Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Dieser Beitrag ist Teil von Das Haushaltsurteil und die Zukunft der Schuldenbremse

Wirtschaft und Gesellschaft sind aktuell mit Herausforderungen konfrontiert, die in diesem Ausmaß in der Nachkriegszeit noch nicht aufgetreten sind. Das trifft nicht nur private Haushalte und Unternehmen, sondern auch den Staat, dessen Stabilisierungs- und Verteilungsfunktion besonders gefordert ist. Dem Staat wachsen neue Aufgaben zu, die mit zusätzlichen Staatsausgaben verbunden sind. Daher hat eine intensive Suche nach (neuen) Finanzierungsmöglichkeiten eingesetzt. Insbesondere geht es um die Frage der Kreditfinanzierung und um deren Begrenzung durch die Schuldenbremse des Art. 115 GG. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG 2023) vom 15. November 2023 sind die Nutzungsmöglichkeiten dieses Instruments deutlich eingeschränkt worden. Das hat die Diskussion um eine Reform der verfassungsrechtlichen Regelung weiter angefacht.

Vor diesem Hintergrund kommt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (WB, 2023) genau zur rechten Zeit und kann eine willkommene Orientierungshilfe über die aktuelle Tagespolitik hinaus bieten. Allerdings begibt sich der WB damit auch in die tagespolitische Auseinandersetzung und ist der Gefahr ausgesetzt, dass seine Analysen und Argumente selektiv und verzerrt wiedergegeben und benutzt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Schuldenbremse, zu der vor allem die WB-Formulierungen „Fehlanreize“ und „Reform“ in der Öffentlichkeit Verbreitung gefunden haben und als Bestätigung der Kritiker der bestehenden Verfassungsregel herhalten müssen. Dagegen gehen die wichtigen Hinweise auf Grundprinzipien einer nachhaltigen Finanzpolitik weitgehend unbeachtet unter:

  • „Eine Schuldenbremse ist grundsätzlich sinnvoll und notwendig, um der Kurzfristorientierung der Politik entgegenzuwirken, insbesondere der Tendenz, die Kosten heutiger Staatsausgaben auf zukünftige Generationen zu verlagern“ (WB, 2023, 30). „Schuldenregeln sind ein Mittel, diese Form des Politikversagens zu vermeiden“ (WB, 2023, 6).
  • „Regelmäßig wiederkehrende Aufgaben des Staates sind durch Steuern zu finanzieren“ (WB, 2023, 30).
  • „Ein langfristig steigender spezifischer Ausgabenbedarf … sollte über Steuern und nicht über Schulden finanziert werden“ (WB, 2023, 7).
  • „Für eine Rückkehr zu einer nachhaltigen Finanzpolitik ist es ... unumgänglich, Prioritäten im Bundeshaushalt zu setzen, anstatt auf dem Wege der Verschuldung den Versuch zu unternehmen, die tatsächliche Ressourcenkonkurrenz zu verschleiern“ (WB, 2023, 30).

Der Vorschlag des Beirats: Goldene Regel Plus

Der Vorschlag zur Reform der Schuldenbremse geht von folgendem Grundgedanken aus: Mit der Verfassungsregel des Art. 115 GG wird die Höhe der Kreditaufnahme wirksam begrenzt und partiell der diskretionären Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers entzogen. Damit verstärkt sich aber – als eine Art Ausweichreaktion – die ohnehin vorhandene Neigung von Parlamentariern und Parteien, die Staatsausgaben mit „konsumtivem“ Charakter zu bedienen, zu Lasten der eher langfristig wirkenden „investiven“ Staatsausgaben. Die Schuldenbremse befördert so – als unbeabsichtigte Nebenwirkung – einen Strukturbias in den öffentlichen Ausgaben. Gerade für Parteien, die ihr Wählerpotenzial vor allem bei den unteren Einkommens- und Vermögensschichten haben, ist die Erhaltung und Steigerung der (konsumtiven) Sozialleistungen von essenzieller Bedeutung. Wenn Steuererhöhungen nicht durchsetzbar sind und zugleich der transformationsbedingte Investitionsbedarf steigt, scheint der Weg in die Staatsverschuldung unvermeidbar, d. h. der Angriff auf die „investitions-feindliche“, „nicht-zukunftsfähige“ Schuldenbremse.

Die politik-immanente Verzerrung zulasten der zukunftsbezogenen Staatsausgaben, will der Beirat nun durch eine weitere, ergänzende Regel abschwächen. Da sich die Begrenzung der konsumtiven Ausgaben im politischen Prozess als schwer durchsetzbar erweist, soll den investiven Ausgaben ein Finanzierungsvorteil verschafft, d. h. es sollen „die Anreize für öffentliche Investitionen verstärkt“ werden. Der Anreiz soll darin bestehen, dass für öffentliche Investitionen, eine zusätzliche Möglichkeit der Kreditfinanzierung geschaffen wird – ohne im Übrigen die Schuldenbremse anzutasten.

Der Reformvorschlag lautet (Goldene Regel Plus1): Jenseits der Schuldenbremse ist zusätzliche Kreditfinanzierung zulässig unter zwei Restriktionen: (1) Nur für Nettoinvestitionen, d. h. die Erhaltung des bestehenden Kapitalstocks muss aus regulären Haushaltsmitteln finanziert werden. (2) Nur „wenn der investive Charakter durch eine unabhängige Institution bestätigt wird“ (WB, 2023, 31).

Die selektive Lockerung der Schuldenbremse wird demnach nur dann befürwortet, wenn es gelingt, diese beiden Bedingungen verlässlich zu erfüllen. Es müsste also eine unabhängige Institution geben, die dazu in der Lage ist, objektiv zwischen investiven und konsumtiven Staatsausgaben zu unterscheiden. Im Folgenden analysieren wir in diesem Beitrag die Realisierbarkeit dieser Bedingungen.

Gestaltung und Umsetzbarkeit der Goldenen Regel Plus

(1) Die Unterscheidung zwischen investiven und konsumtiven Staatsausgaben: Die Unterscheidung zwischen investiv und konsumtiv hat sich zwar eingebürgert, ist aber de facto nicht objektiv möglich, sondern basiert entweder auf statistischen Definitionen oder willkürlichen Setzungen. Dieses Problem ist in der finanzwissenschaftlichen Literatur gut dokumentiert (WB-BMF, 1980; Littmann, 1982; Kurz und Rall, 1983) und wird auch vom WB gesehen. Mit Bezug auf Art. 115 GG alte Fassung: „Die Grenze zwischen öffentlichem Konsum und öffentlicher Investition ist nicht klar definiert, was zum Missbrauch der Regel einlud“ (WB, 2023, 12). Orientiert man sich bei der Abgrenzung an statistischen Definitionen, so geht dies „auf Kosten einer ökonomisch sinnvollen Abgrenzung zukunftsbezogener Ausgaben: So haben Bildungsausgaben Investitionscharakter, auch wenn das in der Statistik nicht so festgehalten wird“ (WB, 2023, 14).

(2) Investiv als Bewertungsmaßstab: Die Klassifizierung als investiv ist keine hinreichende Begründung für die Priorisierung einer Staatsausgabe (eines Projekts) und für eine Kreditfinanzierung:

a) Wenn man das unternehmerische Investitionsnarrativ anwenden will, muss die Ausgabe Mehreinnahmen in der Zukunft generieren, die mindestens ausreichen, um den Schuldendienst zu tragen. Ein solcher Nachweis ist praktisch kaum zu führen. Wenn überhaupt stellt sich eine Art „Umwegrentabilität“ ein, über ein höheres BIP und insgesamt höhere Steuereinnahmen. Wer das unternehmerische Investitionsnarrativ verwendet, sollte sich auch in Erinnerung rufen, dass Investitionen sich als Fehlinvestitionen erweisen können. Das Risiko von Fehlentscheidungen wird im Unternehmenssektor klar sanktioniert und es wäre zu fragen, welche Entsprechung es dazu im öffentlichen Bereich gibt. Wie wird sichergestellt, dass nur diejenigen öffentlichen Investitionen realisiert werden, die den höchsten Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung erbringen? Wem werden Fehlentscheidungen angelastet?

b) Für die Ausgabenentscheidungen im Rahmen einer nachhaltigen Finanzpolitik ist es nicht ausreichend, die Wirkungen auf das physische Kapital (plus geistiges Eigentum) zu betrachten. Vielmehr konkurrieren Projekte miteinander, die positive Beiträge zu anderen Teilen des volkswirtschaftlichen Kapitals erbringen: zum Humankapital (Bildung), zum Naturkapital (Ökosystemdienstleistungen), zum Sozialkapital (Zusammenhalt) oder zum institutionellen Kapital (Rechtssicherheit). Wer die langfristigen Wirkungen verschiedener Staatsausgaben bewerten und priorisieren will, muss diese Dimensionen berücksichtigen (vgl. auch Stiglitz et al., 2010). Nur dann wird ein wirksamer und effizienter Beitrag zur Zukunftsfähigkeit geleistet. Welche Projekte die höchste „Grenzleistungsfähigkeit“ für nachhaltige Entwicklung haben, ist eine politische Entscheidung (die gegebenenfalls durch Kosten-Nutzen-Analysen unterstützt werden kann).

(3) Kreditfinanzierung nur für Nettoinvestitionen: Damit diese Schranke wirksam wird, muss es gelingen, die Nettoinvestitionen eindeutig zu bestimmen. Dazu wird von den (problemlos messbaren) Bruttoinvestitionen die Abschreibung abgezogen. Das Problem liegt in der Bestimmung der Abschreibungen. Folgt man – jenseits von statistischen Konventionen – wiederum dem unternehmerischen Investitionsnarrativ, so ist das keine allein technisch bestimmte Größe (Verschleiß), sondern eine unternehmerische Entscheidung, die unter anderem von der ökonomischen Obsoleszenz abhängt (Bewertung von „stranded assets“). Daher wird sich die Umgehungsfantasie und die Kreativität auf die Bestimmung der Abschreibungen verlagern. Wenn in einem Jahr die Abschreibungen „ausgesetzt“ würden, könnten die gesamten Bruttoinvestitionen kreditfinanziert werden. Daher muss auch an dieser Stelle die „unabhängige Institution“ tätig werden und wird mit einer weiteren, schier unlösbaren Aufgabe betraut.2 Die praktischen Auswirkungen auf die Schuldenbremse wären zunächst gering, da in der Vergangenheit die Nettoinvestitionen sehr gering waren.3

(4) Institutionelles Design, Governance-Struktur (WB, 2023, 14): „Die unabhängige Institution“ ist von zentraler Bedeutung im Vorschlag, existiert aber nicht und müsste erst noch geschaffen werden. Vorgeschlagen wird z. B. eine entsprechende Erweiterung der Funktionen des Bundesrechnungshofs oder ein Expertengremium in Anlehnung an die Gemeinschaftsdiagnose (WB, 2023, 15 f.).4 Offen ist, welche Wirkung die Entscheidungen dieser In­stitution haben sollten. Ohne Entscheidungs­befugnis (Veto-Recht) „allein durch die Herstellung von Öffentlichkeit“ (WB, 2023, 15) bleibt die Institution zahnlos, kaum mehr als ein weiteres Beratungsgremium. Wenn sie aber die Entscheidungsgewalt über Investition oder Nicht-Investition bekommen soll, müsste das Parlament selbst einen Schritt in Richtung Expertokratie beschließen. Das wäre eine erhebliche Einschränkung der parlamentarischen Entscheidungsfreiheit (Budgetrecht). Daher wird ein nicht unerheblicher Diskussionsbedarf ausgelöst und ist nicht mit einer zeitnahen Umsetzung zu rechnen.

(5) Inflationswirkung: Als weitere Schranke einer Ausweitung der Kreditfinanzierung sieht der WB mögliche Inflationswirkungen, die durch eine Überforderung des Produktionspotenzials aufgrund zusätzlicher schuldenfinanzierter Staatsausgaben entstehen können.5 Daher stellt sich als weitere Aufgabe, die (potenziellen) Inflationswirkung zu analysieren und zu bewerten. Zu klären wäre, in welchem Verhältnis diese Schranke zu den anderen Schranken steht und wie das Zusammenspiel institutionell verankert sein sollte. Wer würde für diese Bewertung „zuständig“ sein? Die gleiche Institution, die den „investiven Charakter“ bestätigt oder eine andere Institution, mit der sich dann Abstimmungsbedarf ergäbe. Damit würde Rechtsunsicherheit geschaffen, ein gefundenes Fressen für jede klagefreudige Oppositionspartei und eine anhaltende Verunsicherung für Unternehmen und Kapitalmärkte. Zudem wären bei einer Überforderung des Produktionspotenzials neben den inflationären Effekten auch Zinssteigerungseffekte zu berücksichtigen, die insgesamt zu negativen Auswirkungen auf die personelle Einkommensverteilung führen würden.6

(6) Eigendynamik des politischen Prozesses (vgl. dazu Blankart, 2017): Wenn die bis hierher aufgezeigten Probleme ignoriert werden und der WB-Vorschlag als Unterstützung für eine „ergebnisoffene“ Diskussion über die „Reform“ der Schuldenbremse verstanden wird, stellt sich die Frage, in welche Richtung ein solcher Diskussionsprozess verlaufen würde. Der WB scheint überzeugt, dass er der Idee einer rationalen Wirtschaftspolitik folgen und zu konstruktiv-moderaten Vorschlägen wie der Goldenen Regel Plus führen wird. Dabei haben in der politischen Arena schon sehr viel weiter reichende „Reform“-Vorschläge an Boden gewonnen – von einer pauschalen Erhöhung der strukturellen Verschuldungskomponente (z. B. auf 1,5 % des BIP) bis zur ersatzlosen Abschaffung der Schuldenbremse. Das Risiko eines „Dammbruchs“ und des Rückfalls in die alte „Freibier-Mentalität“ ist nicht gering. Ohne einen ausgereiften Vorschlag sollte daher keine Debatte in den politischen Raum getragen werden. So lange gilt es, die Verfassungsregel zu verteidigen – und die evolutorische Weisheit, die darin zum Ausdruck kommt. Durch die Diskussion um eine Reform der Schuldenbremse wird zudem der weit verbreiteten Abneigung gegen die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Problemen der Haushalts- und Finanzpolitik Vorschub geleistet. Das Kernproblem hat der WB klar erkannt und formuliert: die fortgesetzte Verlagerung von Lasten auf zukünftige Generationen. Das gilt für die Sozialversicherungssysteme und auch für die ökologische Transformation.

(7) Fazit: In etwas freier Interpretation lautet der Vorschlag des WB: Unter der Annahme, dass es nur um Nettoinvestitionen geht und dass es eine unabhängige Investitions-Institution gibt, könnte man die Schuldenbremse selektiv lockern. Da aber nicht erkennbar ist, wie die Annahmen erfüllt werden könnten, folgt: Die Schuldenbremse kann (leider) nicht gelockert werden – jedenfalls so lange nicht, bis diese Bedingungen erfüllt sind. Faktisch spricht sich der WB also gegen eine Reform der Schuldenbremse aus. Mit der Wenn-Dann-Konstruktion verschwimmt aber die Klarheit der Aussage. Die Annahmen und Ausgangsbedingungen werden „vergessen“, als erfüllt bzw. leicht erfüllbar angesehen. Die unabhängige Institution steht vor sachlich nicht lösbaren Abgrenzungs- und Bewertungsproblemen. Wie ein institutionelles Design aussehen könnte, das hohe Wirksamkeit garantiert, ist nicht erkennbar. Tatsächlich gibt es aktuell keine belastbare Begründung für eine Änderung der Verfassungsregel. Statt diese Klarheit zu schaffen, erzeugt der WB mit seinem Reformvorschlag eher Verwirrung als Orientierung.

Fazit und Perspektiven

Bei anhaltender „Wachstumsschwäche“ werden kommende Krisen und exogene Schocks Wirtschaft und Gesellschaft umso härter treffen. Angesichts des enormen Krisenpotenzials und der Zuspitzungen, die noch vor uns liegen, wird es darauf ankommen — um es mit (Karl) Schiller auszudrücken – das „Pulver trocken zu halten“. Wenn dann die akute Notsituation eintritt und wieder die Schuldenbremse ausgesetzt werden muss, kommt es auf eine „solide Lage der öffentlichen Finanzen“ (WB, 2023, 30) an.

Mit Fokus auf die ökologische Transformation der nächsten Jahrzehnte ist festzustellen, dass die Flankierung des anstehenden Strukturwandels zu den „wiederkehrenden Aufgaben des Staates“ gehört. Sie ist daher durch reguläre Einnahmen (Steuern) zu finanzieren – soweit es nicht gelingt, (ökologisch schädliche) Staatsausgaben zu kürzen. Das ist die anstehende Debatte, auf die auch von Seiten der Wissenschaft nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden kann. In die richtige Richtung geht der Vorschlag des WB „eine zeitlich über die mittelfristige Finanzplanung hinausgehende Finanzplanung zu entwickeln, die den Zeitraum der zwei folgenden Legislaturperioden umfasst“ (WB, 2023, 30). Allerdings geht es in der Transformation um den deutlich längeren Zeithorizont von zwei Jahrzehnten (z. B. Klimaneutralität bis 2045). Wenn z. B. angenommen wird, dass in den öffentlichen Haushalten in diesem Zeitraum zusätzliche Ausgaben von 50 Mrd. Euro p. a. erforderlich sind, so geht es um die Finanzierung von 1.000 Mrd. Euro über 20 Jahre. Wie kann das geleistet werden, ohne die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte zu überfordern? Wenn dazu unterschiedliche Szenarien gerechnet werden, kommt es vor allem auf die Annahmen über das weitere Wirtschaftswachstum an (vgl. dazu Werding, 2020). Vollkommen naiv und verantwortungslos wäre es, auf ein „Herauswachsen“ aus den Problemen zu setzen. Das hat auch der Sachverständigenrat deutlich gemacht, der langfristig nur noch von einer Wachstumsrate von 0,4 % p. a. ausgeht (SVR, 2023) – und selbst das dürfte noch zu optimistisch sein (abhängig insbesondere vom Wanderungssaldo).

Die ehrliche Botschaft von Wissenschaft und Politik muss sein, dass unser tradiertes Wohlstandsmodell nicht mehr trägt. Wir können unseren Wohlstand nicht mehr auf den fortgesetzten Anstieg der Nettoeinkommen bauen und müssen die Debatte um „Wohlstand erneuern“ (BMWK, 2023) weit intensiver und grundsätzlicher führen (Kurz, 2023). Dabei wird es mehr denn je auf einen starken, gestaltenden Staat ankommen (vgl. auch WBGU, 2011), der ökologische Grenzen setzt und der auch seine Ausgaben zukunftsfähig ausrichtet. Die tradierte Unterscheidung zwischen investiven und konsumtiven Staatsausgaben ist dabei wenig hilfreich.

Das vom WB verfolgte Ziel, in den öffentlichen Haushalten den Hang zulasten der als zukunftsgerichtet (investiv) bewerteten Staatsausgaben zu verringern, kann nicht durch eine selektive Lösung der Schuldenbremse erreicht werden. Es muss auf anderen Wegen verfolgt werden. Das ist insbesondere der beschwerliche Weg des gesellschaftlichen Diskurses über (interpersonelle und intertemporale) Verteilungsgerechtigkeit, über die Folgen zu hoher Subventionen und Sozialstaatsausgaben bei gleichzeitig zu geringen Ausgaben für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG). Dazu müssen immer wieder gut organisierte Interessengruppen bekämpft und zurückgedrängt werden – ganz so wie es schon Walter Eucken (1952) gesehen und gefordert hat.

  • 1 Die Goldene Regel besagt, dass öffentliche Investitionen kreditfinanziert werden können; das „Plus“ steht dafür, dass die Umsetzung durch eine unabhängige Institution kontrolliert wird (WB, 2023, 15).
  • 2 „Die Berechnung der Abschreibungen wäre ebenfalls durch solch ein Gremium überprüfbar, um eine korrekte Ermittlung der Nettoinvestitionen vorzunehmen“ (WB, 2023, 15).
  • 3 „In den letzten Jahrzehnten schwankte die öffentliche Nettoinvestitionsquote um 0 Prozent, in vielen Jahren waren die öffentlichen Nettoinvestitionen sogar negativ“ (WB, 2023, 15).
  • 4 Als ein weiteres gut funktionierendes Beispiel könnte der Expertenrat für Klimafragen genannt werden (https://www.expertenrat-klima.de/).
  • 5 „Zudem sollte der Gefahr der Auslösung oder Verstärkung eines inflationären Prozesses Rechnung getragen werden“ (WB, 2023, 31).
  • 6 Durch Steuerfinanzierung würden eher die oberen Einkommensschichten belastet (progressiv), die Kreditfinanzierung (mit Zinsanstieg) wirkt eher regressiv, weil Zinszahlungen primär den oberen Einkommensschichten zufließen (vgl. dazu Kurz und Rall, 1983).

Literatur

Blankart, C. B. (2017), Öffentliche Finanzen in der Demokratie. Eine Einführung in die Finanzwissenschaft, 9. Aufl., Vahlen.

BMWK – Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023), Jahreswirtschaftsbericht 2023: Wohlstand erneuern, https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/ Publikationen/Wirtschaft/jahreswirtschaftsbericht-2023.html (14. Dezember 2023).

BVerfG – Bundesverfassungsgericht (2023), Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ist nichtig, Pressemitteilung Nr. 101/2023, 15. November https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/bvg23-101.html (14. Dezember 2023).

Eucken, W. (1952), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl. 1990, Mohr Siebeck.

Kurz, R. (2023), Wachstumsunabhängigkeit: Transformation und Wohlstand erneuern – ohne Wachstum, Wirtschaftsdienst, 103(7), 445-449, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2023/heft/7/beitrag/wachstumsunabhaengigkeit-transformation-und-wohlstand-erneuern-ohne-wachstum.html (14. Dezember 2023).

Kurz, R. und L. Rall (1983), Interpersonelle und intertemporale Verteilungswirkungen öffentlicher Verschuldung. Gutachten im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft mit ökonometrischen Simulationsanalysen von J. Fronia, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung.

Littmann, K. (1982), Artikel „Öffentliche Investitionen“, in G. Fischer et al. (1982), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 9, 812-825.

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2023), Wachstumsschwäche überwinden – in die Zukunft investieren, Jahresgutachten 2023/24.

Stiglitz, J. E., A. Sen und J.-P. Fitoussi (2010), Mismeasuring Our Lives. Why GDP Does Not Add Up. Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, New Press.

WB-BMF – Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (1980), Gutachten zum Begriff der öffentlichen Investitionen. Abgrenzungen und Folgerungen im Hinblick auf Artikel 115 Grundgesetz, Schriftenreihe des BMF, (29).

WB – Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023), Finanzierung von Staatsaufgaben: Herausforderungen und Empfehlungen für eine nachhaltige Finanzpolitik.

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2011), Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation.

Werding, M., K. Gründler, B. Läpple, R. Lehmann, M. Mosler und N. Potrafke (2020), Modellrechnungen für den Fünften Tragfähigkeitsbericht des BMF, Studie im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen, ifo Forschungsberichte, 111.

Title:Financing Government Tasks: Sustainable Fiscal Policy and the Debt Brake

Abstract:Multiple crises and ecological transformation are driving an intense debate about government credit financing and its restriction by the constitutional debt brake. The Board of Academic Advisors at the BMWK has presented a proposal on how more flexibility would be possible without undermining the indispensable disciplining function of the debt brake. The Board recommends a selective relaxation of the debt brake linked to conditions that are virtually impossible to fulfil (net investment, independent institution, no inflationary effects). Therefore, regarding the fact that the Board has formulated a justification for the debt brake: As long as there is no practicable reform proposal, there is no reason to change the constitution.

Beitrag als PDF

© Der/die Autor:in 2024

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2024-0011