Die Agrar- und Ernährungswirtschaft steht vor großen Herausforderungen: starke globale und lokale Angebotsschwankungen bedingt durch Extremwetterereignisse, Heuschrecken, Tierseuchen oder Konflikte, zu niedrige Preise aus Produzent:innensicht, zu hohe Preise aus Verbraucher:innensicht, Hunger, Fehl- und Unterernährung, ernährungsbedingte Krankheiten, Umweltprobleme und Klimaveränderungen sind nur einige der Herausforderungen, die immer wieder auftreten. Aber auch eine stockende Globalisierung und erhebliche Logistikprobleme spätestens seit der Coronapandemie und dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine fordern die Agrar- und Ernährungswirtschaft heraus.
Vor diesem Hintergrund analysiert der vorliegende Beitrag Produktions- und Handelsentwicklungen aus Sicht der europäischen Agrar- und Ernährungswirtschaft und diskutiert die Frage, welche Folgen dies für die Agrar- und Ernährungspolitik der EU haben könnte.
Das Agrar- und Ernährungssystem im Zentrum planetarer Grenzen und Bedrohungen
Die Agrarproduktion kann nicht unendlich gesteigert werden. Die verfügbare Landfläche, aber auch die planetaren Grenzen der Tragbarkeit zeigen der Agrarproduktion Grenzen auf (Rockström et al., 2023; WBGU, 2020). Dies bedeutet, dass ein permanentes Abwägen besteht zwischen der Produktion von Nahrungsmitteln, Biomasse für Bioenergie oder andere stoffliche Verwertungen der Bioökonomie und der „Produktion“ von Umweltgütern, wie z. B. Insektenbrachen, Blühstreifen oder extensiv genutzte Äcker oder Weiden (vgl. Abbildung 1). Gäbe es für alle diese Produkte einen Preis, würde der Marktmechanismus am effizientesten die Ressourcenallokation steuern. Da aber gerade für Umweltgüter die Preise oft nicht bekannt sind und auch die gängigen Marktpreise oft die „wahren Kosten“ der Nahrungsmittelproduktion nicht widerspiegeln (Von Braun und Hendriks, 2023), versucht die Politik über Bewirtschaftungsauflagen, Subventionen und andere Politikmaßnahmen, die bereitgestellte „Menge“ an Umweltgütern zu erhöhen. Ebenso wird auf der Ernährungsseite über eine „planetary health diet“ diskutiert, die dazu beitragen könnte, die planetaren Grenzen einzuhalten und ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung zu haben (Rieger et al., 2023; Willett et al., 2019). Auch die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs), der Food System Summit der Vereinten Nationen von 2021, das globale IPBES1-Assessment zu Biodiversität und Ökosystemleistungen von 2020, aber auch Verknüpfungen mit dem Pariser Klimaabkommen oder dem Globalen Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal im Jahr 2022 zielen darauf ab, Fortschritte hin zu nachhaltigeren Ernährungssystemen zu erzielen. Die EU hat diese globalen Nachhaltigkeitsbemühungen in ihre Green-Deal-Strategie integriert und hier mit Legislativvorschlägen, wie z. B. der Farm-to-Fork-Strategie (F2F), dem Naturwiederherstellungsgesetz oder der Pestizidreduktionsverordnung, für den Agrar- und Ernährungssektor relevante Vorschläge gemacht. Diesen Vorschlägen ist gemein, dass sie das Umweltniveau in der europäischen Agrarproduktion voraussichtlich deutlich erhöhen würden, allerdings dafür auch die heimisch produzierten Mengen von Nahrungsmitteln reduzieren würden (Guyomard et al., 2023; OECD, 2023).
Abbildung 1
Das magische Dreieck der Agrarproduktion
Quelle: eigene Darstellung.
Aber diesen Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit wurden spätestens durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Grenzen aufgezeigt. Wenn Häfen zerstört werden und die global wichtigen Weizenexporte der Ukraine unterbunden werden oder Exporte strategisch „als Waffe“ benutzt werden, um gerade stark von Weizenimporten abhängige Länder unter Druck zu setzen, so kann dies zu mehr Ernährungsunsicherheit und Hunger führen, aber auch die globalen Nachhaltigkeitsbemühungen in den Hintergrund schieben. Hierdurch kann eine gefährliche Spirale in Gang gesetzt werden, die bestehende Knappheiten verschärft, Unsicherheit und Preisvolatilität auf den globalen Märkten fördert und zu einer Übernutzung von Ökosystemen oder der Zerstörung von Umweltgütern führt. Neue Konflikte um die knappen Ressourcen Land und Wasser sowie Migration können die Folge sein und Krisen verschärfen (Wieck, 2019). Dies kann dazu führen, dass auch die EU (und andere Länder) ihre Politikansätze für Nachhaltigkeitsstrategien und auch Politikprioritäten zwischen den oben skizzierten Produktionsbereichen Nahrungsmittel, Umweltgüter und Biomasse überdenken müssen (vgl. Abbildung 1).
Veränderungen in der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen und europäischen Agrarsektors
Veränderungen auf ausgewählten europäischen Agrarmärkten2
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist kein isoliertes Ereignis. Vielmehr haben bereits die COVID-19-Pandemie sowie unerwartete Veränderungen in der internationalen Handelspolitik (Brexit, NAFTA, Handelskrieg zwischen China und den USA) zu erheblichen Störungen und Unsicherheiten im globalen Handel mit Agrargütern geführt (Hess, 2022). Hinzu kommen zunehmende Unsicherheiten durch häufiger auftretende Extremwetterereignisse in verschiedenen Anbauregionen der Welt und die immer deutlicher spürbaren Auswirkungen des Klimawandels, die auch in Europa zunehmend zu Wasserknappheit und Ausfällen in der Nahrungsmittel- und Futtermittelproduktion führen. Dabei ist zu beachten, dass zunehmende Trockenheit auch ein erhebliches Risiko für die Futterproduktion auf Grünland darstellt (Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg, 2015).
Agrarmärkte sind stark national und international verflochten, wie die Teller-Trog-Trank-Debatte beim Getreide immer wieder zeigt: Gerade die Produktion von Futtermitteln steht oft in der Kritik, in Konkurrenz zur Produktion von denjenigen Nahrungsmitteln zu stehen, die nicht erst den potenziell ineffizienten Umweg über Nutztiere nehmen müssen. Jedoch sind gerade in der industrialisierten Futtermittelindustrie die Substitutionsmöglichkeiten von Getreide durch Nebenprodukte aus der Lebensmittelverarbeitung hoch und hohe Getreidepreise zeigen hier entsprechende Wirkung. Ebenso führt ein Rückgang der Tierhaltung zu einem geringeren Bedarf an Futtermitteln und setzt so potenziell Getreide für die Ernährung frei. Aber auch hier sind die Substitutionsbeziehungen nicht äquivalent – denn auf marginalen Produktionsstandorten kann kein hochwertiger Brotweizen angebaut werden. Die Futtermittelmärkte sind daher ein Schlüssel, um die Wirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Agrarwirtschaft besser verstehen zu können:
Innerhalb des internationalen Agrarhandels kann die Ausgangssituation der EU-Futtermittelmärkte durch ein im Zeitablauf sehr konstantes Muster beschrieben werden: Die EU erreicht eine weitgehende Selbstversorgung mit i) Energie (z. B. aus Getreide), ii) Rohfasern (Raufutter) und iii) Eiweißfuttermitteln mit niedrigem bis mittlerem Proteingehalt (FEFAC, 2022). Der Bedarf an Futtermitteln mit hohem und hochwertigem Proteingehalt kann jedoch bei Weitem nicht durch die europäische Produktion gedeckt werden, sodass deutlich mehr als zwei Drittel des Verbrauchs importiert werden. Unter diesen Importen stellen Sojabohnen und Sojaschrot die mit Abstand wichtigste Kategorie dar (FEFAC, 2022). Trotz vielfältiger Bemühungen, die heimische Produktion möglicher Substitute, wie Raps und Leguminosen, zu fördern, hat sich an der generellen Ausgangslage bisher wenig geändert (Mittag und Hess, 2022).
Während lokale Engpässe bisher durch Zukäufe aus anderen Regionen ausgeglichen werden konnten, steigt das Risiko, dass sich klimatische und geopolitische Ereignisse in Zukunft zeitlich überlagern und dadurch gravierende Hochpreisphasen oder plötzliche physische Lieferengpässe häufiger, länger und großflächiger auftreten. Dies könnte gravierende Auswirkungen auf die europäische Nutztierhaltung haben, gerade wenn der Konsum tierischer Produkte sich nicht in gleichem Maße den Veränderungen anpasst.
In diesem Zusammenhang sind jedoch auch weitere und längerfristige Entwicklungen auf den internationalen Märkten für Agrar- und Ernährungsgüter zu berücksichtigen, die sich, wie folgt, darstellen: Seit der Jahrtausendwende ist auf den Weltmärkten für die wichtigsten Agrarrohstoffe ein Trend zu steigenden Preisen bei gleichzeitig zunehmender Preisvolatilität zu beobachten. Hauptursache hierfür ist die weltweit steigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Biokraftstoffen bei gleichzeitig verlangsamtem Produktivitätswachstum. Seit etwa 20 Jahren übersteigt die globale Nachfrage nach Agrarprodukten daher tendenziell leicht das Angebot (Hess und Koester, 2021).
Da sich ein bedeutender Teil dieser wachsenden Nachfrage jedoch in wirtschaftlichen Schwellenländern ergibt und mit steigendem Pro-Kopf-Konsum tierischer Erzeugnisse (Fleisch, Milch) zusammenhängt, sind die tatsächlichen Agrarpreisentwicklungen immer auch stark von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung abhängig. Anstiege des Ölpreises oder Rezessionsphasen wirken daher genauso kurzfristig und drastisch auf die Preise für Agrargüter wie Naturkatastrophen oder geopolitische Konflikte in Schlüsselregionen. Hinzu kommt, dass in den vergangenen 20 Jahren keine nennenswerten Fortschritte mehr bei der globalen, multilateralen Handelsliberalisierung im Rahmen der Welthandelsorganisation gemacht wurden. Stattdessen entstehen immer neue regionale Handelsabkommen oder bestehende Handelsabkommen werden revidiert, wodurch sich geänderte relative Wettbewerbsfähigkeiten mit entsprechenden Änderungen der europäischen Import- und Exportströme ergeben (Hess, 2022).
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat jedoch im Zeitraum 2022/2023 die grundsätzliche Verwundbarkeit dieser europäischen Ausgangssituation vor dem Hintergrund geopolitischer Spannungen und klimatischer Veränderungen aufgezeigt (Berndt et al., 2022; Hess, 2023; Rudloff et al., im Erscheinen): Selbstversorgungsgrade beschreiben das Verhältnis aus inländischem Verbrauch zu inländischer Erzeugung eines Agrarproduktes und sind eine häufig zitierte Kennzahl zur Messung der vermeintlichen Versorgungssicherheit. Tatsächlich liegen die rechnerischen Selbstversorgungsgrade für viele wichtige Agrarprodukte, wie z. B. Getreide, in der EU bei über 100 % (BLE, 2024), d. h. der Verbrauch kann rechnerisch durch die inländische Produktionsmenge gedeckt werden. Diese statische Betrachtungsweise verschleiert jedoch wichtige Kausalzusammenhänge zwischen dem Energiemarkt, der Verfügbarkeit von mineralischem Dünger und der Erzeugung von Futtermitteln. Diese Zusammenhänge bergen für den europäischen Nutztiersektor erhebliche Risiken: In Westeuropa werden im weltweiten Vergleich besonders hohe Ertragsniveaus im Pflanzenbau erzielt, was neben günstigen klimatischen Bedingungen und fruchtbaren Böden auch durch den Einsatz von Hochertragssorten, mineralischer Düngung und Pflanzenschutz möglich ist. Diese hohen Ertragsniveaus im Pflanzenbau sind auch Grundlage für eine intensive Tierhaltung, die sich ebenfalls an hohen Leistungsniveaus orientiert (Hoehl und Hess, 2022). Der russische Angriffskrieg hat die Abhängigkeit der intensiven europäischen Produktionssysteme von stickstoffhaltigen Düngemitteln offengelegt, welche aktuell im Wesentlichen auf Basis fossiler Energieträger nach dem Haber-Bosch-Verfahren erzeugt werden (Berndt et al., 2022).
Die EU ist für heimisch erzeugte Futtermittel insgesamt ein Standort, der nur zu relativ hohen Kosten produzieren kann (Henning et al., 2021). Hochpreisphasen auf den Weltmärkten mit temporär guten Exportchancen für europäische Produkte täuschen dabei mitunter eine globale Wettbewerbsfähigkeit vor, die strukturell nicht vorliegt: Neben hohen Kosten für Boden und Arbeit bilden Umweltauflagen und Qualitätsstandards in der Erzeugung von Mischfutter einen wichtigen Faktor (Henning et al. 2021). Diese Qualitätsstandards erscheinen im internationalen Vergleich zwar zunächst wie ein Hemmschuh, aber sichern im Gegenzug den europäischen Markt auch vor Importen aus Regionen, welche diese Standards nicht einhalten können (Hess, 2022).
Der russische Angriffskrieg hat offengelegt, dass eine zukünftige Verknappung fossiler Energieträger – sei es aus geopolitischen oder klimapolitischen Gründen – die Produktion von Nahrungs- und Futtermitteln in Europa erheblich verteuern und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU-Landwirtschaft erheblich einschränken wird. Selbst die aktuell meist hohen Selbstversorgungsgrade könnten sich dadurch in Zukunft verringern und die Importabhängigkeit von anderen Regionen wieder ansteigen.
Abhängigkeiten im internationalen Weizenhandel und die Bedeutung der EU
Die Schwarzmeerregion hat in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung für den weltweiten Weizenhandel gewonnen. Im Wirtschaftsjahr 2017/2018 wurde Russland zum größten Weizenexporteur, eine Position, die lange Zeit von den USA eingenommen wurde. Die russischen Weizenexporte gehen vor allem nach Nordafrika und in den Nahen Osten. Auch die Ukraine hat sich zu einem bedeutenden Weizenproduzenten und -exporteur entwickelt. Beide Länder hatten vor dem Krieg einen Anteil von durchschnittlich 30 % am Weltweizenhandel (OECD, 2022). Auf den globalen Weizenmärkten führte der Krieg 2022 zu erheblichen Preissteigerungen. In der Ukraine wurden die Weizenproduktion und die Transportkapazitäten teilweise stark beeinträchtigt. Die Auswirkungen der russischen Invasion trafen auf eine ohnehin angespannte Situation auf den Weltagrarmärkten. Bereits 2021 war die Versorgungslage aufgrund von COVID-19, dem fortschreitenden Klimawandel und dem Wetterphänomen La Niña in einigen Regionen kritisch und die Preise für Agrarrohstoffe stiegen im Vergleich zu den Vorjahren deutlich an (Lakner et al., 2022). Die Ukraine war ein wichtiger Handelspartner für Länder, die sich in einer akuten Nahrungsmittelkrise befanden. Im Vergleich zu anderen Exporteuren war der Weizen der Ukraine billiger und erlaubte daher diesen Ländern, ihre Bevölkerung mit Weizen zu versorgen. Bereits vor der russischen Invasion der Ukraine 2022 gab es erste Anzeichen dafür, dass Russland seine Weizenexporte als Instrument in seine außenpolitische Strategie einbezog. Die in diesem Zusammenhang verwendete Bezeichnung „Weizen als Waffe“ beschreibt die Idee, dass ein Land den Zugang zu einem Produkt – in diesem Fall Weizen, ein wichtiges Grundnahrungsmittel in vielen Ländern – aus strategischen Gründen politisch einschränkt. Bis zur neuen Ernte im Sommer 2022, entspannten sich die Weizenpreise langsam wieder, da in einigen Ländern die Ernte besser ausfiel und die Schwarzmeer-Getreide-Initiative ab Juli 2022 sowie die Solidaritätskorridore der EU dafür sorgten, dass die Ukraine ihre Exporte wieder steigern konnte. Nachdem Russland die Schwarzmeer-Getreide-Initiative aufgekündigt hatte, kämpfte die Ukraine ab Oktober 2023 einen neuen Korridor für private Schiffe frei, der eine alternative Route durch das Schwarze Meer erlaubte. Dadurch konnte die Ukraine ihre Exporte wieder deutlich steigern (USDA FAS, 2024).
Wenngleich Weizen in vielen Ländern weltweit angebaut wird, gibt es nur 24 Länder, die den globalen Weizenhandel wesentlich beeinflussen können (Devadoss und Ridley, 2024). China und Indien, beide große Weizenproduzenten, sind für den globalen Weizenhandel vergleichsweise unbedeutend, da sie hauptsächlich für den Eigenverbrauch produzieren. Unter den wichtigsten Weizenexporteuren befinden sich, neben Russland und der Ukraine, mehrere G7-Länder, wie die USA, Kanada, Frankreich und Deutschland. Dies zeigt zum einen, dass diese Länder eine wichtige, auch geostrategische Verantwortung haben, den internationalen Handel mit Weizen sicherzustellen und zur Beruhigung der Märkte beizutragen. Es zeigt aber auch, dass die Teller-Tank-Trog-Debatte in Deutschland und der EU eng mit globalen Fragen der Ernährungssicherheit verknüpft ist. Laut Kuhla et al. (2023) haben die internationalen Bemühungen, die ukrainischen Weizenexporte aufrechtzuerhalten, dazu beigetragen, dass sich die Weltmarktweizenpreise normalisiert haben und erhebliche Lieferengpässe für import-
abhängige Länder unter anderem in Nordafrika und dem Nahen Osten vermieden werden konnten. Aktuell im Frühjahr 2024 beobachten wir stark sinkende Weizenpreise, da Russland seine Exportmengen deutlich erhöht hat.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass auf einem globalisierten Markt und mit oft weitgehenden homogenen Produkten der globale „Füllstand“ des Systems der globalen Märkte den Weltmarktpreis bestimmt: sinkt die verfügbare Menge, reagieren die Märkte mit steigenden Preisen.
Synthese: Eine neue Rolle für den Agrar- und Ernährungssektor in der Welt?
Vor diesem Hintergrund ist kritisch zu hinterfragen, ob die bisher angestrebten Politikveränderungen im Bereich des Green Deals und der dazugehörigen F2F-Strategie die richtigen Politikansätze haben oder ob unter den zweifellos richtigen Zielen, wie Klimaneutralität, Biodiversitätsschutz, Ressourcenschutz und Schutz von Umweltgütern, nicht eine Neugewichtung notwendig ist, um die internationalen Herausforderungen des Agrar- und Ernährungssystems, was Mengenverfügbarkeit, Volatilität und Unsicherheit angeht, besser zu berücksichtigen. Für die europäische Landwirtschaft würde dies bedeuten, dass Politikansätze gefunden werden müssten, die Produktivität und Produktion unter Berücksichtigung der planetaren Grenzen besser fördern. Im Optimalfall sind diese so ausgestaltet, dass dieses Ziel nicht nur durch Ordnungsrecht mit Kontrolle und Sanktionen erreicht wird, sondern den Landwirt:innen ausreichend finanzielle Anreize und Handlungsspielraum eröffnet, um betriebs- und standortindividuell die besten Produktionsentscheidungen treffen zu können. Dies könnte dann durch Biotopverbünde und kluge Ko-Nutzungen von Landflächen, z. B. zur Energieproduktion, mit Insekten- oder Biodiversitätsschutz kombiniert werden.
Eine weitere Voraussetzung hierfür wäre, dass insbesondere geopolitische und klimatische Risiken von den Marktteilnehmern in Zukunft in vollem Umfang in die Planung einbezogen werden. In der Vergangenheit zeigte sich mitunter eine Tendenz, entstandene Schäden durch krisenhafte Situationen auf Basis staatlicher Hilfen zu vergesellschaften. Während auf diese Weise zwar kurzfristig Symptome gelindert werden, bleiben unternehmerische Anreize zur Erweiterung und Re-Regionalisierung der europäischen Futtergrundlage hingegen unterentwickelt. Zudem stehen der Erschließung neuer Stoffkreisläufe und damit Einkommensmöglichkeiten z. B. im Bereich der Bioökonomie mitunter regulatorische Hürden entgegen oder es fehlt an Verbraucherakzeptanz.
Auch wenn die globale Ernährungssicherung nicht nur eine europäische Aufgabe ist, sondern natürlich in erster Linie betroffenen nationalen Regierungen eine wesentliche Rolle zukommt, kann auch die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft hier eine bedeutende Rolle spielen. Gerade die Flexibilität im Verbrauch kann dazu beitragen, den „Füllstand“ im globalen Agrarhandelssystem stabil zu halten und sollte neben der Einhaltung der planetaren Grenzen ein wichtiges Ziel sein. Wenn hierbei den Landwirt:innen noch Marktanreize und betriebs- und standortindividuelle Handlungsspielräume erhalten bleiben, kann die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft mit ihrer hohen Leistungs- und Innovationsfähigkeit und Erfahrungswissen einen wichtigen Beitrag leisten.
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