Am 7. Februar 2024 fand in Berlin die gemeinsame Konferenz von Wirtschaftsdienst und dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) unter dem Titel „Zur Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland“ statt. Dieser Beitrag diente als Keynote zur Eröffnung der Konferenz. Bei der Frage nach der Ausgangssituation des Wirtschaftsstandorts, der Standortqualität, dem Standortwettbewerb und der Standortpolitik ist nicht von vornherein klar, an welcher Norm sich der Befund und damit die Lösung orientieren soll.
Wer über den Wirtschaftsstandort spricht, tut dies nur vermeintlich auf gesichertem Terrain. Denn konzeptionell ist der Standort ebenso fragwürdig wie die wirtschaftspolitischen Konzepte, die sich darauf beziehen. Die Auflösung dieser Widersprüche steht vor weiteren Herausforderungen, weil – unabhängig vom schon strittigen Befund über den Standort – wirtschaftspolitische Konzeptionen in diesem Kontext leicht in einen ordnungspolitischen Streit darüber geraten, was denn der Staat in einer Marktwirtschaft zu leisten habe, was nicht und wo er sich grundsätzlich überfordere. Das wird transparent an der Diskussion über Industriepolitik, die seit jeher konzeptionell aus unterschiedlichen ideologischen Perspektiven eingeordnet wird. Traditionell wurde der vertikal orientierte und sektorspezifische Ansatz französischer Herkunft kontrastierend der horizontal, allgemein auf die Investitionsbedingungen ausgerichteten deutschen Politik gegenübergestellt. Insgesamt hat sich über die Jahrzehnte aus einer neutralen Betrachtung der Wirtschaftsstruktur das Bewusstsein entwickelt, dass die Industrie für die deutsche Volkswirtschaft eine besondere Bedeutung hat, die nicht einfach ignoriert werden kann (Deutsche Bundesbank, 2023, 16 f.).
Es kommen noch Schwierigkeiten auf der theoretischen Ebene hinzu. Denn bei der Frage nach dem Standort, der Standortqualität, dem Standortwettbewerb und der Standortpolitik ist per se nicht klar, an welcher Norm der Befund und damit die Remedur zu orientieren ist. Denn es gibt keine definitorisch gefasste Gleichgewichtslage wie für die Konjunkturanalyse und Konjunkturpolitik. Das Standortthema beinhaltet die Bereiche Strukturwandel und Wachstum und ist auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft verortet. Letztlich geht es um die angemessene, d. h. spannungsfreie Auslastung des Faktors Arbeit, denn darauf konzentriert sich das Koordinationsversprechen der Marktwirtschaft: Dass die in der Volkswirtschaft vorhandenen Beschäftigungswünsche – jenseits der friktionellen Arbeitslosigkeit – befriedigt werden, und zwar nach Volumen und Preis. Alternativ könnte man die angebotsorientierte Vorstellung des beschäftigungsneutralen Strukturwandels der Produktionskapazitäten betrachten.
Standort ist, was die Ökonomik als Standort definiert
Standort als das zu sehen, was die Ökonomik als Standort definiert, mag überraschen. Damit wird das Thema zwar nicht beliebig, aber in jedem Fall nach Zeit und Raum spezifizierbar – es ist, wenn man so will, ein Zeitgeistthema der empfundenen Probleme und Dringlichkeiten. Standortwettbewerb und damit Standortindikatoren sowie deren Bedeutung können sich nicht nur nach Branche und regionalen Besonderheiten unterscheiden, sondern unterliegen ebenfalls geopolitischen Ereignissen und globalen Trends.
Derzeit gibt es mit dem World Competitiveness Ranking des Institute for Management Development (IMD), dem Global Competitiveness Report des World Economic Forum und dem Doing Business Report der Weltbank drei international beachtete Publikationen, die regelmäßig und umfassend Standortindikatoren zusammentragen. Das World Competitiveness Ranking des IMD ist die am längsten zurückgehende und kontinuierlich veröffentlichte Serie zur Bewertung der Standortqualität und bietet damit eine sehr gute Vergleichsmöglichkeit der Standortindikatoren im Wandel der Zeit (vgl. Tabelle 1). Der Index definiert die Standortqualität danach, wie nationale Umgebungen förderlich oder hinderlich für die in diesen Ländern tätigen Unternehmen sind (World Economic Forum, 1989, 8).
Tabelle 1
Kriterien und Indikatoren des IMD Global Competitiveness Rankings im Wandel
1989: Zehn Hauptkriterien | 2023: Vier Hauptkriterien |
---|---|
Wirtschaftsdynamik | Wirtschaftsleistung |
Effizienz der Industrie | Unternehmerische Effizienz |
Marktorientierung (Einzelhandel, Qualität, Marketing) | ./. |
Finanzdynamik | (s. Unternehmerische Effizienz) |
Human Resources | Infrastruktur |
Staatliche Eingriffe | Staatliche Effizienz |
Natürliche Ressourcen | (s. Infrastruktur) |
Außenhandel | (s. Wirtschaftsleistung) |
Innovative Zukunftsorientierung | (s. Infrastruktur) |
Sozial-politische Stabilität (Kriminalität, Streiktage) | ./. |
Quelle: eigene Darstellung, Institute for Management Development (IMD), World Competitiveness Report 1989 und 2023.
Bereits der Report von 1989 nutzte neben Statistiken auch Befragungsdaten. Mit einer erhöhten Datenverfügbarkeit in den vergangenen 30 Jahren kamen nicht nur insgesamt mehr Indikatoren hinzu, auch die Zahl der untersuchten Länder stieg von 32 (1989) auf 64 im Bericht von 2023. Während 1989 im Hauptkriterium „Marktorientierung“ noch Ausgaben für Marketing und Werbung sowie Produkt- und Dienstleistungsqualitäten analysiert wurden, fallen diese Indikatoren zur Begutachtung der Standortcharakteristika heute weg. Mit der Vertiefung der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung und Handelspartnerschaften werden heute auch keine speziellen Indikatoren für bestimmte Branchen, wie die Wertschöpfung oder Produktionszahlen der Stahl-, Zement- oder Chemie-Branche, separat in die Untersuchung der Standortgüte einbezogen. Weiche Standortfaktoren, die sich zuvor vornehmlich auf Befragungsdaten stützten, werden aktuell um neue, allgemeine Indizes, wie dem Human Development Index (seit 1990 verfügbar) und dem EIU Overall Democracy Index (seit 2006 verfügbar), ergänzt.
Während in der Vergangenheit immer wieder bestimmte Länder (Japan, Schweiz, USA oder Kanada) Vorbilder für die Wettbewerbsfähigkeit waren, zeigt ein Blick auf die vergangenen Ergebnisse des World Competitiveness Rankings, dass es kein eindeutiges Vorbild mehr gibt. Obwohl China und die USA als die größten Volkswirtschaften vielversprechend erscheinen, sind sie nur eingeschränkt als Musterbeispiele für Wettbewerbsfähigkeit geeignet. Insbesondere, wenn man zusätzliche Indizes zur Digitalisierung, Attraktivität für ausländische Fachkräfte, ökologischen Nachhaltigkeit oder eine zuverlässige Stromversorgung als Standortindikator berücksichtigt (Fremerey und Sommer, 2023).
Das schnelllebige geopolitische Umfeld führt zu rasch wechselnden Standortfaktoren, die über rein wirtschaftliche Aspekte hinausgehen. Der Dreiklang aus einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit einer gefestigten Demokratie und einer freien sowie engagierten Zivilgesellschaft erhält somit eine bedeutendere Rolle, denn: „soziale Marktwirtschaft ohne demokratische Einbettung und zivilgesellschaftliche Mitgestaltung ist nicht denkbar“ (Hüther, 2022, 73). Die westliche Marktwirtschaft und die moderne Demokratie sind dabei nicht nur durch dieselben Ursprünge eng miteinander verbunden, sondern basieren auch auf denselben Prinzipien, dass Wahlmöglichkeiten bestehen und dass Konflikte ausgleichend gelöst werden, ohne bestimmte Gruppen zu überfordern (Enste et al., 2023).
Kombiniert man das World Competitiveness Ranking mit einer stärkeren Gewichtung von Indizes für Demokratie und Zivilgesellschaft sind insbesondere europäische Wohlfahrts- und Sozialstaaten führend, während autokratische Staaten, wie Singapur und China, es nicht oder nur knapp unter die oberen zehn Länder schaffen (Fremerey und Sommer, 2023). Auch wenn immer neue Indikatoren und Denkschulen zum Standortwettbewerb entstehen, bleibt nach wie vor gültig, was schon im ersten World Competitiveness Report von 1989 betont wurde: „[...] no matter what the point of view, international competitiveness is ultimately shaped by the quality of the country’s human resources“ (World Competitiveness Report, 1989, 44). So kann neben den aktuellen Disruptionen unserer Zeit – Digitalisierung, De-Globalisierung und Dekarbonisierung – die demografische Alterung in ihrer Bedeutung für den Standort nicht überschätzt werden und sollte perspektivisch mehr Beachtung in der Messung der Standortqualität finden.
Wettbewerbsfähigkeit und Wettbewerb von Standorten
Grundsätzlich stellt sich jedoch die Frage, ob es im internationalen Vergleich so etwas wie einen Standortwettbewerb überhaupt geben kann; jedenfalls ist diese Frage vor 30 Jahren intensiv erörtert worden. Die Konkurrenz von Staaten um Produktionsfaktoren wird damit analog zum Wettbewerb von Unternehmen gedeutet, wobei es um die Ansiedlung von Unternehmen an einem Standort geht, weil damit regionale Entwicklungsvorteile verbunden seien. Die wirtschaftswissenschaftliche Literatur hat sich diesem Thema seit Ende der 1980er Jahre immer wieder angenommen (Klodt et. al., 1989; SVR, 1988 und 1995).
Die Argumentationen beruhen auf der Einschätzung, dass sich durch die Veränderung der weltwirtschaftlichen Bedingungen der Wettbewerb der Ökonomien verschärft habe: „In jüngster Zeit haben viele Faktoren zusammengewirkt, den Wettbewerb und insbesondere auch den Standortwettbewerb zu verschärfen: der Abbau von Handelsschranken, die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, die Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Unternehmern in Europa, eine Kommunikationstechnik, die Informationen weltweit verfügbar macht, die Globalisierung von Unternehmensnetzwerken, zugleich das Entstehen neuer leistungsfähiger Standorte in Schwellenländern, aber auch in den uns benachbarten Reformländern Mittel- und Osteuropas. […] Nur wenn das Land sich im Standortwettbewerb behauptet, kann es gelingen, wieder einen hohen Beschäftigungsstand zu erreichen und zugleich Einkommen und Wohlstand zu sichern“ (SVR, 1995, II).
Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass im Jahr 1995 – „der Hochphase des Paradigmas der internationalen Wettbewerbsfähigkeit“ (Meteling, 2019) – auf europäischer Ebene eine laufende Begutachtung der Wettbewerbsfähigkeit der EU beauftragt und eine Competitiveness Advisory Group (CAG) eingerichtet wurde (EU-Kommission, 1995; Jacquemin und Pench, 1999). Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit sollte in erster Linie dazu dienen, einen Vergleich des Lebensstandards mit anderen Ländern zu ermöglichen, mit dem langfristigen Ziel, Rentabilität und Kapitalakkumulation zu fördern (Meteling, 2019). Das gilt heute im Grundsatz unverändert, allerdings bei grundsätzlich veränderten Angebotsbedingungen.
Zur gleichen Zeit hatte Paul Krugman die Debatte um die Wettbewerbsfähigkeit von Nationen als irreführend bewertet, da wettbewerbsstarke Nationen nicht einfach weniger wettbewerbsfähige Volkswirtschaften verdrängen. Gemäß dem Theorem der komparativen Kosten spielen auch schlechter ausgestattete Ökonomien im internationalen Handel und im Wettbewerb um Kapital eine Rolle, jedenfalls müssen sie anders als Unternehmen nicht Konkurs anmelden (Krugman, 1994). Daher rückte er die Handelsbilanz und die Terms of Trade in den Mittelpunkt. Zugleich war der Blick auf die Globalisierung nicht von den Erfahrungen seit der Jahrtausendwende geprägt, als durch die kapitalgetriebene Internationalisierung der Wertschöpfungsketten weltweite Netzwerke entstanden.
Dass heute von Decoupling und Derisking mit Verweis auf geopolitische Risiken außenwirtschaftlicher Abhängigkeit gesprochen wird (Deutsche Bundesbank, 2023, 17 ff.), war seinerzeit außerhalb der Vorstellungswelt. Krugman konnte jenseits der Frage nach den Entscheidungsfaktoren für hochmobiles Finanzkapital und relativ mobiles hochqualifiziertes Humankapital betonen, dass Wettbewerbsfähigkeit allein aus der (inländischen) Produktivität zu erklären ist. Zugespitzt gesagt zeigt sich die Wettbewerbsfähigkeit eines Land dann, wenn der regulierende Staat im Außenhandel wegfällt. Würden jegliche Zölle abgeschafft, würden die komparativen Vorteile vollends zum Tragen kommen und die inländische Produktivität zum maßgebenden Faktor werden.
Anders als Krugman, der für die Bestimmung der Wettbewerbsfähigkeit die Ausstattung einer Region mit natürlichen Ressourcen hervorhebt, wählte Michael Porter in seinem Diamanten-Modell den Begriff „Faktorbedingungen“ als Determinante für Wettbewerbsfähigkeit, worunter auch staatlich beeinflussbare Dinge, wie das infrastrukturelle Umfeld und die Ausstattung des Humankapitals, fallen (Porter, 1990; Delgado und Porter, 2021). Dem Staat fällt – anders als bei Krugman – in Porters Modell durch aktive Industriepolitik eine zentrale Aufgabe zu, um die Faktorbedingungen aufzuwerten (Meckl und Rosenberg, 1995). Die grundsätzlich verbleibende Spannung zwischen beiden Ansätzen löst sich auf, wenn man Standortwettbewerb auf die regionale Ebene projiziert. Dann lassen sich politische Überlegungen sehr viel spezifischer an den Gegebenheiten ausrichten (Hüther, 2019).
Demografische Alterung, Transformation zur Klimaneutralität, neue Sicherheitsbedarfe
Die Frage der Standortattraktivität und damit der Bedingungen für den Wettbewerb der Standorte ist heute durch andere Faktoren geprägt als vor 30 Jahren, in der Zeit struktureller Unterbeschäftigung. Heute prägen der demografische Wandel durch Alterung und Schrumpfung, zugleich der Strukturwandel zur Klimaneutralität per Termin und schließlich die Fragen der Verteidigung und Sicherheit sowie der außenwirtschaftlichen Abhängigkeit den Wirtschaftsstandort: „Die Herausforderungen, vor denen die deutsche Wirtschaft steht, sind komplex und vielfach miteinander verschränkt“ (Bundesbank, 2023).
- Anders als in den 1980er und 1990er Jahren führt nicht mehr die Unterbeschäftigung in Industrieländern und der Anpassungsbedarf in den nationalen Arbeitsmärkten angesichts der ökonomischen Globalisierung, vor allem der Angebotsausweitung geringer qualifizierter Arbeitskräfte, zu Herausforderungen für den Standort. Es geht vielmehr darum, die Arbeitskräfteausstattung zu sichern (Arbeitsvolumenpolitik, Migrationssteuerung) sowie durch komplementäre Kapitalinvestitionen deren Leistungsfähigkeit (Produktivität) zu steigern.
- Zugleich führt die Dekarbonisierung dazu, dass Teile des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks vor dem Zeitpunkt des technisch bedingten Abgangs ersetzt werden müssen. Damit entstehen Kapitalkosten, für deren Bereitstellung der internationale Kapitalmarkt unverzichtbar ist. Da die Ausreifung neuer Geschäftsmodelle in der Transformation zur Klimaneutralität mit hoher Unsicherheit und entsprechendem Zeitbedarf verbunden ist, ergibt sich das Problem, dass die dadurch erodierende Wettbewerbsfähigkeit den Kapitalimport erschwert. Staatliche Interventionen gewinnen eine neue zusätzliche Begründung.
- Die „Global Power Competition“ – der neue Wettstreit der großen Mächte – und die vielfältigen Bedrohungen der nicht direkt involvierten Staaten bei den Themen Cyber Security, Versorgungssicherheit und internationale Lieferketten haben eine enorme Bedeutung für die mittel- bis langfristigen Investitionsentscheidungen und damit den Wachstumszyklus zur Klimaneutralität gewonnen. Der Staat muss seine Finanzierungsoptionen neu gewichten: Die erhöhten Verteidigungsausgaben sind aus ordnungspolitischer Sicht durch Steuermittel zu tragen.
Diese drei Kontexte lenken die Aufmerksamkeit auf die Attraktivität eines Landes für Kapitalimporte unter restriktiven Bedingungen. Es geht darum, gezielt Kapital anzuziehen, um den Umbau des Kapitalstocks für eine alternde Bevölkerung und einen politikinduzierten Strukturwandel zu ermöglichen. Die Politik steht daher vor der Herausforderung, spezifische strukturelle Probleme auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft zu bewältigen. Dies wiederum bettet sich ein in die erweitere Perspektive einer resilienten Gesellschaft (Brunnermeier, 2021).
Der Weg zur Klimaneutralität, der eine weltweite Koordination erfordert, muss unter den Bedingungen des demografischen Wandels und eines internationalen Standortwettbewerbs in Zeiten neuer geopolitischer Dominanz beschritten werden. Dazu bedarf es ökonomischer und gesellschaftlicher Resilienz. Besitzt ein Land Resilienz – also die Fähigkeit, präventive Maßnahmen zur Krisenbewältigung zu planen und vorzuhalten, unmittelbare Krisenfolgen abzumildern und sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen und so nach einem Schock auf den vorherigen Mittelwert zurückzuschwingen (Brunnermeier, 2021) – profitiert es davon auch im internationalen Standortwettbewerb. Eine hohe Resilienz wird erreicht, wenn das Handeln und Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft (Interdependenz der Ordnungen) im Sinne der jeweiligen Ziele nachhaltiges Wachstum, Wohlstand und Wohlbefinden gewährleistet (Enste et al., 2023).
Standortpolitik für Resilienz
Eine offene, widerstandsfähige Gesellschaft ist durch das Vertrauen gegenüber Fremden charakterisiert, was besonders in Krisenzeiten stabilisierend wirken kann. Für eine demokratische, freiheitliche Gesellschaftsordnung ist die Wahrnehmung von Mitverantwortung und die Mitgestaltung des öffentlichen Raums von starken Gruppen eine notwendige Bedingung. Diese wichtigen Standortindikatoren einer starken Zivilgesellschaft und stabile politische Institutionen sind in den drei großen Wirtschaftsregionen, EU, USA und China, unterschiedlich ausgeprägt und tragen somit unterschiedlich zu deren Resilienz bei (vgl. Tabelle 2).
Tabelle 2
Standortaspekte für die gesellschaftliche Resilienz
EU | USA | China | |
---|---|---|---|
Demografie | Ungünstig wegen hoher Alterung; Potenziale gesteuerter Zuwanderung mit Integrationsperspektive | Stabil; Diversität, aber häufig mit Segregation verbunden | Extrem ungünstig wegen massiver Schrumpfung und Alterung; geringe Einwanderungsattraktivität |
Transformation zur Klimaneutralität | Zertifikatehandel (ETS); Transformationsagenda (Net Zero Industry Act) | Subventionen und Protektionismus | Subventionen und handelspolitische Einschränkungen |
Technologische Souveränität | Begrenzt, aber regulatorisch: DGSVO, DMA/DSA, AIA | Hoch; GAFAM | Weitgehend, aber politisches Misstrauen |
Kapitalmarkteffizienz | Ungenutzte Chancen: Kapitalmarktunion und Bankenunion | Global Player, aber mangelnde Regulierung der Regionalbanken | Ineffizienter Kapitalmarkt, begrenzte Mobilität, Interventionen |
Verteidigungsfähigkeit | Begrenzt autonom; abhängig von der NATO/USA | Autonome Souveränität; unabhängig von der NATO | Weitgehende Souveränität |
Zivilgesellschaft | Spannungen, aber hohes Engagementniveau | Fragmentierungen, Philanthropie | Faktisch nicht wirksam; strafrechtliche Bedrohung |
Politische Institutionen | Stabil, anpassungsfähig | Fragil, kaum anpassungsfähig | Starr, autoritär |
Quelle: eigene Zusammenstellung.
Tabelle 2 zeigt, wie wenig eindeutig das Gesamtbild der Standortqualität wird, wenn Standortfaktoren breiter definiert und die großen Themen des Wandels berücksichtigt werden. Für die Frage der Resilienz ist dabei wichtig, dass in den einzelnen Sachzusammenhängen und Systemen eine inhärente Anpassungsflexibilität besteht; es kommt weniger auf die Ausgangsbewertung an. Abgesehen von dem drängenden Aspekt der Verteidigungsfähigkeit, die bislang nicht selbst von der EU geleistet werden kann, weist die EU viele robuste Aspekte und vor allem Potenziale auf. Diese gilt es zu nutzen und die entsprechenden politischen Weichenstellungen zu setzen.
Das EU-weite Ziel, bis 2045 klimaneutral zu sein, setzt der Transformation einen klaren Zeitrahmen. Die aktuellen Probleme des verarbeitenden Gewerbes erfordern eine eingehende Analyse, da diese nicht erst seit der Pandemie oder dem Energiepreisschock, sondern bereits seit 2018 bestehen. Die Standortbedingungen sind daher der zentrale Ansatzpunkt der Wirtschaftspolitik, um die Vielfalt der speziellen Herausforderungen umfassend zu verbessern. Deutschland hinkt beim Erhalt des Kapitalstocks hinterher. Die öffentlichen Investitionen des Landes liegen schon seit geraumer Zeit deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Derzeit belaufen sie sich auf 2,6 % des BIP, während der EU-Durchschnitt bei 3,2 % liegt. Es ist dringend notwendig, den Kapitalstock zu modernisieren und zu transformieren, um den Anforderungen der grünen und digitalen Transformation gerecht zu werden.
Der Erfolg der Transformation ist nur im Rahmen einer wachstumspolitischen Ausrichtung gewährleistet, die den Umbau der Volkswirtschaft nicht von den Grundlagen für Wertschöpfung und Wachstum entkoppelt. Angesichts großer Investitionsentscheidungen, die Unternehmen für die Transformation treffen müssen, ist es von entscheidender Bedeutung, verlässliche Perspektiven zu schaffen. Die ordnungspolitischen Grundprinzipien einer erfolgreichen Transformationsstrategie umfassen die Kontinuität der Wirtschaftspolitik, die Kohärenz der Teilordnungen, den Grundsatz der Technologieoffenheit und die effiziente Bereitstellung von Mitteln für private Investitionen durch das Finanzsystem. Daraus abgeleitet ergibt sich die Notwendigkeit einer Industriepolitik, die sich auf Fristentransformation, Risikotransformation und die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit konzentriert (Hüther et al., 2023). Zusätzlich nötig ist eine Kapitalmarktpolitik, die auf die Vertiefung und Verbreiterung der heimischen Märkte setzt (europäische Banken- und Kapitalmarktunion).
Die aktuellen Haushaltsprobleme, vor allem aufgrund der aktuellen Regelung der Schuldenbremse, verhindern Investitionen, obwohl der Bedarf, insbesondere bei Infrastrukturmängeln, hoch ist. Zusammengefasst steht die derzeitige Politik vor der Herausforderung, sowohl die Transformation als auch den Standortwettbewerb zu bewältigen. Die Transformationsfähigkeit und die Verfügbarkeit der notwendigen Inputfaktoren sollten verstärkt in der Standortpolitik berücksichtigt werden, um eine nachhaltige Grundlage für eine erfolgreiche Transformation und einen wettbewerbsfähigen Standort zu schaffen.
Literatur
Brunnermeier, M. (2021), Wie wir künftige Krisen besser meistern können, Aufbau Verlag.
Delgado, M, und M. Porter (2021), Clusters and the Great Recession, Working Paper, https://ssrn.com/abstract=3819293 (5. Januar 2024).
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Enste, D., M. Hüther und J. Potthoff (2023), Wie resilient ist die Soziale Marktwirtschaft im internationalen Vergleich? Zur Widerstandsfähigkeit von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft in der Transformation, Roman Herzog Institut.
EU-Kommission (1995), Competitiveness Advisory Group (press release), https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_95_141 (3. Januar 2024).
Fremerey, M. und J. Sommer (2023), Standortwettbewerb im Wandel, IW-Kurzbericht, 81/2023.
Hüther, M. (2019), Wozu Regionalpolitik? Wo liegt das Problem?, Wirtschaftsdienst, 99(13), 3-9, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2019/heft/13/beitrag/wozu-regionalpolitik-wo-liegt-das-problem.html (3. Februar 2024).
Hüther, M. (2022), Welche Zukunft hat die soziale Marktwirtschaft?, Herder Verlag.
Hüther, M., H. Bardt, C. Bähr, J. Matthes, K.-H. Röhl, C. Rusche und T. Schaefer (2023), Industriepolitik in der Zeitenwende, IW-Policy Paper, 7.
Jacquemin, A. und L. R. Pench (1999), Europa im globalen Wettbewerb: Berichte des Rats für Wettbewerbsfähigkeit, Nomos Verlag.
Klodt, H. et al., (1989), Weltwirtschaftlicher Strukturwandel und Standortwettbewerb. Die deutsche Wirtschaft auf dem Prüfstand, Kieler Studie, 228.
Krugman, P. (1994), Competitiveness: A Dangerous Obsession, Foreign Affairs, 73(2), 28-44.
Meckl, R. und C. Rosenberg (1995), Neue Ansätze zur Erklärung internationaler Wettbewerbsfähigkeit, Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (ZWS), 115(2), 211-230.
Meteling, W. (2019), Europas internationale Wettbewerbsfähigkeit. Der erste Bericht der Competitiveness Advisory Group der Europäischen Kommission (Juni 1995), in Themenportal Europäische Geschichte (2019), www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1725 (3. Januar 2024).
Porter, M. (1990), The Competitive Advantage of Nations, Free Press.
SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1988), Arbeitsplätze im Wettbewerb, Jahresgutachten 1988/89.
SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1995), Im Standortwettbewerb, Jahresgutachten 1995/96.
World Economic Forum (1989), The World Competitiveness Report, Lausanne/ Geneva, Juli.