikation/mint-nachwuchsbarometer-2023/ (1. September 2023).
Anger, C., J. Betz und P. Plünnecke (2023), MINT-Bildung stärken, Potenziale von Frauen, Älteren und Zuwandernden heben, Gutachten für BDA, MINT Zukunft schaffen und Gesamtmetall.
Anger, C. und A. Plünnecke (2020), Schulische Bildung zu Zeiten der Corona-Krise, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 21(4), 353-360.
Anger, C. und A. Plünnecke (2023), MINT-Zuwanderung – erste Leuchttürme auch im Osten, IW-Kurzbericht, 56.
BA – Bundesagentur für Arbeit (2023), Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit aus der Beschäftigtenstatistik.
Demary, V., J. Matthes, A. Plünnecke und T. Schaefer (2021), Gleichzeitig: Wie vier Disruptionen die deutsche Wirtschaft verändern, IW-Studie.
Geis-Thöne, W. (2022a), Zuwanderung aus Indien: Ein großer Erfolg für Deutschland. Entwicklung und Bedeutung für die Fachkräftesicherung, IW-Report, 1.
Geis-Thöne, W. (2022b), Fachkräftesicherung durch Zuwanderung über die Hochschule. Aktueller Stand und Handlungsansätze für die Politik, IW-Trends, 49(3), 67-88.
Geis-Thöne, W. (2023), Zuwanderung aus Lateinamerika. Erfolge und Potenziale für die Fachkräftesicherung, IW-Report, 25.
Haag, M., E. Kohlisch und O. Koppel (2022), Innovation und Vielfalt. Migration verhindert Rückgang bei Patentanmeldungen, IW-Kurzbericht, 88.
Stanat, P., S. Schipolowski, R. Schneider, K. A. Sachse, S. Weirich und S. Henschel (Hrsg.) (2022), IQB-Bildungstrend 2021, Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe: Erste Ergebnisse nach über einem Jahr Schulbetrieb unter Pandemiebedingungen.
Statistisches Bundesamt (2023), Nichtmonetäre hochschulstatistische Kennzahlen, Fachserie 11, Reihe 4.3.1.