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Dieser Beitrag ist Teil von Reformoptionen der gesetzlichen Rentenversicherung

Die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland kommen unmittelbar den anspruchsberechtigten Senior:innen zugute. Die Akzeptanz dieser Umverteilung hängt davon ab, inwieweit die Arbeiter:innen da­rauf vertrauen können, dass sich die aktuelle Schmälerung ihres verfügbaren Einkommens als einträgliche Vorleistung für die Zeit nach Beendigung der Erwerbstätigkeit erweist. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Befürworter:innen einer kapitalgedeckten Alterssicherung ihre Empfehlungen seit langem auf die in ihren Augen geringere Rentabilität und größere Risikoanfälligkeit des Umlageverfahrens stützen.

Nachdem sich jedoch angesichts hoher Kosten und bescheidener Erträge die mit der 2001 eingeführten „Riester-Rente“ verbundenen Hoffnungen gemeinhin als Trugbild entpuppt haben, spielt das Argument einer angeblich gesicherten höheren Rentabilität privater Vorsorge nur noch eine Nebenrolle. Stattdessen avancierte der demografische Wandel zum zentralen Kritikpunkt am Umlageverfahren. Fallende Geburtenraten und eine stetig steigende Lebenserwartung brächten das System in die Bredouille, weil durch Belastungsgrenzen limitierte Beiträge einer schrumpfenden Erwerbstätigenzahl nolens volens Abstriche am Versorgungsniveau der länger lebenden Menschen erforderten. Bemerkenswerterweise erschöpfen sich die Zweifel an der Tragfähigkeit der etablierten Alterssicherung aber meist in pauschalen Behauptungen, ohne in einer exakten Modellanalyse die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Beitragshöhe, Versorgungsniveau sowie dem Verhältnis zwischen Einzahler:innen und Empfänger:innen zu spezifizieren. Dies geschieht im Folgenden, um auf dieser Basis die Funktionstüchtigkeit der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu bewerten und vorhandenen Korrekturbedarf aufzuzeigen.

Wirkungsweise einer solidarischen Alterssicherung

Grundsätzlich lohnt sich die Einführung einer Gemeinschaftskasse, wenn die erhobenen Beträge wiederkehrend in einer Weise ausgeschüttet werden, die jedem Teilnehmenden Vorteile verspricht, ohne irgendjemanden zu benachteiligen. Ausgangspunkt der Betrachtung ist die permanent zu erfüllende Budgetrestriktion eines Umlageverfahrens: In jeder Periode müssen sich die Einnahmen mit den Ausgaben decken.

Aus dem einheitlichen Pro-Kopf-Einkommen L einer bestimmten Zahl Arbeiter:innen A wird ein gewisser prozentualer Beitragssatz b in die Rentenkasse abgeführt. Die Einnahmen werden an S Senior:innen ausgezahlt, die, ohne Berücksichtigung von Steuern und anderen Abgaben, jeweils einen Anteil v des verfügbaren „Nettolohns vor Steuern“ (1 − b) L als Durchschnittsrente erhalten. Die Budgetbeschränkung lautet demnach zunächst:

AbL = Sv (1 − b) L. (1)

Nach Kürzung von L und mit q als Verhältnis zwischen durchschnittlichen Einzahler:innen und Empfänger:innen erhält man:

qb = v(1b) mit q = AS. (2)

Diese Grundgleichung des Umlageverfahrens lässt sich für ein faktisch gegebenes Arbeiter:innen-Senior:innen-Verhältnis q entweder nach dem Beitragssatz b oder nach dem Versorgungsniveau v auflösen. Wenn eine relative Rentenhöhe v fixiert wird, ergibt sich für den Beitragssatz:

b(v, q) = vq+v < 1 für q > 0. (3)

Der Beitragssatz b hängt parametrisch vom quantitativen Verhältnis q von Arbeiter:innen zu Senior:innen sowie vom (festgesetzten) Versorgungsniveau v ab und steigt mit dieser Größe degressiv an.1 Die Abbildung 1 illus­triert für drei vorgegebene Werte von q den Verlauf des Beitragssatzes b für alle denkbaren Versorgungsniveaus 0 ≤ v ≤ 1. Der Wert des Verhältnisses von Arbeiter:innen zu Senior:innen von q = 1,8 bezieht sich auf Deutschland im Jahr 2020, q = 1,5 stellt eine Prognose für 2030 dar, q = 1,3 gibt den geschätzten Wert für 2050 an (vgl. Statista, 2021).

Abbildung 1
Versorgungsniveau und Beitragssatz
Versorgungsniveau und Beitragssat

Quelle: eigene Berechnungen.

Offenkundig widerlegt die Analyse gängige Hiobsbotschaften. Selbst im Jahr 2050 und bei einem Versorgungsniveau von (manchmal noch geforderten) 53 % des (bis dahin voraussichtlich wesentlich höheren) durchschnittlichen Nettoarbeitseinkommens (vor Steuern) liegt der erforderliche Beitragssatz bei 29 % – ein Wert, aus dem sich keineswegs notwendigerweise der Systemkollaps ergibt. Jedenfalls hypertrophiert der Beitragssatz mitnichten in Richtung 100 %, wenn sich die Rentenbezugszeit mit steigender Lebenserwartung verlängert und die Zahl der Arbeiter:innen in Relation zu den Senior:innen weiter zurückgeht.2

Die Auflösung der Gleichung (2) nach dem mit einer bestimmten Beitragshöhe verbundenen Versorgungsniveau bringt:

v(b, q) = bq1b. (4)

Da vernünftigerweise 100 % des verfügbaren Lohns die hypothetische Höchstversorgung eines Rentners darstellt, gilt ein maximaler Beitragssatz (bmax):

bmax(q) = 11+q. (5)

Die Abbildung 2 zeigt progressive Kurvenverläufe zwischen Beitragssatz b und Versorgungsniveau v – augenscheinlich sind Versorgungsniveaus um 50 % auch in weiterer Zukunft mit Beiträgen unter 30 % zu finanzieren. Für 2020 mit q = 1,8 berechnet man beispielsweise einen maximalen Beitragssatz von bmax(1,8) = 35,7 % (grün gestrichelte Kurve in Abbildung 2); ein Beitragssatz, der gewährleistet, dass die Senior:innen über das gleiche disponible Einkommen verfügen wie die Arbeiter:innen.

Abbildung 2
Beitragssatz und Versorgungsniveau
Beitragssatz und Versorgungsniveau

Quelle: eigene Berechnungen.

Die vorangegangene Betrachtung belegt das konzeptionelle Leistungsvermögen des Umlageverfahrens, das trotz der prognostizierten Abnahme des Verhältnisses zwischen Einzahler:innen und Empfänger:innen weder die Einzahler:innen über Gebühr belasten noch die Versorgung der Empfänger:innen unangemessen verschlechtern muss. Woher kommt dann der bei vielen ramponierte Ruf des Systems? Hierfür dürfte neben dem Trommeln interessierter Kreise für eine Kapitaldeckung die Differenz zwischen den konstruierten und faktischen Altersbezügen mitverantwortlich sein.

Der Standardrentner: ein realitätsfernes Leitbild

Die Alterssicherung in der Bundesrepublik beruht auf dem Kerngedanken, dass ein Erwerbstätiger, der in jedem Jahr durchschnittlich verdient und dementsprechend Beiträge in die Rentenkasse abführt, am Lebensabend ebenfalls eine durchschnittliche Altersrente erhalten soll. Arbeiter:innen mit höherem oder geringerem Entgelt stehen in dem Konzept vor und nach dem Eintritt in den Ruhestand an unveränderter Position in der Einkommenshierarchie. Um dies zu gewährleisten, sammeln die Arbeiter:innen während ihres Erwerbslebens „Entgeltpunkte“, wobei ein Durchschnittsverdiener jährlich einen Entgeltpunkt erwirbt. Individuelle Einkommensabweichungen schlagen sich in gleicher Proportion in den erworbenen Entgeltpunkten nieder: Wer vom halben Durchschnittslohn lebt, bekommt folglich nur einen halben Entgeltpunkt. Im Jahr 1959 betrug das Bruttoarbeitsentgelt eines abhängig Beschäftigten im Durchschnitt 5.602 DM und stieg über die Jahrzehnte auf (vorläufig) 43.142 Euro im Jahr 2023 (vgl. Deutsche Rentenversicherung, 2022, 10).

Ab 1. Juli 2023 erhält der „Eck-“ oder „Standardrentner“, der 45 Jahre durchschnittlich verdient und eingezahlt hat, mit seinen 45 Entgeltpunkten in West und Ost monatlich brutto 1.692 Euro und netto vor Steuern (nach Abzug der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge von insgesamt 11,5 %) 1.503,34 Euro (vgl. Deutsche Rentenversicherung, 2023, 10). Ein Entgeltpunkt hat somit den Wert von 37,6 Euro pro Jahr (= 1.692 Euro / 45 Jahre) (vgl. Deutsche Rentenversicherung, 2023, 17). Aus den Daten lässt sich ein sogenanntes Rentenniveau berechnen, das angibt, welchen Teil des Durchschnittsverdiensts ein Eckrentner aufgrund seiner angesammelten Entgeltpunkte erhält. Dieses Rentenniveau beträgt nach aktuellem Sachstand 47 % (= durchschnittliches Renteneinkommen / durchschnittliches Bruttoarbeitsentgelt = 1.692 Euro ∙ 12 Monate / 43.142 Euro). Soweit das Konzept, die Realität sieht jedoch anders aus.

Es dürfte nicht wenige Menschen geben, die meinen, das soeben beschriebene „Rentenniveau“ stimme mit dem Verhältnis zwischen der Durchschnittsrente und dem Durchschnittsarbeitsentgelt überein. Das stimmt aber nicht. Um solchen Assoziationen zu begegnen, wurde im vorigen Abschnitt stets vom „Versorgungsniveau“ gesprochen, wenn von der Höhe der Altersbezüge in Relation zum Arbeitsentgelt die Rede war. Das „Rentenniveau“ in der Terminologie der Rentenversicherung ist hingegen eine Größe, die sich auf einen normativ zum Standard erhobenen Versicherten mit 45 Entgeltpunkten bezieht. Diese Zielvorgabe wird allerdings von vielen abhängig Beschäftigten verfehlt. Die Tabelle 1 enthält die im Mittel erreichten Beitragsjahre für Männer m und Frauen­ f im Westen w bzw. Osten o der Republik zum 31.12.2022. Die Angaben in Klammern informieren über die jeweilige Zahl der Senior:innen S.

Tabelle 1
Durchschnittliche Beitragsjahre zum 31.12.2022
Geschlecht Westdeutschland Ostdeutschland
Männer 40,78 (Smw = 6.632.310) 44,32 (Smo = 1.573.829)
Frauen 29,26 (Sfw = 8.285.868) 41,83 (Sfo = 2.083.267)

Offenbar haben in Deutschland weder die Männer noch die Frauen im Durchschnitt 45 Versicherungsjahre erreicht, allerdings weisen beide Geschlechter in den neuen Bundesländern längere Beitragszeiten auf. Nimmt man die in Klammern angegebene Zahl der Senior:innen als Gewichtungsfaktoren, berechnet man für das Jahr 2023 die durchschnittlichen Beitragsjahre BJ23 des repräsentativen deutschen „Gesamtrentners“ zu:

BJ23 = 40,78Smw+44,32Smo+26,26Sfw+41,83SfoSmw+Smo+Sfw+Sfo

= 36,05 ≈ 36. (6)

Tatsächlich erreichen die Versicherten im Mittel in Deutschland nur etwa 36 Beitragsjahre; das sind lediglich 80 % der dem Standardrentner vorgegebenen Einzahlungszeit von 45 Jahren.3 Besonders drastisch ist der Befund für westdeutsche Frauen, die vor allem (aber nicht nur) wegen Schwangerschaften und Kindererziehungszeiten über längere Phasen nicht oder in geringerem Maß am Erwerbsleben teilnehmen. Außerdem werden weibliche Arbeiter systematisch schlechter bezahlt (vgl. Destatis, 2023). Das schlägt sich, in den Nettorenten vor Steuern nieder, wie Tabelle 2 zeigt.

Tabelle 2
Monatliche Durchschnittszahlung in Euro für Altersrenten zum 31.12.2022
Personen Westdeutschland Ostdeutschland
Männer 1.279 1.360
Frauen 789 1.155
insgesamt 1.007 1.243

Quelle: Deutsche Rentenversicherung (2023, 35-37).

Sowohl die Männer als auch die Frauen in den neuen Bundesländern beziehen eine im Vergleich zu Westdeutschland höhere Altersrente. Die Bezüge der Frauen in den alten Bundesländern fallen mit Abstand am geringsten aus. Altersarmut ist daher in dieser Personengruppe besonders weit verbreitet.

Um die aktuellen Bruttorenten in West Rw23 und Ost Ro23 zu erhalten, sind die Erhöhungen zum 1. Juli 2023 in den alten Ländern um 4,39 % und in den neuen Ländern um 5,86 % sowie die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung von 11,5 % zu berücksichtigen. Die Monatsbruttorenten in Euro belaufen sich dann auf:

Rw23 = 1.0071,04390,885 = 1.187,80 und

Ro23 = 1.2431,05860,885 = 1.486,82. (7)

Die Zahl der Senior:innen zum Stichtag betrug in Westdeutschland Sw = Smw + Sfw= 14.918.178, in Ostdeutschland So = Smo + Sfo= 3.657.096 (vgl. Deutsche Rentenversicherung, 2023, 35 und 37). Mit diesen (als gegeben angenommenen) Gewichtungsfaktoren berechnet man die gegenwärtige monatliche Bruttorente des „gesamtdeutschen Durchschnittsrentners“ in Euro R23 zu:

R23 = Rw23·Sw+Ro23·SoSw+So = 1.246,67. (8)

Im Verhältnis zum Eckrentner erhält der tatsächliche Ruheständler lediglich 73,7 % (= 1.246,67 Euro / 1.692 Euro). Zudem unterschreitet der auf 36 Beitragsjahre bezogene Rentenwert mit 34,63 Euro pro Jahr (= 1.246,67 Euro / 36 Jahre) den oben erwähnten Rentenwert eines Rentenpunkts des Standardrentners in Höhe von 37,60 Euro p.a. Das faktische Versorgungsniveau ­– die durchschnittliche Jahresrente (1.246,67 Euro ∙ 12 Monate = 14.960,04 Euro) dividiert durch den Jahresverdienst netto vor Steuern von 35.117,59 Euro (= 43.142(1 – 0,186)) – beträgt 42,6 % und liegt unter dem momentan propagierten „Rentenniveau“ in Höhe von 47 %. Tabelle 3 konfrontiert die Charakteristika des theoretischen mit dem tatsächlich realisierten Umlagesystem zur Rentenfinanzierung.

Tabelle 3
Fiktionen und Fakten in der deutschen Alterssicherung im Jahr 2023
Merkmal Leitbild Wirklichkeit
Beitragsjahre des Durchschnittsrentners 45 36
Bruttomonatsrente in Euro 1.692,00 1.246,67
Rentenwert eines Rentenpunkts in Euro 37,60 34,63
Renten- bzw. Versorgungsniveau in % 47,0 42,6

Quelle: eigene Berechnungen.

Der Vergleich demonstriert die gegenüber dem Modellentwurf reduzierte Leistung des etablierten Systems, womit das Vertrauen in dessen Raison d’Être gewiss schwindet. Sieht man von Verwaltungskosten ab, müsste laut Gleichung (4) das Versorgungsniveau im Umlageverfahren bei einem Beitragssatz von b = 18,6 % und dem Verhältnis von Einzahler:innen zu Empfänger:innen q = 1,8 aktuell 41,1 % betragen.4 Der tatsächliche Wert von 42,6 % liegt aber um 1,5 Prozentpunkte höher, die Wirklichkeit ist in dieser Hinsicht besser als das „reine“ Umlageverfahren. Wie das? Der abschließende Abschnitt bietet nicht nur die Lösung des Rätsels, sondern weist auch auf einen Gestaltungsspielraum hin, der genutzt werden sollte, um für mehr Beitragsäquivalenz in der Solidargemeinschaft zu sorgen.

Die deutsche Alterssicherung: Bestandsaufnahme und Verbesserungsbedarf

Verbindet man die Gleichungen (1) und (4), ergibt sich ein Ausdruck für die Durchschnittsrente im Umlageverfahren RU :

RU = v(1 − b)L = bq1b (1 − b)L = bqL. (9)

Offenbar kann ein steigender Durchschnittslohn L bei gegebenem Beitragssatz b ein sinkendes Verhältnis q von Arbeiter:innen zu Senior:innen ausgleichen oder sogar überkompensieren.5 Mit dem aktuellen Beitragssatz b = 18,6 %, dem Einzahler:innen-Empfänger:innen-Verhältnis q = 1,8 und dem monatlichen Bruttoeinkommen eines Durchschnittsverdieners L = 43.142 / 12 = 3.595,17 Euro ergibt sich aus Gleichung (9) eine Bruttomonatsrente von 1.203,66 Euro. Laut Gleichung (8) kassiert der repräsentative Gesamtrentner im Jahr 2023 jedoch mehr: 1.246,67 Euro. Woher kommt das Zubrot?

Neben Altersrenten, die Ersatz- und Anrechnungszeiten berücksichtigen, werden Frührenten und verschiedene Renten aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit und wegen Todes gezahlt. Außerdem können für Erziehungszeiten Entgeltpunkte gutgeschrieben werden. Ferner erhalten seit Januar 2021 Versicherte mit unterdurchschnittlichem Einkommen, die mindestens 33 Jahre „Grundrentenzeiten“ erreicht haben, einen Zuschlag zur Rente. In den genannten Ausgaben des Versicherungsträgers sind augenscheinlich mehr oder weniger sozialpolitisch motivierte Leistungen enthalten, die den im idealtypischen Umlageverfahren gebotenen strengen Zusammenhang zwischen den mit eigenen Beiträgen erworbenen Entgeltpunkten und den im Gegenzug überwiesenen Bezügen lockern.

In diesem Licht betreibt die Rentenanstalt auf den ersten Blick in erheblichem Maß Armutsbekämpfung, die von der Allgemeinheit, d. h. vom Fiskus, zu tragen ist. Kritiker:innen fordern deshalb versicherungsfremde Leistungen „sachgemäß durch Steuern“ (vgl. Niemeier, 2021, 454) zu begleichen. Allerdings liegt der Anteil der Bundeszuschüsse an den Gesamtausgaben der Rentenversicherung schon seit Jahren ziemlich stabil zwischen 22 % und 24 %, im Jahr 2022 waren das 86,21 Mrd. Euro (vgl. Deutsche Rentenversicherung, 2023, 9). Die Kompensationsbeträge reichen sogar aus, die rechnerische beitragsfinanzierte Durchschnittsmonatsrente (1.203,66 Euro) auf die tatsächliche Monatsrente (1.246,26 Euro) aufzustocken. Die Senior:innen genießen demnach einen positiven Zuschlag s aus dem Bundeshaushalt, der in Gleichung (9) zu berücksichtigen ist. Die tatsächliche Rente RT beträgt offenbar:

RT = b q L (1 + s). (10)

Setzt man die obigen Zahlenwerte ein, ergibt sich für 2023 ein Zuschlag aus öffentlichen Mitteln, der die Umlagerente um 3,5 % erhöht. Die Klage über vom Staat angeblich nicht vergütete versicherungsfremde Leistungen der Rentenversicherung ist demnach unberechtigt. Doch in anderer Hinsicht ist die Beitragsäquivalenz im System gestört.

Die vom Versicherten während des Erwerbslebens entrichteten Beiträge schlagen sich bei Ruhestandsbeginn in Entgeltpunkten nieder, die die Leistung für die Alterssicherung widerspiegeln. Es ist aber im Einzelfall durchaus offen, was die Person im Gegenzug von der Rentenkasse zurückbekommt. Die allermeisten Menschen wissen zwar, dass sie sterben, aber nicht genau wann: Mors certa, hora incerta.6 Allerdings besteht eine Korrelation zwischen dem Verdienst über die gesamte Erwerbstätigenzeit und der Lebenserwartung. Die in den Jahren 1947 bis 1949 geborenen westdeutschen männlichen Arbeiter im untersten Lebenslohndezil weisen ab 65 Jahren eine Restlebenserwartung von 15,2 Jahren auf, während Arbeiter im obersten Lebenslohndezil weiteren 22,2 Jahren entgegensehen (Haan et al., 2019). Die Bestverdiener genießen demnach eine um 46 % längere Rentenbezugszeit als die Geringstverdiener. Vor diesem Hintergrund sollten die niedrigen Rentenanwartschaften aufgewertet und die hohen Ansprüche reduziert werden. Es bietet sich an, bis zu einem bestimmten Richtwert EPR die darunter liegenden persönlichen Entgeltpunkte EPP ab einer festzusetzenden Untergrenze EPmin mit einem Prozentsatz z zu erhöhen, wobei der absolute Punktzuschlag abnehmen sollte. Zur Berechnung der modifizierten Entgeltpunkte EPM eignet sich folgende Gleichung:

EPM = EPP + z(EPREPP) (11)

mit 0 < EPmin EPPEPR.

Der Prozentsatz z ließe sich beispielsweise aus der geforderten Gleichheit der aufgewerteten Restlebenserwartung des unteren Dezils LEU mit der abgewerteten Restlebenserwartung des obersten Dezils LEO berechnen:

LEU (1 + z) = LEO (1 − z). (12)

Daraus ergibt sich der Zuschlagfaktor im Allgemeinen und im Speziellen mit den genannten Daten:

z =LEOLEULEO+LEU = 22,215,222,2+15,2= 737,4 = 0,187. (13)

Der Richtwert für die Entgeltpunkte EPR steht ebenfalls zur Disposition. Eine Norm könnten etwa die berechneten tatsächlichen 36 Beitragsjahre bilden, die mit jeweils einem Entgeltpunkt bewertet werden. In Frage kämen aber auch die 45 Entgeltpunkte des Eckrentners, womit eine weitergehende Aufbesserung unterdurchschnittlicher Entgeltpunkte verbunden wäre. Entscheidet man sich für diesen Richtwert, dann transformiert Gleichung (11) beispielsweise 15 (30) persönliche Entgeltpunkte in 20,61 (32,80) modifizierte Entgeltpunkte.7

Wie auch immer: Der entstehende Punktebedarf in der unteren Hälfte ist durch Abzüge an den über der Norm liegenden Entgeltpunkte zu „finanzieren“. Hierzu könnte eine Formel analog zu Gleichung (11) dienen, wobei z durch einen Minderungsfaktor ersetzt wird, der die persönlichen Entgeltpunkte zwischen dem Richtwert EPR und dem Entgeltpunkt an der Beitragsbemessungsgrenze verringert. Diese Umverteilung innerhalb der Versichertengruppe zielt darauf ab, der Beitragsäquivalenz unter Berücksichtigung der Rentenbezugszeiten besser zu entsprechen.8

Wie die einführenden Überlegungen gezeigt haben, ist das Umlageverfahren ein leistungsfähiges System der Alterssicherung, das in der Lage ist, die auch in längerer Perspektive absehbaren Herausforderungen des demografischen Wandels zu bewältigen. Es ist durchaus realisierbar, selbst bei einer über die kommenden Jahrzehnte abnehmenden Relation zwischen Arbeiter:innen und Rentner:innen, die Senior:innen in angemessenem Maß an der Wohlstandsentwicklung partizipieren zu lassen, ohne das Einkommen der aktiven Arbeiter:innen über Gebühr zu strapazieren. Hierfür kommt gelegen, dass bei einer Beitragssatzerhöhung ceteris paribus die Wachstumsrate der durchschnittlichen Altersbezüge absolut größer ist als die relative Schrumpfung des Nettolohns vor Steuern für b < 0,5:

R/bR = (bqL)/bbqL = 1b > (1b)L/b(1b)L=11b. (14)

Eine marginale Beitragserhöhung im relevanten Bereich (vgl. Gleichung (5)) führt demnach zu einem größeren Zuwachs der Durchschnittsrente als die resultierende Minderung des Pro-Kopf-Verdienstes nach Abzug des Rentenbeitrags. Diese Tatsache sollte bei Diskussionen über Beitragssteigerungen zur Schaffung besserer Lebensumstände der Senior:innen beachtet werden. Unbeschadet dessen ist es ferner erforderlich, und wie gezeigt auch möglich, innerhalb der Versichertengemeinschaft die höchst unterschiedlichen Bezugszeiten zwischen geringeren und höheren Renten auszugleichen und damit für mehr Beitragsäquivalenz zu sorgen.

  • 1 Soweit sich in der Literatur formale Untersuchungen zu der Beziehung zwischen Beitrags- und Versorgungshöhe finden, beruhen sie meist auf Modellen überlappender Generationen, wobei die Lebensabschnitte Erwerbstätigkeit und Rentenbezug unterschieden werden (vgl. etwa Homburg 1988). Wie die obige Darlegung zeigt, ist dieser Ansatz methodisch übermäßig aufwendig und leistet zudem der Vorstellung Vorschub, im Umlageverfahren seien kommende Rentenzahlungen implizite Staatsschulden (vgl. Krämer und von Weizsäcker 2023). Priewe (2023) kritisiert diese Auffassung.
  • 2 Abgesehen davon wirkt eine geeignete Fiskalpolitik beschäftigungsfördernd (vgl. Helmedag 2022), wovon die Einnahmen der Rentenversicherung profitieren.
  • 3 Eine weitere Erhöhung des formalen Renteneintrittsalters dürfte diese Diskrepanz, wenn überhaupt, bloß geringfügig abbauen. Im Übrigen ist eine individuelle Arbeitszeitverkürzung nach wie vor das Gebot der Stunde (vgl. Helmedag, 2019).
  • 4 Selbst bei einem für 2050 prognostizierten Verhältnis q = 1,3 zwischen Arbeiter:innen und Senior:innen muss der Beitragssatz nur auf 24 % steigen, um das reale Versorgungsniveau in Höhe von 41,1 % gewährleisten zu können.
  • 5 Im Übrigen bremst ein größerer Beitragszahlerkreis durch Hinzunahme bisher nicht pflichtversicherter Berufsgruppen einen Rückgang von q oder verkehrt ihn sogar ins Gegenteil. Selbstverständlich werden die Neumitglieder nach Jahrzehnten selbst Empfänger:innen, aber bis dahin hat sich aller Voraussicht nach das Finanzierungsproblem längerer Bezugszeiten entschärft.
  • 6 Darin besteht im Übrigen das „Methusalem-Problem“ einer individuellen Kapitaldeckung zur Altersvorsorge: Vor dem Lebensende geht die akkumulierte Kaufkraft zur Beschaffung von Lebensmitteln zur Neige.
  • 7 Für Arbeiterinnen in West- und Ostdeutschland sowie für Männer in den neuen Ländern sind entsprechende Werte in Gleichung (13) einzusetzen.
  • 8 Die vorangegangenen Überlegungen gelten zunächst für Rentenneuzugänge. Eine Übertragung auf den Bestand kommt in Betracht, wenn die Kürzungen der überdurchschnittlichen Altrenten durch Bundeszuschüsse kompensiert werden.

Literatur

Destatis (2023), Neuer Indikator „Gender Gap Arbeitsmarkt“ erweitert den Blickwinkel auf Verdienstungleichheit, Pressemitteilung,
Nr. 084, 6. März, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/03/PD23_084_621.html (10. Februar 2024).

Deutsche Rentenversicherung (2022), Zahlen und Tabellen der gesetzlichen Rentenversicherung – Werte West (ohne Knappschaft) – 1.1. – 30.6., https://www.deutsche-rentenversicherung.de/BayernSued/DE/Ueber-Uns/Publikationen/Zahlen-u-Tabellen-Artikel.html (10. Februar 2024).

Deutsche Rentenversicherung (2023), Rentenversicherung in Zahlen 2023, https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistiken-und-Berichte/statistikpublikationen/rv_in_zahlen.pdf (10. Februar 2024).

Haan, P., D. Kemptner und H. Lüthen (2019), Besserverdienende profitieren in der Rentenversicherung zunehmend von höherer Lebenserwartung, DIW Wochenbericht, 23, 391-399.

Helmedag, F. (2019), Von der Sozialen Marktwirtschaft zum globalen Kapitalismus, Fehlentwicklungen und tarifpolitische Konsequenzen, in R.-M. Marquardt und P. Pulte (Hrsg.), Mythos Soziale Marktwirtschaft, Arbeit, Soziales und Kapital, Festschrift für Heinz-J. Bontrup, PapyRossa, 123-140, https://www.tu-chemnitz.de/wirtschaft/vwl2/downloads/paper/helmedag/Festschrift-Bontrup_123-140.pdf (10. Februar 2024).

Helmedag, F. (2022), Steuern und Budgetdefizite als Determinanten des Sozialprodukts, Wirtschaftsdienst, 102(3), 229-235, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2022/heft/3/beitrag/steuern-und-budgetdefizite-als-determinanten-des-sozialprodukts.html (10. Februar 2024).

Homburg, S. (1988), Theorie der Alterssicherung, Springer.

Krämer, H. und C. C. von Weizsäcker (2023), Implizite Staatsschulden und die Kontroverse um die Zins-Wachstums-Differenz, Wirtschaftsdienst, 103(5), 341-345, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2023/heft/5/beitrag/schuldentragfaehigkeit-mit-impliziten-staatsschulden-replik-und-erwiderung.html (10. Februar 2024).

Niemeier, E. (2021), Beitragsfinanzierung im „demografiegestressten“ Rentensystem möglich, Wirtschaftsdienst, 101(6), 454-460, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2021/heft/6/beitrag/beitragsfinanzierung-im-demografiegestressten-rentensystem-moeglich.html (10. Februar 2024).

Priewe, J. (2023), Rentenansprüche sind keine Staatsschulden, Wirtschaftsdienst, 103(5), 345-351, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2023/heft/5/beitrag/schuldentragfaehigkeit-mit-impliziten-staatsschulden-replik-und-erwiderung.html (10. Februar 2024).

Statista (2021), Staatliches Rentensystem zunehmend unter Druck,
https://de.statista.com/infografik/25320/verhaeltnis-von-altersrentnern-zu-beitragszahlern-in-der-gesetzlichen-rentenversicherung/ (10. Februar 2024).

Title:The Pay-as-you-go System: Idea and Reality

Abstract:The formal relationships between the contribution rate of workers and the pension level are modelled in the pay-as-you-go system. The average pensioner has paid contributions over 36 years and currently receives EUR 1,246.67 as a monthly pension. The “standard pensioner” contributed over 45 years and receives a “standard pension” of EUR 1,692. The real pension level is 42.6% and thus falls short of the 48% target level. In the pay-as-you-go system, the monthly pension would only amount to EUR 1,203.66. Higher contributions reduce average wages relatively less than they increase the pension benefits. A redistribution within the pool of insured people should compensate for the shorter payment periods of below-average pensions.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0030