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Mit einigen kritischen Wahlen 2024 vor der Brust, bei denen weitere Erfolge der AfD wahrscheinlich sind, häufen sich wieder die Appelle, Nichtwähler:innen zu mobilisieren. Nützen wird das wenig. Denn damit wird implizit unterstellt, dass die Entscheidung, sich nicht an Wahlen zu beteiligen, vor allem auf Bequemlichkeit oder träge Zufriedenheit mit der Politik zurückzuführen ist. Und wenn man nur laut genug Alarm schlage, würden viele schon aufwachen. Untersuchungen zeigen jedoch, dass das Nichtwählen auch als bewusster ‚stiller‘ Protest interpretiert werden kann. So trägt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) vom November 2023 (Brülle und Spannagel, 2023) den Titel „Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie“. Darin sind unter anderem auf dem SOEP basierende Umfragewerte zum Vertrauen in Politiker:innen, Parteien und den Bundestag zu finden. Es gilt die Relation: je ärmer, desto größer die Skepsis.

Und das mit Grund, denn die Ungleichheit in diesem Land nimmt nicht ab, sondern zu, und die Realeinkommen in den unteren Segmenten zeigen kaum Fortschritte. Gerade dort, wo auf den Cent gerechnet werden muss, bleibt so etwas nicht unbemerkt. Bereits im September 2023 hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie von Schäfer (2023) veröffentlicht, der die regionale Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl im Jahr 2021 untersucht hat. Zentrales Ergebnis: Im Vergleich zu den 1970er oder 1980er Jahren ist die Wahlbeteiligung heute nicht nur niedriger, sondern auch ungleicher. Die Muster der Nichtwahl sind dabei eindeutig: Je ärmer ein Wahlkreis oder ein Stadtteil ist, desto niedriger fällt die Wahlbeteiligung dort aus. Die Wahrscheinlichkeit, nicht zu wählen, ist bei Menschen mit geringem Einkommen und niedriger formaler Bildung besonders hoch.

Ein Indikator, der viele Dimensionen der Ungleichheit in sich vereint, ist die Lebenserwartung. Ihr sozialer Einfluss ist gut belegt, beispielsweise in den Arbeiten von Wilkinson (vgl. etwa Wilkinson und Picket, 2009). Für Deutschland liegen in der Regionaldatenbank INKAR (BBSR, o.J.), Lebenserwartungen für Neugeborene auf Kreisebene für das Jahr 2017 vor. Für die 401 Kreise (Sammelbegriff für kreisfreie Städte und Landkreise) schwankt die Lebenserwartung für Frauen zwischen 79,8 und 85,3 Jahren, ein Unterschied von immerhin 5,5 Jahren. Und bei den Männern reicht die Spannbreite von 74,8 bis 81,4 Jahren – eine Differenz von sogar 6,7 Jahren. Der Anteil an Nichtwähler:innen liegt zwischen 33,1 % im Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt und 14,5 % im wohlhabenden Starnberg in Bayern. Eine niedrige Wahlbeteiligung ist aber keine reine Ost-Spezialität. Den zweithöchsten Wert weist Bremerhaven auf.

Korreliert man die Lebenserwartung mit dem Anteil an Nichtwähler:innen bei der Bundestagswahl 2021 erhält man immer hohe negative Koeffizienten, die alle auf dem 1 %-Niveau signifikant sind. Für Gesamtdeutschland ergeben sich für Männer -0,758 und für Frauen -0,573. Immer ohne das gemischte Berlin sind es im Osten für Männer -0,769 und für Frauen -0,608 sowie im Westen -0711 bzw. -0,608. Die Koeffizienten bei den Männern sind dabei höher. Das war zu erwarten, Frauen reagieren schwächer auf Umfeldeinflüsse als Männer.

Will man diesen zunehmend unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen eine Stimme geben, muss man auch über radikalere Abhilfen als Appelle nachdenken. So könnte man für eine Beteiligung an der nächsten Bundestagswahl eine Prämie von beispielsweise 100 Euro ausloben. Denn die sind unten mehr wert als oben und wirkten wie gewünscht. Das wäre gut investiertes Geld, gibt es doch zunehmend international oder historisch vergleichende Studien, die nicht mehr repräsentative Demokratien für in der Existenz hochgefährdet halten (Schäfer und Zürn, 2022; Turchin 2023). Und keine Angst vor einem solchen Partizipationsturbo: Nichtwähler:innen sind eben nicht überwiegend für die AfD – die statistische Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen ist schwach und in der Richtung nicht eindeutig.

Literatur

BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (o.J.), INKAR – Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung, https://www.inkar.de/ (12. Januar 2024).

Brülle, J. und D. Spannagel (2023), Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie, WSI-Verteilungsbericht 2023, WSI Report Nr. 90, November.

Schäfer, A. (2023), Wer fehlt an der Wahlurne? Sozialräumliche Muster der Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen, FES diskurs, Berlin, September.

Schäfer, A. und M. Zürn (2022), Die demokratische Regression, Suhrkamp.

Turchin, P. (2023), End Times: Elites, Counter-Elites and the Path of Political Disintegration, Penguin.

Wilkinson, R. G. und K. Pickett (2009), Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Tolkemitt Verlag.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0005