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Dieser Beitrag ist Teil von Das Haushaltsurteil und die Zukunft der Schuldenbremse

Seit dem 15. November 2023 ist die Finanzpolitik des Bundes in erster Linie damit beschäftigt, die finanziellen Folgen zu bewältigen, die sich aus der vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Nichtigkeit des zweiten Nachtragshaushalt 2021 ergeben. Im Entwurf des Haushaltsplans für das Jahr 2024 war geplant, im Kernhaushalt Schulden entsprechend der Obergrenze der Schuldenregel des Grundgesetzes aufzunehmen, die für das Jahr 2024 mit knapp 17 Mrd. Euro angesetzt wurde. Auch wenn man das Sondervermögen Bundeswehr außer Acht lässt, das eine eigene Legitimation im Grundgesetz hat, waren zusätzlich Defizite in den sogenannten Sondervermögen des Bundes in einem Umfang von 52 Mrd. Euro geplant (Deutsche Bundesbank, 2023, 71). Mithin sollte die Verschuldung rund viermal so hoch sein, wie es die Obergrenze der Schuldenregel des Grundgesetzes vorsieht. Die Finanzierung sollte weitgehend durch Kreditermächtigungen erfolgen, die wegen der Notlagen der Jahre 2020 bis 2022 bewilligt wurden und ungenutzt blieben. Diese Finanzierung ist jetzt nicht mehr möglich.

Die Frage, wie die Finanzpolitik in diese schwierige Lage geraten ist, ist allerdings ebenso wichtig. Ist etwa die Schuldenbremse von vornherein eine Fehlkonstruktion? Der Bundeswirtschaftsminister scheint dieser Ansicht zu sein, wenn er nach dem Urteil die Konstruktion der Schuldenbremse als „wenig intelligent“ und „sehr statisch“ infrage stellt (Tagesschau, 2023). Dies ähnelt der Kritik, die etwa der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi am Stabilitäts- und Wachstumspakt im Jahr 2002 äußerte: „I know very well that the stability pact is stupid, like all decisions which are rigid“ (Le Monde, 2002). Eine andere Erklärung für den Vorgang setzt daran an, dass die Regeln der Verfassung nicht etwa unintelligent, sondern im Gegenteil zu kompliziert sind.1 Das Urteil wäre somit ein exogener Schock. Nach dieser Sicht hat niemand das Urteil erwarten können. Zumindest aber hättet man nicht damit rechnen können oder müssen, dass Karlsruhe so weit gehen würde, den zweiten Nachtragshaushalt 2021 für nichtig zu erklären. Eine eigene Verantwortung liegt auch hier in weiter Ferne, eher schon sieht man die Verantwortung bei der Opposition, die gegen den zweiten Nachtragshaushalt 2021 geklagt hatte.

Es ist allerdings nicht nur fragwürdig, dem Gericht, der Verfassung oder dem Kläger die Schuld an der aktuellen Haushaltskrise zu geben. Das Kernproblem einer Kommunikation, die letztlich der gesetzlichen Regelung die Schuld an der aktuellen Haushaltskrise gibt, ist aber, dass sie den klaren Blick auf die Geschehnisse verstellt und eine adäquate Reaktion der Finanzpolitik verhindert. Tatsächlich lässt sich aus dem Umstand, dass die Planungen der Regierungen jetzt kurzfristig revidiert werden müssen, nicht ableiten, dass die Regeln verantwortlich sind. Denn das Überschreiten einer Regel ist ohne einen Akteur, der sich außerhalb der Regeln bewegt, nicht möglich. Warum also hat sich die Finanzpolitik außerhalb der Regeln der Verfassung bewegt? Und ist mittlerweile eine Kurswende eingeleitet?

Wie kam es zur Haushaltskrise?

Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition vom 7. Dezember 2021 sieht bereits vor, die ungenutzten Kreditermächtigungen aus der Notlage des Jahres 2021 an den Klima- und Transformationsfonds (KTF) zu übertragen. Dies eröffnete die Möglichkeit, die drei Parteien mit sehr unterschiedlichen Ausrichtungen und Vorstellungen zusammenzubringen, und es schien so möglich, große Finanzmittel für die Politik zu nutzen, ohne Steuern zu erhöhen oder Ausgaben zu kürzen.

Allerdings stand ein Detail der Schuldenbremse im Wege. Defizite der Sondervermögen wurden bis dato bei der Ermittlung der Nettokreditaufnahme im Rahmen der Schuldenbremse angerechnet. Diese Regelung war zuvor eingeführt worden, um eine Umgehung der Regelungen zur Obergrenze für das strukturelle Defizit zu verhindern. So hieß es in der mittlerweile geänderten Fassung des Kompendiums zur Schuldenbremse des Bundes: „Diese Regelgrenze des Artikels 115 GG kann zudem nicht mehr durch die Einrichtung von Sondervermögen umgangen werden, da alle seit 2011 gegründeten Sondervermögen im Rahmen der Schuldenbremse berücksichtigt werden“ (BMF, 2015).

Daher verknüpfte das zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 die Übertragung der ungenutzten Kreditermächtigungen mit einer Änderung der Buchungssystematik zu den Sondervermögen. Konkret wurde festgelegt, dass künftig nicht mehr die in einem Jahr anfallenden Defizite in den Sondervermögen bei der Ermittlung der Nettokreditaufnahme des jeweiligen Jahres berücksichtigt werden. Vielmehr sollte künftig lediglich berücksichtigt werden, ob in dem jeweiligen Jahr einem Sondervermögen Kreditermächtigungen zugeführt werden. Diese Regelung bewirkt eine vorgezogene Verbuchung der künftigen Defizite der Sondervermögen. Sie sollte erreichen, dass Ausgaben in diesen Extrahaushalten durch die Aufnahme von Schulden finanziert werden können, ohne dass die hieraus resultierenden Defizite auf die nach der Schuldenregel des Grundgesetzes maximal zulässigen Nettokreditaufnahme angerechnet werden. Man hat zwar Gründe benannt, warum diese Buchungsregelung sinnvoll sein könnte. Im Koalitionsvertrag wurde etwa von einer doppelten Erfassung der Mittelabflüsse aus den Sondervermögen gesprochen. Solche Argumente sind aber irreführend; der Zweck der Änderung lag darin, die Kreditermächtigungen auch abseits der Notlage nutzen zu können.2

Tatsächlich war die ursprüngliche Verbuchung der Sondervermögen in der Schuldenbremse sachgerecht. Sie entspricht der Verbuchung bei den europäischen Fiskalregeln. Hier werden die Defizite in den Extrahaushalten des Bundes und der Länder bei der Berechnung des gesamtstaatlichen Defizites voll einbezogen. Nach der europäischen Finanzkrise wurde im Fiskalvertrag festgelegt, dass die europäischen Fiskalregeln durch nationale Fiskalregeln abgesichert werden müssen. Dieser Verpflichtung kommt Deutschland mit der Schuldenbremse nach. Daher ist die Anrechnung der Defizite in den Extrahaushalten Voraussetzung dafür, dass die Schuldenbremse ihren Kernauftrag erfüllen kann: die Einhaltung der europäischen Fiskalregeln im deutschen Föderalstaat abzusichern.

Frühe Warnungen wurden ignoriert

Es hat von Anfang an Kritik an der Umgehungskonstruktion gegeben. Neben der Kritik seitens der Opposition gab es Warnhinweise von der Justiz. Noch während der laufenden Koalitionsverhandlungen entschied der Hessische Verfassungsgerichtshof am 27. Oktober 2021, dass das „Gute-Zukunft-Sicherungsgesetz“ mit der Verfassung des Landes nicht vereinbar ist (zum Urteil siehe Henneke, 2022). Hier wurde ebenso ein Sondervermögen eingerichtet, das insbesondere auch Investitionen in Klimaschutz und digitale Transformation finanzieren sollte. Die Parallelen liegen auf der Hand.

Warnungen gab es auch im Stabilitätsrat, der die Schuldenbremse überwachen soll und dem die Finanzminister des Bundes und der Länder und der Bundeswirtschaftsminister angehören. Die Warnungen kamen aber nicht von den Mitgliedern des Stabilitätsrats, sondern vom unabhängigen Beirat des Stabilitätsrats und seinen Mitgliedern. Der Beirat warnte bereits im Herbst 2021 davor, die ungenutzten Kreditermächtigungen in einem Sondervermögen zu speichern und die Buchungsregeln der Schuldenbremse zu ändern (Unabhängiger Beirat des Stabilitätsrats, 2021; Henneke, 2021). Er sah eine Aushöhlung der Schuldenbremse und erhebliche verfassungsrechtliche Risiken. Nun hat der unabhängige Beirat zwar die Aufgabe, den Stabilitätsrat bei der Überwachung der europäischen Fiskalregeln zu unterstützen. Die Überwachung der Schuldenbremse obliegt aber allein dem Stabilitätsrat. Insofern konnte die Kritik des Beirats als mandatsfern ignoriert werden. Nach den Protokollen zu urteilen, sind im Stabilitätsrat selbst die zahlreichen Umgehungen der Schuldenbremse nie problematisiert worden. Das überrascht nicht, weil sich hier die Finanzpolitik gleichsam selbst überwacht. Eine unabhängige Überwachung der Schuldenbremse ist in Deutschland nicht vorgesehen, aber – angesichts der aktuellen Situation – durchaus empfehlenswert.

Deutlich gewarnt hat auch der Bundesrechnungshof (2022), der früh auf erhebliche verfassungsrechtliche Risiken hinwies und sowohl die Übertragung der Kreditermächtigungen als auch die Änderung der Buchungsregeln zurückwies.

Die Warner haben Recht behalten. Die Lektion dieses Abenteuers der Finanzpolitik ist klar. Eine nachhaltige und für die privaten Akteure verlässliche Finanzpolitik kann nur innerhalb der Regeln der Verfassung betrieben werden. Versucht die Regierung, die ihr gesetzten Grenzen für die Verschuldung zu umgehen und Verschuldungsspielräume zu entwickeln, die nicht vorgesehen sind, erodiert sie nicht nur die Glaubwürdigkeit dieser Grenzen und damit die Glaubwürdigkeit des Staates. Sie geht auch hohe finanzpolitische Risiken ein. Wenn sich diese Risiken materialisieren, beeinträchtigt das die wirtschaftliche Entwicklung. Das sehen wir nun und die Institute sind schon dabei, die konjunkturellen Folgen abzuschätzen; ifo (2023) und IfW (2023) sehen etwa Wachstumsrückgänge von 0,2 % oder 0,3 % im Jahr 2024.

Gravierender aber sind die Zweifel an der Nachhaltigkeit der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Private Akteure lernen jetzt, dass sie damit rechnen müssen, dass politische Ankündigungen über Maßnahmen, z. B. Fördermaßnahmen für bestimmte private Investitionen, im Nachhinein revidiert werden, weil die Maßnahmen nicht korrekt institutionell ausgestaltet wurden. Gerade im Hinblick auf mittel- und langfristige Ziele der Politik, etwa die Sicherung angemessenen Wachstums oder die Dekarbonisierung der Energieversorgung, ist solche Unsicherheit überaus problematisch. Sie verringert die Möglichkeiten der Politik, Anreize zu setzen, insbesondere Anreize für langfristig bindende Entscheidungen. Von daher wäre es jetzt wichtig, die finanzpolitische Unsicherheit zurückzuführen.

Anpassungen der Planungen zum Bundeshaushalt

Zu den ersten Schritten der Regierung nach dem Karlsruher Urteilsspruch gehörte es, dem Bundestag noch einen Nachtragshaushalt 2023 vorzulegen, was bereits am 27. November 2023 erfolgte. Der Entwurf für den Nachtragshaushalt war mit einem Notlagenbeschluss und weiteren gesetzlichen Anpassungen begleitet. So wollte man insbesondere erreichen, dass der Einsatz von Notlagenkrediten im laufenden Haushaltsjahr 2023 doch noch verfassungskonform ist.

Bei der Ermittlung der Nettokreditaufnahme für das Jahr 2023 folgte man aber unverändert der im Zuge des zweiten Nachtragshaushalts 2021 eingeführten geänderten Buchungsregel. Das Bundesverfassungsgericht (2023, Rn. 182) hat allerdings ausdrücklich bekräftigt, dass im Hinblick auf die Schuldenbremse eine Einheit von Kernhaushalt und unselbständigen Sondervermögen gilt. Die Defizite in den Sondervermögen zählen zur Nettokreditaufnahme des Bundes in dem Jahr hinzu, in dem die Ausgaben kassenwirksam sind.

Nachdem der Nachtragshaushalt am 15. Dezember 2023 kurz vor Ultimo noch vom Bundestag verabschiedet wurde, rückt jetzt der Bundeshaushalt 2024 in den Blick. In der aktuellen Situation, in der die Regierung nicht über die Mehrheiten verfügt, die Schuldenregel der Verfassung zu ändern, geht es natürlich darum, den Ausgabenpfad der Finanzpolitik an die gegebenen institutionellen Beschränkungen anzupassen. Es kommt in der aktuellen Situation aber nicht nur darauf an, irgendwie einen Haushalt aufzustellen, der die Grenze für die Nettokreditaufnahme formal einhält. Es kommt vielmehr in besonderer Weise auf das Wie an. Nachdem die Finanzpolitik der aktuellen Bundesregierung auf eine Umgehung der Schuldenbremse gegründet ist, müsste sich die Finanzpolitik nun ein Stück weit neu erfinden und einen Haushalt vorlegen, der die gesetzten institutionellen Beschränkungen penibel beachtet und die Vorgaben der Finanzverfassung eindeutig erfüllt. Nur auf diese Weise kann die finanzpolitische Unsicherheit wieder deutlich reduziert werden.

Die Planungen sind derzeit noch nicht abgeschlossen. Am 19. Dezember 2023 hat die Bundesregierung aber wesentliche Eckpunkte vorgestellt (Presse und Informationsamt der Bundesregierung, 2023). Am 8. Januar 2024 wurde dann ein Entwurf für ein zweites Haushaltsfinanzierungsgesetz 2024 eingebracht. Diese Pläne beinhalten zunächst Kürzungen im Bundeshaushalt gegenüber dem ursprünglichen Entwurf in verschiedenen Ressorts und im Sondervermögen KTF. Das erscheint sachgerecht. Kürzungen bei Investitionsausgaben sind nicht vorgesehen und geplante Entlastungen bei der Stromsteuer und im Rahmen des Wachstumschancen­gesetzes sollen bleiben. Dies ist im Hinblick auf die Stagnation der deutschen Wirtschaft nachvollziehbar.

Ein erheblicher Anteil der Konsolidierung erfolgt durch die Erhöhung von Abgaben. Neben einer Erhöhung der Energiesteuer sind insbesondere die Einführung einer Plastikabgabe, die Erhöhung der Luftverkehrsteuer und die Reduktion von einzelnen Steuervergünstigungen geplant. Der Fokus auf die Belastung von Energie bzw. deren Verwendung entspricht oberflächlich gesehen einer klimapolitischen Zielsetzung. Allerdings gibt es hier bereits umfangreiche Abgaben bis hin zum Zertifikatehandel, der einzelne Maßnahmen wirkungslos machen kann. Zudem sind die Maßnahmen für die Akzeptanz der Klimapolitik problematisch. Ursprünglich hatte man in Aussicht gestellt, dass Einnahmen aus Abgaben auf CO₂ als Klimageld an die Bürger zurückerstattet werden sollen. Jetzt nutzt man sie, um den überhöhten Ausgabenpfad zu stabilisieren. Die Konsolidierungsmaßnahmen lösen nun erhebliche Verteilungseffekte aus. Die Betroffenen können mit Recht die Frage stellen, warum nun gerade sie zur Refinanzierung des überhöhten Ausgabenpfades herangezogen werden. Dass die Bundesregierung von einzelnen Beschlüssen, etwa bei der Kfz-Steuerbefreiung für die Landwirtschaft, bereits wieder abgerückt ist, unterstreicht diese Problematik.

Angesichts der andauernden russischen Aggression ist es verteidigungspolitisch nachvollziehbar, dass Kürzungen im Verteidigungshaushalt nicht explizit vorgesehen sind. Allerdings plant die Bundesregierung, das Sondervermögen Bundeswehr zur Finanzierung der Ertüchtigung der Ukraine zweckfremd zu nutzen. Indirekt sollen also doch Verteidigungsausgaben für Ersatzbeschaffungen im Kernhaushalt gekürzt werden. Eine solche Verwendung der Mittel wäre vom Bundeswehrfinanzierungs- und Sondervermögensgesetz allerdings nicht gedeckt. Dies ist ein erster Hinweis, dass man die aktuelle Herausforderung, einen regelgerechten Haushalt aufzustellen, noch nicht verinnerlicht hat.

Irritierend sind Spekulationen der Bundesregierung darüber, ob auch im Jahr 2024 eine Notlage erklärt werden könnte, etwa wegen der Flut im Ahrtal im Sommer 2021. Für die Finanzhilfen sind im Haushalt 2024 lediglich 2,7 Mrd. Euro geplant, was ungefähr lediglich 0,6 % der im Haushaltsentwurf insgesamt veranschlagten Ausgaben ausmacht. Außerdem hatte die Finanzpolitik Jahre Zeit, für die Krisenhilfe Vorkehrungen im Bundeshaushalt zu treffen. Jetzt deswegen eine Notlage des Bundeshaushalts zu erklären, erscheint abwegig.

Einen weiteren Hinweis liefern die Planungen der Bundesregierung, Mittel für den Bundeshaushalt durch Kürzungen bzw. Rückforderungen von Zuschüssen an Sozialversicherungen zu erzielen. Gesamtstaatlich gesehen handelt es sich hierbei nicht um eine Konsolidierung, es werden lediglich Mittel der Sozialversicherungen verwendet, um Ausgaben im Bundeshaushalt zu finanzieren. Insbesondere der Vorgang betreffend die Bundesagentur für Arbeit (BA) erscheint problematisch. Während der Coronapandemie wurde die BA aufgrund von Maßnahmen zur Krisenbewältigung stark belastet. Die Rücklage der BA von etwa 26 Mrd. Euro wurde nach Angaben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vollständig aufgebraucht. Der Bund leistete daher eine Gesamtunterstützung von rund 24 Mrd. Euro in den Jahren von 2020 bis 2022 (BMF, 2023, 113). Jetzt wird geplant, dass man einen Betrag von über 5 Mrd. Euro von der BA zurückfordert. Das würde bedeuten, dass man auf deren Rücklage zugreift. Angesichts der nach wie vor geringen Rücklage soll die Rückzahlung über den Zeitraum bis 2027 denn auch gestreckt werden, wobei man allerdings den Großteil der Rückzahlung für die laufende Legislatur vorsieht. Abgesehen davon, dass man erhebliche, vom Bundestag als Zuschuss gewährte Beträge nun nachträglich zurückfordert, beinhaltet der Vorgang bei Lichte besehen wiederum eine Zweckentfremdung von Notlagenkrediten. Denn die ursprünglich als Zuschüsse in der Pandemie geleisteten Beträge sollen nun offenbar im Bundeshaushalt nach Beendigung der Notlage für andere Zwecke genutzt werden.

Bewertung

Die Finanzpolitik des Bundes hat vier aufeinanderfolgende Jahre lang die zur Finanzierung von Ausgaben vorhandenen Mittel durch den Verweis auf Notlagen erheblich ausgeweitet. Der von vorneherein fragwürdige Versuch, sich im Schatten der Notlagen ein großes Finanzpolster zu sichern, das schuldenfinanzierte Mehrausgaben außerhalb der Schuldenbremse auch über die Notlagen hinaus ermöglicht, ist vom Bundesverfassungsgericht gestoppt worden. Die Bundesregierung ist erhebliche finanzpolitische Risiken eingegangen, die sich jetzt materialisiert haben. Der gesamte Vorgang beeinträchtigt die wirtschaftliche Entwicklung und weckt Zweifel an der Nachhaltigkeit der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Die von der Bundesregierung verkündeten Änderungen an der Planung zum Bundeshaushalt 2024 sind noch nicht ausreichend, um die notwendige Kurswende in der Finanzpolitik einzuleiten und die gestiegene finanzpolitische Unsicherheit wieder zurückzuführen. Zwar beabsichtigt die Bundesregierung klassische Konsolidierungsmaßnahmen, wie Ausgabenkürzungen und die Erhöhung von Abgaben. Sinnvoll ist auch, dass Kürzungen bei den Investitionsausgaben nicht vorgesehen sind und geplante Entlastungen bei der Stromsteuer und im Rahmen des Wachstumschancengesetzes bleiben.

Allerdings beinhalten die Planungen für das Jahr 2024 auch Maßnahmen, die helfen sollen, die Verschuldung über die verfassungsrechtlichen Grenzen hinaus auszuweiten. So versucht die Bundesregierung, Mittel des Sondervermögens Bundeswehr für Haushaltseinsparung zu nutzen. Auch plant sie Schritte einer Konsolidierung des Bundeshaushalts zu Lasten der Sozialversicherungen, wobei auch wieder Notlagenkredite zweckentfremdet werden sollen. Hinzu kommt die irritierende Spekulation über das Vorliegen einer Notlage 2024 wegen der Flut im Ahrtal 2021. Zudem hat die Bundesregierung es bislang versäumt, zu der früheren Buchungspraxis betreffend der Anrechnung der Defizite der Sondervermögen auf die Nettokreditaufnahme zurückzukehren. Solche Versuche, weiterhin die nationalen Defizitvorgaben zu umgehen, tragen dazu bei, die Glaubwürdigkeit der Zusagen der Finanzpolitik gegenüber dem Bürger wie auch auf europäischer Ebene zu erodieren und erhöhen die finanzpolitischen Unsicherheit.

  • 1 So etwa die Regierungserklärung der Bundesregierung (2023, 2): „…vieles im Umgang mit der Schuldenbremse war bislang rechtlich eher nicht eindeutig geklärt.“ Siehe hierzu auch Henneke (2024).
  • 2 Siehe z. B. Wigger (2022, 20-24): „Augenscheinlich wäre unter der bisherigen Buchungspraxis mit der Zuweisung von 60 Mrd. Euro an den EKF nichts gewonnen.“

Literatur

BMF – Bundesministerium der Finanzen (2015), Kompendium zur Schuldenbremse des Bundes, Stand März 2015.

BMF – Bundesministerium der Finanzen (2023), Finanzbericht 2024, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Broschueren_Bestellservice/finanzbericht-2024.html (13. Januar 2024).

Bundesrechnungshof (2022), Schriftliche Stellungnahme des Bundesrechnungshofes zur Öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 (BT-Drs. 20/300).

Bundesregierung (2023), Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz, 132-1 vom 28. November 2023, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/992814/2245544/c4135909cc5414246c924eb01554fdbd/132-1-regierungserklaerung-data.pdf (15. Januar 2024).

Bundesverfassungsgericht (2023), Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 15. November 2023, 2 BvF 1/22.

Deutsche Bundesbank (2023), Monatsbericht November 2023.

Henneke, H.-G. (2021), Stellungnahme zur Anhörung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages am 10.1.2022 zum Entwurf eines 2. Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 (BT-Drs. 20/300).

Henneke, H.-G. (2022), Krisenfinanzierung im Bundestaat, Die Verwaltung, 55(3), 399-440.

Henneke, H.-G. (2024), BVerfG bettet Schuldenbremse in Haushaltsverfassungsrecht ein – eine neue Realität?, Deutsches Verwaltungsblatt, 4(24), im Erscheinen.

ifo (2023), ifo Konjunkturprognose Winter 2023: Konjunkturerholung verzögert sich – Haushaltslücke birgt neue Risiken, ifo Schnelldienst, 76.

IfW (2023), Deutsche Wirtschaft im Winter 2023: Finanzpolitik in Turbulenzen – Gegenwind für die Erholung, Kieler Konjunkturberichte 110.

Le Monde (2002), Interview mit Romano Prodi vom 17. Oktober 2002.

Presse und Informationsamt der Bundesregierung (2023), Zum Haushalt 2024, Pressemitteilung 280/23 vom 19. Dezember 2023, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2250312/6fc279292e1cd7a71d62fa31d7aaf7bb/2023-12-19-haushalt-data.pdf (13. Januar 2024).

Tagesschau (2023), Tagesschau 20:00 Uhr vom 21. November 2023.

Unabhängiger Beirat des Stabilitätsrats (2021), 17. Stellungnahme zur Einhaltung der Obergrenze für das strukturelle gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit, Herbst 2021.

Wigger, B. U. (2022), Der Zweite Nachtrag zum Bundeshaushalt 2021 ist ökonomisch und fiskalisch vertretbar, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 23(1), 20-24.

Title:The Federal Government’s Financial Policy Following the Judgement on the Second Supplementary Budget 2021

Abstract:The paper deals with the current budget crisis in Germany, which was triggered by an attempt to increase public debt beyond the limits of the German constitution. The rejection of the Supplementary Budget 2021 of the federal government by the Constitutional Court in November 2023 requires a substantial revision of budget plans. The paper first asks why fiscal policy has moved outside the rules of the constitution. The paper then addresses the question of whether the necessary turnaround in financial policy has now been initiated. To this end, the paper explores the recent supplementary budget 2023 and the proposals for the budget 2024.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0007