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In seinem jüngsten Beitrag im Wirtschaftsdienst „Kein Wachstum ist auch keine Lösung – eine Kritik an Degrowth- und Postwachstumsansätzen“ greift Fabian Lindner eine essenziell wichtige Debatte auf: Können die Ziele der Pariser Klimakonferenz – die Beschränkung der Erderwärmung auf nicht mehr als +1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter – mit weiterem Wirtschaftswachstum vereinbart werden oder bedarf es einer Abkehr vom Wirtschaftswachstum, wie es der Postwachstumsansatz nahelegt? Zu diesem Beitrag werden hier einige weiterführende Überlegungen zur Diskussion gestellt.

Im Kern geht es um die Frage, ob Wirtschaftswachstum und Treibhausgas (THG)-Emissionen, die wesentlich für die Erderwärmung verantwortlich gemacht werden, voneinander entkoppelt werden können oder ob eine Reduktion der THG-Emissionen notwendigerweise eine Reduktion der ökonomischen Aktivität impliziert und ob dies überhaupt mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem vereinbar wäre. Ohne einem Green Growth unkritisch gegenüberzustehen, nimmt Lindner (2023a) doch vor allem gegenüber dem Postwachstumsansatz eine kritische Haltung ein: „Kein Wachstum ist auch keine Lösung“. Diese Einschätzung wird insbesondere damit begründet, dass der allgemeine Wachstumsverzicht für hochentwickelte Volkswirtschaften wie Deutschland mit einem Wohlstandsverlust in einem Ausmaß verbunden wäre, der alle Bevölkerungs- und Einkommens­gruppen treffen müsste. Und dies gilt selbst dann, wenn es zu einer extremen Umverteilung von den oberen zu den unteren Einkommens­bezieher:innen kommen würde. Die Einschätzung Lindners, dass ein derartiger Wohlstandsverlust weder politisch durchsetzbar wäre, noch mit der kulturkritischen Zurückweisung der Gleichsetzung von materiellem Wohlstand und Lebensqualität und -zufriedenheit begründet werden könnte, erscheint mir akzeptabel.

Ich möchte im Folgenden einige weiterführende Überlegungen zur Debatte um die Entkopplungsthese anstellen, um die Diskussion zwischen den Green Growth- und den Postwachstumsansätzen besser einschätzen zu können. Des Weiteren möchte ich einige kritische Anmerkungen zur Größenordnung des Wohlstandsverlustes machen, den ein Postwachstums­szenario bedeuten würde – hier scheinen mir die Berechnungen Lindners allzu apokalyptisch. Schließlich sollen noch einige Ausführungen zu den Risiken eines Postwachstumsszenarios aus der Perspektive eines postkeynesianischen Verpflichtungsparadigmas (Heise, 2019) gemacht werden, die zwar nicht auf die strikte Unvereinbarkeit von Wachstumsverzicht und Kapitalismus („Wachstumszwang“) hinauslaufen, wohl aber Stabilitätsprobleme eines fortschreitenden Finanzkapitalismus adressieren.

Ist eine Entkopplung von Wachstum und THG-Emissionen möglich?

Gelegentlich wird die Entkopplungsthese in binärer Weise diskutiert: Der Postwachstumsansatz verneint eine Entkopplung, standardökonomische Ansätze hingegen vertrauen auf die Möglichkeit preisgesteuerter Technikwahl, die eine Entkopplung durch Wahl emissionsverringerter Techniken ermöglicht. Tabelle 1 macht auf der Grundlage der Arbeit von Naqvi und Zwickl (2017) deutlich, dass die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Emis­sionswachstum komplexer ist.

Tabelle 1
Prototypische Beziehungen zwischen Wachstum des BIP und Wachstum der THG-Emissionen
Wachstumsszenarien Kopplungsbeziehung Strategie
negatives ΔBIP, negative ΔTHG absolute Kopplung Degrowth
positives ΔBIP, positive oder negative ΔTHG relative Kopplung/ relative Entkopplung Nullwachstum
positives ΔBIP, beliebige ΔTHG keine Kopplung A-Growth
positives ΔBIP, negative ΔTHG absolute Entkopplung Re-Growth oder Green Growth

Δ = Veränderung, BIP = Bruttoinlandsprodukt, THG = Treibhausgase.

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Naqvi und Zwickl (2017).

Der Degrowth-Ansatz geht von einer eindeutigen Beziehung zwischen Wirtschafts- und Emissionswachstum in der Art aus, dass eine Reduktion der THG-Emission nicht nur einen Verzicht auf weiteres Wirtschaftswachstum, sondern eine Reduktion des bereits erreichten Aktivitätsniveaus – also ein zumindest für längere Zeiträume negatives Wirtschafts­wachstum – benötigt. Der Ansatz des Nullwachstums, der gewissermaßen den gemäßigteren Teil der Postwachstumsbewegung darstellt, erkennt die empirische Erkenntnis an, dass Wirtschaftswachstum durchaus mit negativer THG-Emissionsentwicklung verbunden sein kann. Gleichwohl basiert der Ansatz darauf, dass es eine positive BIP-THG-Emissionsbeziehung gibt. Im Re-Growth- oder Green-Growth-Ansatz wiederum ist eine absolute Entkopplung deshalb möglich, weil nur der kapitalgebundene technische Fortschritt eine Verringerung der THG-Intensität wirtschaftlicher Aktivität erwirken kann. Je höher also der investitionsgestützte Ersatz emissionsintensiver Produktionsanlagen durch Anlagen mit geringeren Emissionen, desto höher der Emissionsrückgang. Und schließlich geht der A-Growth-Ansatz (wobei „A“ für „agnostisch“ steht und die Unbedingtheit von Wachstum und Emission meint) davon aus, dass es deshalb keine definitive Beziehung zwischen Wirtschafts- und Emissionswachstum gibt, weil die Technikwahl hinsichtlich der Emissionsintensität völlig offen sei und sich jederzeit veränderten Preisrelationen anpassen könne.

Abbildung 1
Grafische Darstellung verschiedener Wachstums­konstellationen
Grafische Darstellung verschiedener Wachstums­konstellationen

Der Wachstumskorridor A bezeichnet den Spielraum zwischen absoluter und relativer Entkopplung.

Quelle: BP (2022); World Bank (2022).

Diese unterschiedlichen BIP-THG-Beziehungen können auch grafisch dargestellt werden (vgl. Abbildung 1), was den Vergleich von absoluter und relativer Entkopplungshypothese ebenso anschaulicher macht wie das Verhältnis von Degrowth- und Nullwachstumsstrategien: Während also im Degrowth-Ansatz die Reduktion an THG-Emissionen notwendigerweise an die Reduktion der ökonomischen Aktivität binden – also einen Rückgang des BIP (in Abbildung 1 befinden wir uns also in Quadrant III auf dem ‚absoluten Kopplungspfad‘), berücksichtigt die Nullwachstumsstrategie die Möglichkeit, dass struktureller Wandel und technischer Fortschritt durchaus ein Wachstum der Größenordnung A (vgl. Quadrant I) erlauben, bei dem zumindest die Emissionsbelastung nicht weiter steigt und es entsprechend einen Wachstumskorridor zwischen 0 und A gibt, in dem die Emissionsbelastung gar sinken kann (in Abbildung 1 befinden wir uns also in Quadrant II auf dem ‚relativen Entkopplungspfad‘). Allerdings ergibt sich im Nullwachstumsansatz, dass in der konkreten Weltlage allenfalls wirtschaftliche Stagnation ausreicht, um einen Emissionsrückgang (zumindest in den hochentwickelten Ländern) in einer Größenordnung zu ermöglichen, der die maximale Erderwärmung als Klimaziel – das nach gegenwärtigen Berechnungen spätestens 2035 erreicht sein wird (IPCC, 2021, 583 ff.) – darstellbar macht. Die absolute Entkopplungsthese knüpft die Reduktion von THG-Emissionen an investitionsgestütztes BIP-Wachstum, wobei die Investitionen allerdings Träger emissions­redu­zierenden technischen Fortschritts sein müssen – Green Growth (hier befinden wir uns in Abbildung 1 in Quadrant II auf dem ‚absoluten Entkopplungspfad‘, dieser muss übrigens nicht in Quadrant IV verlängert werden, denn es gibt keine sinnvolle symmetrische Entsprechung im Sinne eines ‚Green De-Growth‘). Damit löst sie den scheinbaren Widerspruch zwischen Wirtschafts- und THG-Emissionswachstum ebenso auf wie die A-Growth-Strategie, die das vermeintliche Problem gar nicht erst als solches zugestehen will.

Abbildung 2
BIP und THG-Emissionswachstum von 2010 bis 2019 in 20 OECD-Ländern
BIP und THG-Emissionswachstum von 2010 bis 2019 in 20 OECD-Ländern

OECD-Länder: Australien, Belgien, Kanada, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Japan, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Spanien, Südkorea, Schweden, USA.

Quelle: BP (2022); World Bank (2022).

Während wir letztere Strategie als allzu markt- und technologieverträumt nicht weiter verfolgen wollen, muss die Green-Growth-Strategie noch etwas genauer betrachtet werden. Hierzu soll zwischen intensivem und extensivem Wachstum unterschieden werden: Intensives Wachstum meint die technologiegetriebene Erhöhung der Faktorproduktivität, wie sie durch Ersatzinvestitionen (bei einer Netto-Investitionstätigkeit von Null) erzeugt wird. Extensives Wachstum hingegen bezieht sich auf die Erhöhung des Outputs mittels Kapitalstockerhöhung, also durch Erweiterungs­investitionen (bei einer Netto-Investitionstätigkeit größer als Null). Absolute Entkopplung ließe sich nur bei ausschließlicher Realisierung von Ersatzinvestitionen begründen, sobald aber Erweiterungsinvestitionen zugelassen werden, entsteht unabdingbar ein positiver Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und THG-Emissionswachstum.

„Grüne (Erweiterungs-)Investitionen“ können also den Zielkonflikt zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit nicht auflösen, können aber dazu beitragen, die „Null­emissions-Wachstumsrate“ A zu erhöhen und damit die relative Entkopplung vorantreiben. Dies geschieht durch einen Rückgang der THG-Emissionen bei gleichem ΔBIP-Niveau. Dies entspricht in Abbildung 1 einem Übergang vom Pfad absoluter Kopplung zu einem Pfad relativer Kopplung/relativer Entkopplung. Ein Blick in die Empirie legt diesen relativen Entkopplungszusammenhang nahe, wobei die „Nullemissions-Wachstumsrate“ unter den Bedingungen des strukturellen Wandels und technologischen Fortschritts der vergangenen Dekade bei etwas über 2 % p. a. zu liegen scheint, während ein Nullwachstum etwa mit einer Reduktion der THG-Emissionen von ca. 7 % p. a. einherginge.

Massiver Rückgang des Wohlstandsniveaus?

Zur Beantwortung der Frage, welche Auswirkungen die Verfolgung der Pariser Klimaziele für das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand in unseren Gesellschaften bedeutet, trägt die Akzeptanz der relativen Entkopplungsthese nun zweierlei bei: Erstens zeigt sich, dass private und öffentliche Ersatzinvestitionen auf die Höhe der „Null­emissions-Wachstumsrate“ A positiv einwirken können und zweitens hängt die Bestimmung der „nachhaltigen“ Wachstumsrate vom benötigten Emissionsrückgang ab. Obendrein sind beide Überlegungen miteinander verbunden. Lindner merkt zurecht an, dass die Postwachstumsproponenten nicht sehr explizit hinsichtlich ihrer quantitativen Anforderungen an künftig akzeptables Wirtschaftswachstum sind – am einfachsten mag es deshalb sein, ein weltweites Nullwachstum als Zielgröße anzunehmen und die möglichen Konsequenzen für die Wohlstandsentwicklung insbesondere der hochentwickelten Länder daraus abzuleiten.1 Dies jedenfalls ist Lindners Vorgehen und er unterstellt, dass die weniger entwickelten Länder – China mit einem etwa durchschnittlichen BIP pro Kopf würde als Trennlinie zwischen hochentwickelten und weniger entwickelten Ländern anzusehen sein und müsste tatsächlich gerade ein Nullwachstum realisieren (!) – weiterhin wachsen dürfen, während die hochentwickelten Volkswirtschaften entsprechend sogar schrumpfen müssten. Für Deutschland errechnet Lindner nun einen Wert von 70 %, Singapurs Wirtschaftsleistung müsste gar um fast 80 % sinken und selbst Länder wie die Türkei (10 %), Tschechien (40 %) oder Spanien (55 %) müssten enorme Wohlstandsverluste akzeptieren (Lindner, 2023b) – Lindners Einschätzung, eine derartige Entwicklung sei politisch nicht zu vermitteln, ist sicher zuzustimmen.2

Betrachtet man die Grundannahmen, die den Berechnungen zugrunde liegen, wird allerdings deren Realitätsferne deutlich: Es wird von einer totalen Nivellierung der weltweiten Pro-Kopf-Einkommen („Konvergenz“) bei Stagnation des Welt-BIPs ausgegangen. Unrealistisch erscheint dabei nicht nur die totale Nivellierung, sondern auch die Annahme, dass das Welt-BIP dauerhaft nicht weiter steigen dürfe. Unter den akzeptierten Bedingungen der relativen Entkopplung aber darf zumindest dann wieder ein BIP-Wachstum der Größenordnung A realisiert werden, wenn die Klimaneutralität gewährleistet ist. Da voraussichtlich spätestens 2035 die zu stabilisierende Erd­erwärmung von +1,5 °C erreicht sein wird, sollte die Klimaneutralität durch Nullwachstum ebenfalls gegen 2035 verwirklicht sein. Gesteht man den weniger entwickelten Volkswirtschaften, die etwa einen Anteil von 20 % am Welt-BIP haben, bis dahin ein reales BIP-Wachstum von 3 % bis 5 % p. a. zu und verlangt von den Ländern mit etwa durchschnittlichem Pro-Kopf-Einkommen ein Nullwachstum (insbesondere China, Russland, Mexiko etc. mit einem Anteil am Welt-BIP von etwa 25 %), so müssten die hochentwickelten Volkswirtschaften zwischen 1,0 % und 1,8 % p. a. bis 2035 schrumpfen3, um das Welt-BIP real konstant zu halten – dies beträfe vor allem die USA und die EU mit einem Welt-BIP-Anteil von etwa 55 %). Kumuliert entspricht dies einer Senkung des Wohlstands­niveaus in diesen Ländern bis 2035 zwischen 11 % und 20 % – sicher weniger apokalyptisch als in der Projektion Lindners, aber immer noch stark genug, um die politische Umsetzbarkeit in Zweifel zu ziehen.

Hier nun verweisen viele Degrowth- und Nullwachstums­theoretiker:innen darauf, dass die Belastungen in erster Linie von den wohlhabendsten Einkommensdezilen zu tragen seien, denn diese könnten den Wohlstandsverlust am ehesten wirtschaftlich tragen und seien am stärksten für die THG-Emission verantwortlich (vgl. z. B. Buch-Hansen und Koch, 2019; Hickel, 2019; IEA, 2023). In Deutschland erhalten die obersten drei Einkommensdezile etwa 50 % des verfügbaren Einkommens – das oberste Einkommensdezil wiederum allein hat einen Anteil von etwa 25 %; (bpb, 2020) – würde man also allein diesen wohlhabendsten Einkommen die Lasten mit progressiver Steigerung auferlegen, würden sich diese Einkommen um 20 % bis 40 % verringern und wir würden ab dem 7. Einkommensdezil eine weitgehend egalitäre Einkommensverteilung erhalten. Wenngleich eine derartige „Soaking the Rich“-Politik unter demokratischen Entscheidungsverhältnissen durchaus denkbar wäre – immerhin würden dann 70 % der Wählerschaft unbelastet bleiben –, gibt es keine realpolitischen Vorbilder in liberal-demokratisch verfassten Volkswirtschaften, die auf die Durchsetzbarkeit einer solchen politökonomischen Strategie schließen ließen.

Degrowth und die Systemfrage

Neben die Frage nach der politischen Umsetzbarkeit einer Degrowth- bzw. Nullwachstumsstrategie gesellt sich die mindestens ebenso relevante Frage nach deren Systemkonformität. Lindner verweist zwar auf die (scheinbaren) Vorzüge des Wachstums, erwähnt aber nicht die recht breit geführte Diskussion, ob unser markwirtschaftliches System – oder anders: unser kapitalistisches System – überhaupt ohne Wachstum funktionsfähig bleiben kann. Ist dem kapitalistischen System vielleicht ein Wachstumszwang immanent, der jede Degrowth- oder Nullwachstumsstrategie zur grundsätzlichen Systemfrage machen würde? Degrowth-Befürworter:innen sind zumeist recht explizit darin, das kapitalistische Wirtschaftssystem für unvereinbar mit einem Degrowth-Szenario zu erklären (vgl. z. B. Kallis, 2017; Crownshaw et al., 2019; Hickel, 2019, 30), wobei nicht immer deutlich wird, ob das Degrowth-Szenario als objektive Begründung einer notwendigen Systemtransformation gesehen oder vielmehr nur als Katalysator einer gewünschten Systemtransformation vorgeschoben wird (vgl. z. B. Schmelzer et al., 2022). Und auch die Systemalternative am Ende eines Transformations­prozesses wird selten konkretisiert (Crownshaw et al., 2019, 118 f.).

Klar aber dürfte sein, dass die Antwort auf die Frage nach dem inhärenten Wachstumszwang des Kapitalismus unterschiedlich ausfallen wird, wenn unterschiedliche Paradigmen befragt werden. Bevor dies in der gebotenen Kürze geschehen soll, muss zunächst festgelegt werden, was unter Funktionsfähigkeit eines ökonomischen Systems verstanden werden soll. Üblicherweise wird darunter die Eigenschaft einer langfristigen Stabilität und Gleichgewichtigkeit verstanden (Brinkmann et al., 2017, 645). Das standardökonomische Paradigma sieht aufgrund der dem Kapitalismus zugrundeliegenden Ontologie als intertemporale Tausch- oder Marktwirtschaft und der damit begründeten Gültigkeit des Walras-Gesetzes (Heise, 2017) diese Eigenschaften für gegeben an. Wachstum wird dann durch die Endlichkeit der Produktionsfaktoren und dem endogenen technischen Fortschritt begrenzt. Wenn Umwelt als Produktionsfaktor begriffen wird und ihre Übernutzung gar ein (temporäres) negatives Wachstum erforderlich machen sollte, wäre dies durchaus mit dem Kapitalismus vereinbar; ein Wachstumszwang ergibt sich hier nicht (Richters und Siemoneit, 2019, 4; Binswanger, 2022).

Anders mag es aussehen, wenn mit dem postkeynesianischen Paradigma eine alternative Ontologie des Kapitalismus als kreditbasierte Verpflichtungsökonomie angenommen wird. Unter Zurückweisung des Walras-Gesetzes wird hier selbst unter Missachtung der planetaren Grenzen die stabile Gleichgewichtigkeit des Kapitalismus bestritten und eine makroökonomische Intervention zur Erhöhung des Aktivitäts- und Beschäftigungsniveaus gefordert. Wenn nun die Umwelt als Wachstumsbegrenzung hinzutritt, erhöht sich einerseits das Instabilitätsrisiko zinsbelasteter Finanzbeziehungen (Hyman P. Minkys „Finanzielle Instabilitätshypothese“), andererseits beschleunigt sich die Transformation vom Industrie- zum Finanz- bzw. Casino-Kapitalismus (Heise, 2023), in dem nicht die Wertschöpfung durch Realinvestitionen, sondern die Abschöpfung von Vermögenspreissteigerungen durch Finanzinvestitionen handlungsleitend wird. Anders als der große englische Ökonom John Maynard Keynes es annahm, würde ein Nullwachstum also nicht den „Tod des Rentiers“ (Keynes, 1936, 185) bedeuten, sondern vielmehr dessen erweitertes Handlungspotenzial begründen. Daraus lässt sich zwar kein unvermeidbarer Systemzusammenbruch ableiten, wohl aber eine Verschärfung des Zielkonflikts zwischen Ökologie und Ökonomie.

Schlussfolgerungen

Lindners Artikel ist mit „Kein Wachstum ist auch keine Lösung“ überschrieben. Also doch auf Wachstum – grünes Wachstum – setzen? Dies kann aber nur die nachvollziehbare Schlussfolgerung sein, wenn es unverzüglich gelänge, die relative Entkopplung soweit voranzubringen, dass effizientes Wachstum im Sinne des Pariser Klimaschutzziels darstellbar wird. Zwar verweist Lindner darauf, dass die relative Entkopplung in der Vergangenheit bereits vorangekommen ist, er liefert aber kein Argument – jenseits einer vagen Hoffnung, dass alsbald ein hinreichendes Entkopplungsniveau erreicht werden wird. Die vagen Hoffnungen werden natürlich die Nullwachstumsproponenten nicht überzeugen, wie sie auch einer verantwortlichen Politik nicht als alleinige Handlungsgrundlage dienen dürfen. Natürlich muss die Politik verstärkt Anreize für klimafreundliche Investitionen setzen und auch selbst tätigen. Es wäre aber unredlich, darin des Problems Lösung behaupten zu wollen. Vielmehr müssen wir uns wohl eingestehen, dass der Zielkonflikt zwischen Ökologie und Ökonomie nicht vollständig aufgelöst werden kann und in demokratisch verfassten Gesellschaften kurzfristige ökonomisch-soziale Ziele gegenüber längerfristigen ökologischen Zielen prioritär behandelt werden. Oder deutlicher: Wir werden das Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf +1,5 °C nicht erreichen und müssen uns vielmehr darauf konzentrieren, die Anpassungsfähigkeit und Resilienz unserer Gesellschaften zu erhöhen.

  • 1 Damit ein weltweites Nullwachstum als hinreichend angesehen werden kann, muss eine zukünftige Abnahme der Emissionsintensität unterstellt werden, wie es sie historisch – weltweit und über längere Zeiträume hinweg – noch nicht gegeben hat. Doch bedeutet diese historische Reminiszenz eben nicht, dass derartige Entwicklungen unmöglich sind (Warlenius, 2023).
  • 2 Degrowth-Protagonisten sehen in Ländern wie Costa Rica oder Tunesien Vorbilder, die hinreichenden Wohlstand mit planetarischen Grenzen vereinbaren (Hickel, 2019).
  • 3 Ganz grob entspricht dies den Projektionen, die sich aus der BIP-THG-Emissionskopplung in Abbildung 1 und den Berechnungen in SRU (2022, 6 f.) ergeben.

Literatur

Binswanger, M. (2022), Economic Growth Became a Compulsive Act. Interview with Matthias Binswanger of 23rd of March 2022, https://www.globalance-invest.de/en/news-trends/mathias-binswanger-interview/ (15. Dezember 2023).

BP (2022), Statistical Review of World Energy.

bpb – Bundeszentrale für politische Bildung (2020), Soziale Situation in Deutschland. Einkommensverteilung, https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61769/einkommensverteilung/ (19. Januar 2024).

Brinkmann, H. et al. (2017), Ökonomische Resilienz – Schlüsselbegriff für ein neues wirtschaftspolitisches Leitbild?, Wirtschaftsdienst, 97(9), 644-650, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2017/heft/9/beitrag/oekonomische-resilienz-schluesselbegriff-fuer-ein-neues-wirtschaftspolitisches-leitbild.html (19. Januar 2024).

Buch-Hansen, H. und M. Koch (2019), Degrowth through income and wealth caps?, Ecological Economics, 160, 264-271.

Crownshaw, T. et al. (2019), Over the horizon: Exploring the conditions of a post-growth world, The Anthropocene Review, 6(1-2), 117-141.

Heise, A. (2017), Walras‘ Law in the Context of Pre-Analytic Visions: a Note, Economic Thought, 6(1), 83-96.

Heise, A. (2019), Postkeynesianismus. Ein heterodoxer Ansatz auf der Suche nach einer Fundierung, List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, 44(4), 867-888.

Heise, A. (2023). A Keynesian–Minskian perspective on the transformation of industrial into financial capitalism. Journal of Evolutionary Economics, 33(4), 963–990.

Hickel, J. (2019), Is it possible to achieve a good life for all within planetary boundaries?, Third World Quarterly, 40, (1), 18-35.

IEA – International Energy Agency (2023), The world’s top 1% of emitters produce over 1000 times more CO2 than the bottom 1%, Paris, https://www.iea.org/commentaries/the-world-s-top-1-of-emitters-produce-over-1000-times-more-co2-than-the-bottom-1 (19. Januar 2024).

IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change (2021), Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change.

Kallis, G. (2017), Radical dematerialization and degrowth, Philosophical Transactions, Series A, Mathematical, Physical, and Engineering Sciences, 375, 1-13.

Keynes, J. M. (1936), Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes.

Lindner, F. (2023a), Kein Wachstum ist auch keine Lösung, Wirtschaftsdienst, 103(8), 564-569, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2023/heft/8/beitrag/kein-wachstum-ist-auch-keine-loesung.html (19. Januar 2024).

Lindner, F. (2023b), Ökologische Nachhaltigkeit und materieller Wohlstand – ein Zielkonflikt?, Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft Focus Paper, 10, Bertelsmann Stiftung.

Naqvi, A. und K. Zwickl (2017), Fifty shades of green: Revisiting decoupling by economic sectors and air pollutants, Ecological Economics, 133, 1315-1319.

Richters, O. und A. Siemoneit (2019), Wachstumszwang – eine Übersicht, ZOE Discussion Papers, 3.

Schmelzer, M., A. Vetter und A. Vansintjan (2022), The Future is Degrowth. A Guide to a World beyond Capitalism.

SRU – Sachverständigenrat für Umweltfragen (2022), Wie viel CO₂ darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO₂-Budget.

Warlenius, R. H. (2023), The limits to degrowth: Economic and climatic consequences of pessimist assumptions on decoupling, Ecological Economics, 213.

World Bank (2022), World Development Indicators.

Title:Green Growth or Post-Growth – Some Comments on Fabian Lindner’s Article

Abstract:In his latest article in this journal “No growth is no solution either – a critique of degrowth and post-growth approaches”, Fabian Lindner takes up an important debate: Can the goals of the Paris climate conference – limiting global warming to no more than +1.5 °C compared to the pre-industrial age – be reconciled with continued economic growth or does it require a shift away from economic growth, as suggested by the post-growth approach? Some further considerations are presented here for discussion.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0036