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Die Annahmen der Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes haben sich in den vergangenen 20 Jahren in mehrfacher Hinsicht verändert und bewirkten zuletzt einen weniger stark ansteigenden Altenquotienten. Bis etwa 2010 wurden für die Zukunft im-mer größere Steigerungen der Lebenserwartung unterstellt, sodass die erwartete demografi-sche Alterung anstieg. Seitdem haben kontinuierlich gesteigerte Migrationsannahmen wieder einen Rückgang der projizierten demografischen Alterung bewirkt. Unsere Ergebnisse zeigen auf Grundlage der Generationenbilanzierung, dass mit dieser demografischen Entlastung kei-ne gleichwertige fiskalische Entlastung einhergeht. Der demografische Wandel hat sich von einem doppelten zu einem dreifachen Prozess gewandelt, dessen fiskalischen Auswirkungen nicht mehr allein auf die demografische Alterung zurückzuführen ist.

Spätestens seit dem Paradigmenwechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) von 2001/2004 ist der demografische Wandel in der politischen und öffentlichen Diskussion um die Sozialversicherung angekommen. Alle Diskussionen um den demografischen Wandel und seine zukünftigen Auswirkungen auf den Fiskus basieren naturgemäß auf Projektionen der zukünftigen Bevölkerung. Diese unterlagen in den vergangenen 20 Jahren einer stetigen Veränderung, sodass sich auch der erwartete demografische Wandel selbst im Wandel befand. Zuletzt äußerte sich die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung öffentlichkeitswirksam und ließ verlauten, dass „in den nächsten Jahren [...] die demografische Belastung deutlich weniger zunehmen [wird] als bisher erwartet“ (Hoeren, 2023). Der demografische Wandel scheint sich zum Guten gewendet zu haben. Wird der demografische Wandel den Fiskus überhaupt noch maßgeblich betreffen oder ist er damit vollständig abgesagt?

Grundlage der fiskalischen Diskussion um den demografischen Wandel sind insbesondere die koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes. Basierend auf der empirischen Entwicklung der demografischen Komponenten werden diese detaillierten Bevölkerungsvorausberechnungen in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Um die Jahrtausendwende war die 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung mit ihren Annahmen zu Fertilität, Mortalität und Migration Grundlage für die politische Neuausrichtung der GRV. Bis zur 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung von 2008 verschärfte sich die projizierte demografische Alterung kontinuierlich. Diese Entwicklung hat sich seither umgekehrt. Die 2023 veröffentlichte 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung ist in ihren Ergebnissen der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung ähnlich, sodass die zwischenzeitlich unterstellten demografischen Entwicklungen aus heutiger Sicht als pessimistisch bezeichnet werden können.

Bevölkerungsvorausberechnung im Zeitablauf

Annahmen

Ausgehend von der jeweiligen Bevölkerung in den Jahren 1998, 2008 und 2021 projizieren die Bevölkerungsvorausberechnungen die zukünftige Bevölkerung auf Grundlage der unterstellten Entwicklung der drei demografischen Komponenten: Fertilität, Mortalität und Migration (vgl. Tabelle 1).1

Tabelle 1
Annahmen unterschiedlicher Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes
  9. Bevölkerungs­vorausberechnung 12. Bevölkerungs­vorausberechnung 15. Bevölkerungs­vorausberechnung
Basisjahr 1998 2008 2021
Fertilität Basisvariante Basisvariante G2
Kinder pro Frau 1,4 (ab 2005) 1,4 (ab 2021) 1,5 (ab 2032)
Proliferationsalter      
im Basisjahr etwa 30 Jahre 30,4 Jahre 31,5 Jahre
langfristige Entwicklung konstant Anstieg auf 32,0 Jahre Anstieg auf 32,6 Jahre
Mortalität/Lebenserwartung Basisvariante Basisvariante L2
langfristige Lebenserwartung bei Geburt in Jahren ab 2050
Jungen: 78,1
Mädchen: 84,5
ab 2060
Jungen: 85,0
Mädchen: 89,2
ab 2070
Jungen: 84,6
Mädchen: 88,2
Migration/Wanderung Mischvariante Mischvariante W2
langfristige durchschnittliche Nettozuwanderung p. a. 150.000 Personen (ab 2040) 150.000 Personen (ab 2020) 250.000 Personen (ab 2033)

Quelle: Statistisches Bundesamt (2000, 2009, 2022).

Fertilität: Die Fertilitätsannahmen haben sich in den vergangen 25 Jahren nur geringfügig verändert. Die 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung projiziert die Bevölkerungsentwicklung ausgehend von der Bevölkerung des Jahres 1998. Für die Kinderzahl je Frau wird bis 2005 ein leichter Anstieg auf 1,4 und anschließend ein Verbleib auf diesem Niveau unterstellt. Die Fertilitätsannahmen der 9. und 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung unterscheiden sich lediglich hinsichtlich des durchschnittlichen Alters der Frau zum Zeitpunkt der Geburt (Proliferationsalter). Während Erstere dieses bei etwa 30 Jahren konstant hält, unterstellt Letztere ausgehend von einem Niveau von 30,4 Jahren 2008 einen Anstieg auf 32 Jahre. Die 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung unterstellt in der mittleren Fertilitätsannahme (G2) einerseits einen leichten Anstieg der Kinderzahl je Frau auf 1,5 bis 2032, setzt andererseits aber auch den Trend des zunehmenden Proliferationsalters fort. Dieses steigt annahmegemäß von 31,5 Jahren 2021 bis auf 32,6 Jahre 2032.

Lebenserwartung: Die Annahmen bezüglich der Lebenserwartung unterscheiden sich zwischen den betrachteten Bevölkerungsvorausberechnungen deutlich. Von der 9. zur 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung steigt die langfristig unterstellte Lebenserwartung von 78,1 (84,5) auf 85 (89,2) Jahre für Jungen (Mädchen) stark an. Die 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung geht in der mittleren Mortalitätsannahme (L2) dagegen von einem erheblich geringeren Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung bei Geburt aus. Dennoch liegt die ausgehend vom Jahr 2021 langfristig unterstellte Lebenserwartung bei Geburt 6,5 (3,7) Jahre für Jungen (Mädchen) höher als 1998 erwartet.

Migration: Die größten Unterschiede der zugrunde liegenden Annahmen weisen die Bevölkerungsvorausberechnungen hinsichtlich der Migration auf. Dabei ist zu beachten, dass in der 9. sowie 12. anders als in der 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung keine mittlere Variante der Migrationsannahmen ausgewiesen, sondern lediglich zwischen Varianten hoher und niedriger Migration unterschieden wird. Wir betrachten daher jeweils den Mittelwert dieser beiden Varianten als Vergleichsgröße für die mittlere Wanderungsannahme (W2) der 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung. Im Mittel sieht die 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung einen langfristigen Anstieg der Nettozuwanderung auf ein Niveau von 150.000 Personen pro Jahr ab 2040 vor. In den Annahmen der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung wird dieser Wert bereits 2020 erreicht und in der Folge ebenfalls konstant gehalten. Die 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung passt diese Werte, nicht zuletzt infolge der Zuwanderungswelle von 2015, massiv nach oben an. Sie geht nach einer Übergangszeit bis 2033 von einer konstanten jährlichen Nettozuwanderung von 250.000 Personen pro Jahr aus.

Projizierte demografische Alterung

Die Auswirkungen der verschiedenen Annahmen der Bevölkerungsvorausberechnungen auf die demografische Alterung lassen sich anhand des Altenquotienten aufzeigen. Dieser stellt die Zahl der über 66-jährigen Personen der Zahl der 20- bis 66-jährigen Personen gegenüber und dient damit als Maß für die gesellschaftliche Belastung durch die Versorgung der Ruhestandsbevölkerung. Abbildung 1 veranschaulicht, dass der Altenquotient nach der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung in den ersten Projektionsjahren mit einem Anstieg von 21,8 % im Jahr 1998 auf 27,4 % im Jahr 2007 nahe an der tatsächlichen Entwicklung verläuft. Der Altenquotient der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung verläuft von 2008 bis 2014 ebenfalls nahe an der tatsächlichen Entwicklung, überschätzt diese jedoch ab 2015. Die Zuwanderungswelle von 2015 hatte eine unerwartet hohe Nettomigration zur Folge und bewirkte so eine Verzögerung des Anstiegs des Altenquotienten gegenüber dem projizierten Verlauf. 2021 liegt der Altenquotient der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung nur knapp unter dem tatsächlichen, während der Altenquotient entsprechend der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung diesen deutlich überschätzt. Die 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung knüpft an die bereits realisierte Entwicklung an. Sie führt im Vergleich zu früheren Bevölkerungsvorausberechnungen zunächst zu einem weniger stark ausgeprägten Anstieg des Altenquotienten ausgehend von 31,8 (2022) auf 43,6 (2039). Daran schließt ein langfristig moderater Anstieg bis auf 46,2 im Jahr 2070 an. Diese Alterung der Gesellschaft ist zum einen auf den fortschreitenden Alterungsprozess der geburtenstarken Jahrgänge zurückzuführen, die sich derzeit noch im erwerbsfähigen Alter befinden. Zum anderen ist sie Resultat einer relativ geringen Fertilität bei gleichzeitig hoher Lebenserwartung heutiger und zukünftiger Kohorten. Im Vergleich zur 9. und 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung wird der Anstieg des Altenquotienten langfristig vor allem durch eine höhere Nettozuwanderung abgemildert, die durch das vergleichsweise junge Alter der Einwandernden verjüngend wirkt. Von der 9. zur 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung bewirkte der Anstieg der unterstellten Lebenserwartung eine Verschärfung der projizierten gesamtgesellschaftlichen Alterung. In der 15. koordinierten Bevölkerungsprojektion haben die deutlich höheren Nettomigrationszahlen schließlich zusammen mit den leicht rückläufigen Annahmen bezüglich der Entwicklung der Lebenserwartung eine projizierte gesamtgesellschaftliche Alterung zur Folge, die jener der 9. koordinierten Bevölkerungsprojektion ähnlicher ist.

Abbildung 1
Altenquotient unterschiedlicher Bevölkerungsvorausberechnungen
 
Altenquotient unterschiedlicher Bevölkerungsvorausberechnungen

Quelle: Statistisches Bundesamt (2000, 2009, 2022).

Methodik der Generationenbilanzierung

(1) Grundlagen der Generationenbilanzierung: Die auf Auerbach et al. (1991, 1992, 1994) zurückgehende Methode der Generationenbilanzierung stellt ein etabliertes Instrument zur Untersuchung der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen dar.2 Sie erlaubt neben der Analyse von Auswirkungen fiskal- und sozialpolitischer Maßnahmen insbesondere die Betrachtung demografischer Einflüsse auf die zukünftigen Staatsfinanzen. Im Kern handelt es sich dabei um eine dynamisierte fiskalische Buchhaltung, die – ausgehend von den aktuellen staatlichen Einnahmen und Ausgaben – Aussagen über das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben in der Zukunft erlaubt, indem die aktuellen altersspezifischen Zahlungsströme auf zukünftige Bevölkerungen bezogen werden.Während die Einnahmen des Staates maßgeblich aus Steuer- und Beitragszahlungen bestehen und hauptsächlich von Erwerbstätigen erbracht werden, entfällt ein bedeutender Anteil der Ausgaben in Form von Renten-, Gesundheits- und Pflegeleistungen auf die ältere Bevölkerung. Daher wachsen die staatlichen Ausgaben im Kontext demografischer Alterung typischerweise stärker als die Einnahmen. Daraus resultierende zukünftige Defizite werden als implizite Staatsverschuldung bezeichnet. Im Gegensatz zur expliziten Staatsverschuldung liegt diese nicht in Form von Staatsanleihen vor, sondern in Form zukünftiger ungedeckter Ausgaben, die aus einer Fortführung der aktuellen Politik resultieren würden.

(2) Indikatoren für Alterung und fiskalische Nachhaltigkeit im Vergleich: Die tragfähige Einnahmenerhöhung bezieht sich auf die Einhaltung der intertemporalen Budgetrestriktion des Staates, indem sie angibt, wie die staatlichen Einnahmen ab sofort angepasst werden müssten, damit allen zukünftigen Generationen die gleiche Abgabenbelastung und das gleiche Leistungsniveau zuteilwerden könnte. Dieser Indikator lässt sich jedoch nicht mit der Entwicklung des Altenquotienten vergleichen. Zu einem solchen Vergleich kann dagegen die jährliche deckungsfähige Einnahmenerhöhung herangezogen werden, die die Einhaltung der jährlichen Budgetrestriktion gewährleistet. In einem umlagefinanzierten Alterssicherungssystem mit einer klaren Abgrenzung von Beitragszahlungs- und Leistungsbezugsphase gemäß den Altersgrenzen des Altenquotienten und homogenen Pro-Kopf-Zahlungen über die Altersjahre hinweg, wäre der relative Anstieg des Altenquotienten identisch mit der relativen Beitragssatzerhöhung, um das Leistungsniveau aufrechtzuerhalten. Die tatsächlichen gesamtstaatlichen Einnahmen und Ausgaben weisen jedoch deutlich komplexere altersspezifische Verläufe auf. Neben der Altersstruktur haben auch die geschlechts- und die migrationsspezifische Bevölkerungsstruktur Auswirkungen auf den Fiskus. Daher unterscheidet sich die Entwicklung der demografisch induzierten fiskalischen Belastung in Form der jährlichen deckungsfähigen Einnahmenerhöhungen von der Entwicklung der demografischen Alterung gemessen am Altenquotienten.

(3) Modellierung der Integration zukünftiger Migrierender: Der Einfluss der Migration auf die fiskalische Nachhaltigkeit hängt grundlegend davon ab, welche Pro-Kopf-Zahlungen den Migrierenden zugewiesen werden. In der vorliegenden Arbeit werden den Migrierenden ab dem Zeitpunkt der Einwanderung ohne Integrationsdauer die Pro-Kopf-Zahlungen der bereits in Deutschland lebenden Ausländer zugeordnet. Diese sofortige Integration stellt eine äußerst optimistische Integrationsannahme dar und bietet dadurch den Vorteil einer Kostenabschätzung der Integration nach unten. Dieses Vorgehen ist auch hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Ergebnisse mit anderen Arbeiten (vgl. z. B. Raffelhüschen et al., 2023a) sinnvoll, die insbesondere zur Vermeidung arbiträrer Integrationsannahmen im internationalen Kontext im Regelfall eine sofortige Integration unterstellen. Migrationsspezifische Studien, wie die Untersuchung von Raffelhüschen et al. (2023b), modellieren die Integration und die Qualifikation zukünftiger Migrierender dagegen explizit und zeigen auf, dass ein positiver fiskalischer Effekt der Migration nur unter Integrations- und Qualifikationsannahmen vorliegt, die als optimistisch einzuordnen sind.

Demografieszenarien

Die koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen bilden die Grundlage von vier Demografieszenarien, anhand derer in der vorliegenden Arbeit die fiskalischen Auswirkungen der Annahmen bezüglich des demografischen Wandels untersucht werden. Diese Szenarien werden in einer eigenständigen Bevölkerungsprojektion mittels der Kohorten-Komponenten-Methode erstellt und bilden die Bevölkerung ab dem Basisjahr 2021 ab, um so deren Altersstrukturentwicklung präzise nachbilden und untereinander vergleichen zu können.3

Szenarien mit tatsächlicher Basisjahrbevölkerung: Die Szenarien A9, A12 und A15 legen die Annahmen der 9., 12. respektive 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung zugrunde, verwenden jedoch abweichend davon die tatsächliche Bevölkerung des Jahres 2021. Dies bewirkt, dass (1) die Ausgangsbevölkerung in diesen Szenarien bezüglich Alters-, Geschlechts- und Migrationsverteilung identisch ist und (2) die erwartete Altersstruktur im Basisjahr im Vergleich zur 9. (12.) koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung nach oben (unten) adjustiert wird (vgl. Abbildung 1). Folglich nehmen die Altenquotienten dieser Szenarien im Jahr 2021 denselben Ausgangswert von 31,5 an. Die Annahmen bezüglich der weiteren Entwicklung der demografischen Komponenten entsprechen den zuvor beschriebenen Annahmen der entsprechenden koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes. Entsprechend der Entwicklung der Annahmen über die Bevölkerungsvorausberechnungen hinweg, weist A9 den niedrigsten und A12 den höchsten Verlauf des Altenquotienten auf. Anders als im Falle der Altenquotienten der koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen (vgl. Abbildung 1) verläuft der Altenquotient des Szenarios A15 in Abbildung 2 folglich nicht auf dem niedrigsten Niveau, sondern zwischen den Altenquotienten von A9 und A12.

Abbildung 2
Altenquotient unterschiedlicher Szenarien
Altenquotient unterschiedlicher Szenarien

Quelle: eigene Berechnungen auf Grundlage des Statistischen Bundesamtes (2000, 2009, 2022).

Szenarien mit hypothetischer Basisjahrbevölkerung: Um den Einfluss der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung seit der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (1998) auf die fiskalische Nachhaltigkeit zu analysieren, wird zusätzlich das Szenario A9-Bev9 betrachtet. Im Gegensatz zu den anderen Szenarien baut dieses nicht auf der tatsächlichen Bevölkerung von 2021 auf, sondern zieht die Bevölkerungsstruktur heran, die gemäß der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung für das Jahr 2021 erwartet wurde. Die Annahmen bezüglich Fertilität, Mortalität und Migration entsprechen jenen aus Szenario A9. Mangels genauerer Daten wird die Migrationsstruktur der projizierten Bevölkerung von 2021 mithilfe der Modellrechnung 2000 (BMI, 2000) ermittelt. Hierzu wird der altersspezifische Bevölkerungsstand im Jahr 2021 der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung anhand der Inländer-Ausländer-Struktur der Modellrechnung 2000 aufgeteilt. Es entsteht eine hypothetische Basisjahrbevölkerung, die der im Jahr 1998 erwarteten demografischen Entwicklung entspricht. Das Vorgehen führt dazu, dass die Basisjahrbevölkerung in A9-Bev9 nicht identisch zu der aus A9, A12 sowie A15 ist. Diese Abweichung wird in der Generationenbilanz berücksichtigt, indem auf Grundlage der Pro-Kopf-Zahlungen bei tatsächlicher Basisjahrbevölkerung neue, hypothetische aggregierte Einnahmen und Ausgaben des Staates im Basisjahr berechnet werden.

Auswirkungen der Bevölkerungsannahmen auf die Messung der fiskalischen Nachhaltigkeit

Die in den Bevölkerungsszenarien resultierende fiskalische Belastung stimmt qualitativ mit der demografischen Alterung überein. In Szenario A12, in dem die größte demografische Alterung vorliegt, resultiert auch die höchste tragfähige Einnahmenerhöhung (vgl. Tabelle 2). Analog dazu ist die tragfähige Einnahmenerhöhung in A9 entsprechend der geringeren demografischen Alterung mit 13,2 % deutlich geringer als in A12 und A15 mit 19,4 % bzw. 17,4 %. Der Vergleich der Szenarien A9 und A9-Bev9 erlaubt über die prospektive fiskalische Belastung hinaus auch eine Quantifizierung der Auswirkungen der demografischen Entwicklung der vergangenen 20 Jahre auf die fiskalische Nachhaltigkeit. Diese zeigen sich in Form des Unterschieds der tragfähigen Einnahmenerhöhungen in den beiden Szenarien. Der isolierte Effekt der hypothetischen Basisjahrbevölkerung zeigt sich in einer um 2,1 Prozentpunkte niedrigeren tragfähigen Einnahmenerhöhung. Der Abstand zu einer nachhaltigen Finanzierung des Fiskus ist folglich um 18,9 % größer als mit der 1998 erwarteten Bevölkerungsentwicklung. Das bedeutet aus fiskalischer Sicht für 2021 eine schlechtere demografische Ausgangslage als 1998 erwartet. Die fiskalischen Belastungen in Tabelle 2 entsprechen qualitativ zwar den Unterschieden der demografischen Alterung gemessen am Altenquotienten, ein quantitativer Vergleich von demografischer Alterung und fiskalischer Belastung offenbart hingegen ein anderes Bild. Die normierte Entwicklung der Altenquotienten (vgl. Abbildung 3.1) im Vergleich zur normierten Entwicklung der jährlichen Einnahmenanpassungen (vgl. Abbildung 3.2) verdeutlicht einerseits ebenfalls eine qualitative Übereinstimmung der demografischen Alterung und der Entwicklung der fiskalischen Belastung zwischen den Szenarien. Wird die Alterung und die Einnahmenanpassung aber quantitativ betrachtet, zeigt sich andererseits im Vergleich zur 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, dass der Altenquotient nur bedingt die fiskalische Belastung in den Szenarien widerspiegelt (vgl. Abbildung 3.3). Die demografische Belastung in A15 ist nur geringfügig höher als jene in A9. Die jährliche fiskalische Belastung ist in A15 dagegen deutlich höher. Im Vergleich zwischen A15 und A12 zeigt sich derweil das Gegenteil: Die demografischen Belastungen unterscheiden sich stark, die fiskalischen Belastungen sind dagegen vor allem zu Beginn des Fortschreibungszeitraums sehr ähnlich. Dies ist in erster Linie auf die höheren Migrationsannahmen in A15 zurückzuführen, die vor allem in den kommenden 20 bis 30 Jahren zu einer gegenläufigen fiskalischen Belastung führen, welche die entlastenden Effekte der geringeren Alterung fast vollständig aufwiegen. In A9 ist die geringe Alterung im Vergleich zu A15 noch auf die niedrigere angenommene Lebenserwartung zurückzuführen. Fiskalisch betrachtet bewirken die massiven Unterschiede in Bezug auf die Migrationsannahmen in A9 jedoch eine deutlich geringere Belastung. Unsere Analyse zeigt somit, dass der Altenquotient insbesondere – aber nicht ausschließlich – aufgrund des gesteigerten Einflusses der Migration auf die Demografie inzwischen kein ausreichender Indikator mehr für zukünftige demografiebedingte fiskalische Belastung ist.

Tabelle 2
Fiskalische Auswirkungen der Szenarien
Szenario A15 A12 A9 A9-Bev9
tragfähige Einnahmenerhöhung 17,4% 19,4% 13,2% 11,1%

Quelle: eigene Berechnungen.

Abbildung 3
Vergleich normierter Altenquotient und normierte Einnahmeanpassung
Abbildung 3 Vergleich normierter Altenquotient und normierte Einnahmeanpassung

Quelle: eigene Berechnungen.

Fazit

Mit den in der 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung getroffenen Annahmen kehrt das Statistische Bundesamt zu früheren Alterungserwartungen zurück. Anders als in der 2009 veröffentlichten 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, in der eine starke Alterung der Bevölkerung projiziert wurde, sehen die getroffenen Annahmen 2023 einen deutlich moderateren Anstieg des Altenquotienten vorher. Die heute erwartete Alterung ist damit jener aus dem Jahr 1998 wesentlich ähnlicher. Unsere Untersuchung der fiskalischen Nachhaltigkeit offenbart allerdings ein weniger optimistisches Bild als die Alterung der zukünftigen Bevölkerung zunächst impliziert. In den betrachteten Szenarien hat sich einerseits gezeigt, dass der deutliche Anstieg der Lebenserwartung zwischen der 9. und 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung zu einer ausgeprägten Verringerung der fiskalischen Nachhaltigkeit führt. Andererseits können wir eine leichte Verbesserung durch die unterschiedlichen Migrationsannahmen in der 12. und 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung feststellen. Insgesamt wurde die Bevölkerungsstruktur über den Betrachtungszeitraum zwar jünger als 1998 erwartet, fiskalisch allerdings deutlich weniger nachhaltig. Zurückzuführen ist dies vor allem auf eine migrationsbedingte Verjüngung der zukünftigen Bevölkerung über die untersuchten Bevölkerungsvorausberechnungen hinweg, die fiskalisch weniger entlastend wirkt. Der demografische Wandel ist aus fiskalischer Sicht somit nicht abgesagt, sondern verändert. Er ist gegenüber vergangenen Projektionen weniger ein Alterungsprozess und mehr ein Migrations- und Integrationsprozess geworden. Aus dem doppelten Alterungsprozess aufgrund niedrigerer Geburtenrate und steigender Lebenserwartung ist ein dreifacher demografischer Wandlungsprozess geworden. Durch den deutlichen Anstieg der Migration wird die Bevölkerung in der Projektion nicht mehr nur älter, sondern auch stärker von Einwanderung geprägt. Dabei überwiegt der belastende Effekt der Migration aufgrund geringerer Pro-Kopf-Zahlungen ihren entlastenden Verjüngungseffekt. Der gewandelte demografische Wandel stellt also weiterhin eine Belastung zukünftiger Generationen dar. Diese Belastung ist – wenn auch nicht mehr ganz so groß – ähnlich wie unter den Annahmen von 2008 und deutlich größer als unter den Annahmen aus dem Jahr 1998. Sie ist aber wohlgemerkt – trotz ähnlichem Altenquotienten – deutlich größer als die projizierte demografische Belastung, die um die Jahrtausendwende herum zum Paradigmenwechsel in der GRV geführt hat. Die bevorstehenden Belastungen lassen sich jedoch insbesondere aufgrund der höheren unterstellten Zuwanderung schlechter an der Entwicklung des Altenquotienten ablesen. Sie bewirken, dass zur Betrachtung der Auswirkungen des demografischen Wandels fiskalische Indikatoren von gesteigerter Bedeutung sind. Die projizierte Entwicklung des Altenquotienten allein reicht nicht mehr aus, um die zukünftigen fiskalischen Belastungen des demografischen Wandels abzuschätzen.

  • 1 Die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes differenzieren jeweils selbst nach unterschiedlichen Varianten. Soweit nicht explizit genannt, handelt es sich im Folgenden stets um die entsprechenden Basis- beziehungsweise mittleren Annahmen.
  • 2 Für eine detaillierte technische Beschreibung der Methodik sowie ihrer Vor- und Nachteile siehe Raffelhüschen (2000), Bonin (2001), Seuffert (2022) und Wimmesberger und Seuffert (2022).
  • 3 Für einen detaillierten Vergleich der eigenen Bevölkerungsprojektion mit der koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes siehe Raffelhüschen et al. (2023a, 16).

Literatur

Auerbach, A. J., J. Gokhale und L. J. Kotlikoff (1991), Generational Accounts: A Meaningful Alternative to Deficit Accounting, Tax Policy and the Economy, 5, 55-110.

Auerbach, A. J., J. Gokhale und L. J. Kotlikoff (1992), Generational Accounting: A New Approach to Understanding the Effects of Fiscal Policy on Saving, The Scandinavian Journal of Economics, 94.2, 303318.

Auerbach, A. J., J. Gokhale und L. J. Kotlikoff (1994), Generational Accounting: A Meaningful Way to Evaluate Fiscal Policy, Journal of Economic Perspectives, 8.1, 73-94.

BMI – Bundesministerium des Innern und für Heimat (2000), Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2050.

Bonin, H. (2001), Generational Accounting: Theory and Application (Zugl.: Freiburg i. Br., Univ., Diss., 2000), Population Economics, Bd. 9, Springer.

Hoeren, D. (2023), Mehr Geld als gedacht: Renten-Überraschung! | Politik, BILD, 4. Dezember, https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/mehrgeld-als-gedacht-renten-ueberraschung-86308488.bild.html (26. März 2024).

Raffelhüschen, B. (2000), Generational Accounting: Method Data and Limitations, European Economy, Reports and Studies, 6, 17-28.

Raffelhüschen, B., S. Schultis, S. Seuffert, F. Wimmesberger und S. Stramka (2023a), Ehrbarer Staat? Update 2020 der Generationenbilanz: Reformansätze für mehr Generationengerechtigkeit in der Kranken- und Pflegeversicherung, Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, 171.

Raffelhüschen, B., S. Seuffert und F. Wimmesberger (2023b), Die fiskalischen Chancen und Risiken der Migration im Kontext des demografischen Wandels, Forschungsbericht im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Seuffert, S. (2022), Anwartschaftsbasierte Projektion der gesetzlichen Rentenversicherung in der Generationenbilanzierung (Zugl.: Freiburg i. Br., Univ., Diss., 2022), in L. P. Feld, T. Krieger, B. Raffelhüschen und G. Schulze (Hrsg.), Freiburger Schriften zur Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik.

Statistisches Bundesamt (2000), Bevölkerung Deutschlands bis 2050 – Ergebnisse der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung.

Statistisches Bundesamt (2009), Bevölkerung Deutschlands bis 2060 – Begleitheft zur Pressekonferenz am 18. November 2009.

Statistisches Bundesamt (2022), Bevölkerung Deutschlands bis 2070 – Annahmen und Ergebnisse der 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung.

Wimmesberger, F. und S. Seuffert (2022), Myopic Fiscal Policy During the COVID-19 Pandemic and its Intergenerational Burden, German Politics, 1-18.

Title:The Demographic Change in Transition

Abstract:The assumptions underlying the German Federal Statistical Office’s population projections have evolved, resulting in a moderate increase in the old-age dependency ratio. Previous scenarios anticipated larger gains in life expectancy, leading to demographic aging. However, consistently heightened migration patterns have counteracted the projections. The dual aging process in demographic change has now transformed into a triple demographic transformation, which may have fiscal implications beyond demographic aging.

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© Der/die Autor:in 2024

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

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DOI: 10.2478/wd-2024-0072

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