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Wir analysieren erstmalig die Rolle von Zukunftsthemen in Bundestagsreden zwischen 1949 und 2021 mithilfe computerlinguistischer Methoden. Die Ergebnisse zeigen, dass der Diskurs über Zukunftsthemen im Bundestag mit dem Wirtschaftswunder zwischen den 1960er und 1990er Jahren stark anstieg. Seit der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 verlor der Bundestag an Zukunftsorientierung. Eine algorithmische Inhaltsanalyse erklärt diesen Rückgang: Jüngste Bundestagsreden beschäftigen sich mehr mit den kurzfristigen Herausforderungen multipler Krisen und weniger mit dem Setzen langfristiger Rahmenbedingungen.

„Die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit soll und muss das oberste Gesetz unseres gesetzgeberischen Handelns in Zukunft sein. Geistige und politische Freiheit des Menschen, Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Überzeugung sind die edelsten Güter einer wahrhaften Demokratie“ (Erich Köhler, MdB, 7. September 1949). Diese Sätze dokumentieren die erste Erwähnung von Zukunft im Deutschen Bundestag. Mit ihnen kommentierte der CDU-Politiker Erich Köhler euphorisch am 7. September 1949 die Konstituierung des Deutschen Bundestages, deren erstes Oberhaupt er war.

Ein lebhafter politischer Diskurs über langfristige Themen bestimmt mit, ob und wie wir die Zukunft gestalten. Die politische Diskussion über die Zukunft, über langfristige Potenziale und Gefahren, hat wichtige Auswirkungen auf das, was Wissenschaftler als „diskursive Governance“ (Gillion 2016, 15-29) bezeichnen. Damit ist gemeint, dass die in einer bestimmten Zeit jeweils dominierende Rhetorik nicht nur die Tagespolitik und Wahlen beeinflusst, sondern auch die Art und Weise, wie die politischen Entscheidungsträger die strategische Agenda festlegen, langfristige Politiken entwerfen und letztlich in legislativen Initiativen umsetzen. Ohne eine Berücksichtigung der Zukunft werden folgenreiche Abwägungen aus dem politischen Diskurs und der öffentlichen Meinungsbildung ausgeklammert, was letztlich der Qualität unserer Demokratie schadet.

Parlamentsdebatten stellen einen oft ungenutzten Schatz an Texten dar, um der Bedeutung des politischen Zukunftsdiskurses in Deutschland erstmals quantitativ nachgehen zu können. Inzwischen stehen mehrere Datensätze zur Verfügung, um den deutschen parlamentarischen Diskurs mithilfe großer digitalisierter Datensammlungen – sogenannter Korpora – empirisch abzubilden (Abrami et al., 2022; Blätte et al., 2022; Richter et al., 2020; Skubic und Fišer, 2022). Wissenschaftler können Protokolle von Parlamentsreden, parlamentarischen Anfragen, Gesetzesentwürfen und sogar Tweets nutzen, um den politischen Diskurs – definiert hier als der Diskurs der institutionalisierten politischen Eliten – empirisch greifbar zu machen (Randour et al., 2020). So werteten etwa Wissenschaftler der Universität Hohenheim jüngst 96 Haushaltsreden im Bundestag auf ihre Verständlichkeit hin aus (Thoms und Brettschneider, 2023).

Vor diesem Hintergrund entwickelt die vorliegende Studie verschiedene Ansätze zur Messung des Zukunfts-Diskurses mithilfe von neuen computerlinguistischen Methoden des Natural Language Processing (NLP). Diese digitalen Methoden basieren auf der Annahme, dass die Häufigkeit und Verteilung von Wörtern im Korpus Aufschlüsse über die zugrunde liegenden Themen, Argumente und sogar Gefühle geben kann – eine Art der Textanalyse, die in der spezialisierten Literatur auch als „Distant Reading“ bekannt ist (Moretti, 2013; Underwood, 2019). Entsprechend ist vorderstes Ziel der Studie, zu erkunden, wie die Zukunftsorientierung von politischen Texten, wie eben Reden im Bundestag, mit digitalen Metriken quantifiziert werden kann.

Datengrundlage

Die Analyse von Bundestagsreden zwischen 1949 und 2021 erlaubt eine repräsentative Reflexion des politischen Diskurses. Politikwissenschaftliche Forschung hat gezeigt, dass die Analyse parlamentarischer Reden die ideologischen und politischen Positionen von Parteien zuverlässig spiegelt und daher einen wichtigen Pfeiler jeder empirischen Analyse des politischen Diskurses darstellen sollte (Monroe et al., 2008; Laver et al., 2003). Für die vorliegende Studie greifen wir auf das Open Discourse Project zurück (Richter et al., 2020), welches mehr als 4.000 Plenarprotokolle mit 907.644 Redebeiträgen aus 19 Legislaturperioden mit insgesamt rund 200 Mio. Wörtern („Tokens“) enthält. Das Open Discourse Korpus deckt damit laut eigener Aussage insgesamt 99,7 % aller Plenarprotokolle des Deutschen Bundestages ab. Hinzu kommen Metadaten aus den Stammdaten des Deutschen Bundestages und Wikipedia, wie beispielsweise das Datum, der Name des Redners und die zugehörige Partei.

Die Zahl der Worte in Plenarprotokollen hat über die Zeit zugenommen und ist proportional zur Fraktionsgröße. Der Umfang der Redebeiträge ist über die Jahrzehnte signifikant angestiegen. Systematisch geringere Korpus-Umfänge sind lediglich in denjenigen Jahren zu verzeichnen, in denen Wahlen und lange Koalitionsverhandlungen stattfanden, besonders eindrücklich in den Jahren 2005 und 2017 (vgl. Abbildung 1). Der Redeanteil der Parteien korreliert stark mit der Fraktionsgröße. Aufgrund der Zunahme der Redebeiträge im Laufe der Zeit stützen wir uns im Folgenden auf relative und nicht auf absolute Begriffshäufigkeiten (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 1
Zahl von Token in Plenarprotokollen
Zahl von Token in Plenarprotokollen

Quelle: eigene Darstellung auf Basis des Open Discourse Korpus (Richter et al., 2020).

Abbildung 2
Häufigkeit der Zukunftswörter in Plenarprotokollen
Häufigkeit der Zukunftswörter in Plenarprotokollen

Quelle: eigene Berechnung.

Wie oft sprechen Bundestagsabgeordnete über die Zukunft?

Wir operationalisieren die Zukunftsorientierung des Bundestages als Häufigkeit zukunftsbezogener Referenzen oder Themen in Bundestagsreden. Zukunftsorientierung drückt sich aus in politischer Rhetorik, die sich auf zukunftsbezogene Themen bezieht oder bestimmte Begriffe verwendet, die eine Wertung der Zukunft implizieren. Mit anderen Worten quantifizieren wir Zukunftsorientierung als die „Menge, die ein Dokument an Zukunfts-Informationen“ enthält (Byrne et al., 2023b, 16). Uns ist bewusst, dass diese Quantifizierung nur ein erster Schritt ist, um den Zukunftsdiskurs analytisch zu durchdringen. Wir verwenden dafür zwei verschiedene Herangehensweisen, die Wörterbuchmethoden sowie das Structural Topic Modeling.

Wörterbuch-Methoden

Wörterbuch-Methoden stellen auf das Zählen von Schlüsselwörtern ab. Diese sogenannte Dictionary Analysis ist eine vielseitige und transparente Vorgehensweise, da ihr eine explizite Wörterliste zugrunde liegt. Während das Zählen von Wörtern aus technischer Sicht einfach ist, ist es in der Praxis schwierig, komplexe latente Konzepte, wie die Zukunftsorientierung einer Rede, abzubilden. Dennoch betrachten Forscher das Zählen von Schlüsselwörtern, wenn die gezählten Wörter sorgfältig ausgewählt und die Ergebnisse durch beispielhaftes Lesen („close reading“) validiert werden, als effektive und transparente Methode (Grimmer et al., 2022, 178 f.).

Für die Messung der Zukunftsorientierung erstellen wir ein domänenspezifisches Wörterbuch. In vielen Analysen werden allgemeine Wörterbücher verwendet (Loughran und Mcdonald, 2011). Im Fall der Zukunftsorientierung politischer Äußerungen gibt es keine bereits existierenden Wörterbücher, auf die zugegriffen werden könnte. Daher generieren wir eine Liste von 50 relevanten Termini mithilfe von ChatGPT mit Varianten der Aufforderung, „50 gängige deutsche Wörter, die Politiker verwenden, wenn sie über die Zukunft sprechen“, aufzulisten (vgl. Tabelle 1). Dass manche Wörter in unterschiedlichen Kontexten – nicht nur der langfristigen Zukunft – verwendet werden, nehmen wir zugunsten der nicht-diskretionären Wörterbuchauswahl in Kauf (im Einklang mit z. B. Jamilov et al., 2023, 11 ff.). Durch Varianten des Prompting stellen wir sicher, dass das Wörterbuch allgemein genug bleibt, um auch frühere Jahrzehnte abzudecken.

Tabelle 1
Zukunft-Wörterbuch
Arbeitsplätze Fortschritt Innovation Partizipation Umwelt
Außenpolitik Frauenrechte Instrastruktur Planung Veränderung
Bevölkerung Freiheit Integration Ressourcen Wachstum
Bildung Frieden Jugend Sicherheit Wettbewerb
Bildungschancen Generationen Klimawandel Sozial Wirtschaft
Demokratie Gerechtigkeit Kommunikation Sozialreformen Wohlstand
Einheit Gleichberechtigung Migration Sozialstaat Wohnraum
Energie Globalisierung Mobilität Stabilität Zukunft
Entwicklung Industrie Modernisierung Stadtentwicklung Zukunftsperspektiven
Forschung Innenpolitik Nachhaltigkeit Technologie Zusammenarbeit

Quelle: auf Basis von ChatGPT prompts erstellt.

Mit dem Aufschwung der Bundesrepublik stieg im Zeitverlauf die Häufigkeit zukunftsbezogener Wörter (vgl. Abbildung 2). Von 1950 bis Mitte der 1960er Jahren gibt es wenige Bezüge zu Zukunftsthemen, möglicherweise aufgrund der drängenden Herausforderungen in der Nachkriegszeit. Eine qualitative Analyse von frühen Referenzen zu „Zukunft“ bestätigt, dass sich die frühen Bundestagsreden oft mit konkreten Problemen, wie Nahrungsmittel­unsicherheit oder Infrastrukturproblemen, beschäftigen. Gleichwohl illustriert der damals einsetzende Prozess der europäischen Integration, angetrieben von Bundeskanzler Konrad Adenauer, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit und den aus ihr gewonnenen Lehren durchaus zukunftsweisend sein kann. Im Gleichklang mit dem „Wirtschaftswunder“ und dem allgemeinen Aufschwung in der Bundesrepublik steigt die Zukunftsorientierung ab Mitte der 1960er Jahre auch gemessen am Anteil des Zukunftsvokabulars stark an.

Die Zukunftsorientierung erreicht einen Höhepunkt nach der Wiedervereinigung und um die Reformperiode der Agenda 2010; seitdem nimmt sie ab. Zu Anfang der 1990er Jahre steigt die Zukunftsorientierung deutlich im Kontext der Diskussionen über die Zukunft des wiedervereinigten Deutschlands und über die sich abzeichnenden Arbeitsmarktprobleme. Der Zukunftsdiskurs erreicht seinen bisherigen Höhepunkt um die Reformperiode nach Verabschiedung der Agenda 2010. Seit der globalen Finanzkrise von 2008 und der Eurokrise sinkt die Zukunftsorientierung.

Regierungsparteien tendieren dazu, Zukunft stärker zu thematisieren. Die Häufigkeitsverteilung lässt sich nach der Partei des jeweiligen Redners oder der jeweiligen Rednerin differenzieren, falls hinreichend Daten für eine aussagekräftige Längsschnittanalyse vorliegen. Abbildung 3 gibt die Häufigkeit von zukunftsorientierten Wörtern in Relation zum Redeumfang der betreffenden Partei wieder, um die verschiedenen Fraktionsgrößen und wechselnden Regierungskonstellationen und damit entsprechend unterschiedlich langen Redezeiten zu berücksichtigen. Parteien der Regierungskoalition benutzen dabei typischerweise stärker das Zukunftsvokabular, was angesichts des Gestaltungsanspruchs einer Regierung nicht überrascht. Über den Untersuchungszeitraum weisen CDU/CSU die größte Zukunftsorientierung aus. Die SPD überholte seit Mitte der 1990er Jahre die FDP. Nach einem Höhepunkt Ende der 1990er Jahre verwenden die Grünen sowie später DIE LINKE deutlich seltener zukunftsorientierte Wörter.

Abbildung 3
Häufigkeit der Zukunftswörter nach Partei
Häufigkeit der Zukunftswörter nach Partei

Quelle: eigene Berechnung.

Regierungserklärungen sind oft besonders zukunftsorientiert. Als Beispiel soll die Regierungserklärung von Helmut Kohl nach seiner Wiederwahl zum Bundeskanzler im Jahr 1987 dienen, welche mit Abstand am häufigsten Zukunftswörter verwendet. Die Rede beinhaltet insgesamt 241-mal Zukunftsbegriffe, wobei 28 der im Zukunftswörterbuch enthaltenen 50 Wörter mindestens einmal auftauchen. Der Begriff „Zukunft“ erscheint 32-mal in dieser Rede, die sich auch inhaltlich stark durch ihre Zukunftsorientierung auszeichnet. So beschreibt Helmut Kohl, dass die Bundesrepublik die „gefährliche Schwächephase“ der vergangenen Jahre überwunden habe und nun „ein stabiles Fundament für die Gestaltung der Zukunft“ besitze, beispielsweise durch die „faszinierenden Möglichkeiten der modernen Naturwissenschaften“. Aufgabe der Politik sei, „tatsächliche Zukunftschancen“ zu erkennen. Entsprechend möchte er mit seinem Regierungsprogramm die Weichen „ins nächste Jahrhundert“ stellen. Andere Regierungserklärungen erzielen ebenfalls hohe Werte, so beispielsweise die von Gerhard Schröder im Jahr 1998 gehaltene Rede, nachdem die erste rot-grüne Regierungskoalition geformt wurde. In der Rede, in der Gerhard Schröder beschreibt, wie er Deutschland durch Reformen zur ökonomischen Modernisierung und Senkung der Arbeitslosigkeit „in das nächste Jahrtausend führen“ möchte, tauchen insgesamt 115-mal Zukunftsbegriffe auf.

Wir wenden drei Validierungsmethoden an. Die Robustheit der Ergebnisse sollte bei Verwendung von Wörterbüchern – insbesondere solchen, die mit ChatGPT generiert wurden – durch weitere Methoden validiert werden (Grimmer et al., 2022, 182). Dazu führen wir drei Tests durch.

    • Validierung durch das Schlüsselwort „Zukunft“. Die vorgestellten Trends sind weitgehend konsistent mit der Verwendung des Schlüsselworts „Zukunft“. Die Stagnation der vergangenen Jahrzehnte tritt deutlicher hervor, zusammen mit einem tiefen Einbruch der Wortkurve während der Krise im Euroraum 2012, als sich der Diskurs stark auf die Fehler der Vergangenheit konzentrierte.
    • Validierung durch alternative Wörterbücher. Als zweite Methode verwenden wir ein alternatives Wörterbuch von Garman (2018) (vgl. Tabelle 2). Die Verwendung dieses „Zukunftsvisionen-Vokabulars“ mit 14 Begriffen erzeugt einen ähnlichen Trendverlauf, wobei das stärker technologiefokussierte Vokabular die intensiven Bundestagsdebatten zur Technologie- und Fortschrittspolitik der 1960er und 1970er Jahre kenntlich machen.
Tabelle 2
Garman-Wörterbuch
Entdeckung Naturwissenschaften
Erfindung Revolution
Errungenschaften Utopie
Forschung Wissenschaftler
Fortschritt Wissenschaftlerin
fortschrittlich Wissenschaftszweig
Informationszeitalter Zukunft

Quelle: eigene Auswahl auf Basis von Garman (2018).

  • Validierung durch „close reading“. Das Lesen ausgewählter Reden unterstreicht die Gültigkeit des gewählten Wörterbuchs, wie beispielsweise im Hinblick auf die Häufungen in Regierungserklärungen. Reden, die nur selten einen der im Wörterbuch gelisteten Begriffe verwenden, beschäftigen sie sich beispielsweise mit juristischen Feinheiten von Gesetzesvorhaben oder Fragen der Geschäftsordnung.

Structural Topic Modeling

Structural Topic Modeling verwendet sogenanntes maschinelles Lernen, um Themen in Texten automatisch zu erkennen. Structural Topic Models (STMs) sind Algorithmen zur Entdeckung der Hauptdiskurse in einem unstrukturierten Korpus (Blei et al., 2003; Roberts et al., 2019). STM ist eine gut erprobte Spielart der Computerlinguistik, welche aus einer Sammlung von Dokumenten induktiv diejenigen Diskurse extrapoliert, die zum Verfassen dieser Dokumente geführt haben könnten. Der Methode liegen somit keine allzu diskretionären Annahmen zugrunde, weswegen sie Wörterbuch-Methoden ideal ergänzen (Barberá et al., 2021).

Wir betrachten drei Diskurse mit explizitem Zukunftsbezug unter den 100 computeridentifizierten Topics (vgl. Abbildung 4). Ein weiteres Topic, welches das Wort „zukunftsfähig“ in Verbindung mit numerischen Angaben („Prozent“, „Zahlen“) enthält, schließen wir aufgrund zahlreicher anderer Wörter ohne konsistenten Bezug von der Analyse aus.

Abbildung 4
Häufigkeit der Zukunftsthemen in Plenarprotokollen
Häufigkeit der Zukunftsthemen in Plenarprotokollen

Quelle: eigene Berechnung.

  • „Rahmenbedingungen“ (Topic 40). In diesem Topic steht das Wort „Zukunft“ im Zusammenhang mit den Wörtern „Rahmenbedingungen“ sowie „Investitionen“, „Arbeitsplätze“, „Marktwirtschaft“, „Ordnungspolitik“, „Industriepolitik“ und „Wettbewerb“. Bei diesem Diskurs scheint es überwiegend darum zu gehen, Deutschland durch geeignete Rahmenbedingungen gut in die Zukunft zu bringen.
  • „Bewältigung von Herausforderungen“ (Topic 97). Dieses Topic kombiniert die Wörter „Zukunft“ und „zukunftsfest“ mit Begriffen, die aktuelle Probleme beschreiben, etwa „Klimakrise“, „Digitalisierung“ und „Covidpandemie“. Daher ordnen wir diesen Diskurs der Bewältigung von Herausforderungen zu.
  • „Wissenschaft und Bildung“ (Topic 58). Bei den obigen Topics spielt wissenschaftsbezogenes Vokabular eine geringe Rolle. Zum Vergleich mit der oben durchgeführten Wörterbuch-Analyse wird daher noch ein drittes Thema berücksichtigt, das den Diskurs zu Wissenschafts- und Bildungspolitik beschreibt. Es enthält viele der Wörter, die auch bei der Wörterbuch-Methode verwendet wurden.

Der Zukunftsdiskurs verschiebt sich zunehmend von Fragen der Gestaltung der Rahmenbedingungen hin zur Reaktion auf aktuelle Herausforderungen. Abbildung 4 verdeutlicht, wie die Topics „Rahmenbedingungen“ und „Wissenschaft und Bildung“ im Zeitverlauf stagnieren und ungeachtet der Transformation nicht wesentlich an Bedeutung zunehmen. Das Topic „Bewältigung von Herausforderungen“, das sich um Themen, wie Arbeitslosigkeit, Klimakrise und Coronapandemie, dreht, erzielt dagegen deutliche Aufmerksamkeitsspitzen in den Jahren 2000 und 2020. Es liegt die Vermutung nahe, dass kurzfristige Herausforderungen den Zukunftsdiskurs über langfristige Themen, wie Rahmenbedingungen und Bildung, teilweise verdrängen. Gleichwohl ist klar, dass der Zusammenhang zwischen Krise, Schock und Zukunft wesentlich durch den Kontext hergestellt wird. Finanzkrisen haben beispielsweise einen starken Gegenwartsfokus, während der Klimawandel einen langen Zeithorizont besitzt. Zu einem gewissen Grad ist der Anteil an Reden über kurzfristige Krisenreaktionen oder langfristige Rahmenbedingungen den Politikern also exogen vorgegeben.

Eine Gegenüberstellung der Themenhäufigkeit nach Partei zeigt, dass gerade die Grünen das Thema Rahmenbedingungen besetzen. Abbildung 5 zeigt die Abweichung der Häufigkeit der Topics nach Parteienzugehörigkeit, deren inhaltlicher Einfluss mit dem Structural Topic Model geschätzt werden kann. Während sich die Grünen tendenziell eher mit den Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige Zukunft beschäftigt haben, etwa im Zusammenhang mit dem Umbau der Energieversorgung, haben die Liberalen einen größeren Anteil an dem Topic, das die akuten Herausforderungen der Polykrise spiegelt. Die intensive Auseinandersetzung der FDP mit Themen der Digitalisierung sowie der Coronapandemie mag dazu beigetragen haben, dass das Topic „Bewältigung von Herausforderungen“ stärker in FDP-Reden Einfluss findet. Während sich die Zukunftsthemen zwischen Grünen und Liberalen zum Teil stark unterscheiden, fallen die Unterschiede zwischen dem Diskurseinfluss von CDU/CSU und der SPD geringer aus. Das ließe sich mit Median-Wähler-Modellen gut erklären.

Abbildung 5
Abweichung der Häufigkeit der Zukunftsthemen nach Partei
Abweichung der Häufigkeit der Zukunftsthemen nach Partei

Quelle: eigene Berechnung.

Zusammenfassung

Die Gestaltung der Zukunft bedingt einen Diskurs über sie. Gedankliche Deutungsrahmen – in der Kognitionswissenschaft „frames“ genannt – beeinflussen das Denken und Handeln von Menschen (Wehling, 2016). Es ist wichtig, darüber nachzudenken, was in politischen Reden routinemäßig gesagt wird, wenn es um die Zukunft geht: Wird sie überhaupt angesprochen? Und wenn ja, auf welche Weise? Ein intensiver Diskurs über die Gestaltung der Zukunft kann den Handlungsraum erweitern und die Menschen bei der notwendigen Transformation in eine nachhaltige und digitalisierte Gesellschaft besser mitnehmen. Daher etablieren wir in dieser Studie mithilfe der Computerlinguistik erstmals eine Methodik für die systematische Analyse von Reden im Deutschen Bundestag, mit der die Zukunftsorientierung der Politik mess- und damit greifbar gemacht wird.

Seit der Jahrtausendwende verschiebt sich der Schwerpunkt von Bundestagsreden vom Setzen langfristiger Rahmenbedingungen auf das Reagieren auf akute Herausforderungen. Obwohl wir uns in einer disruptiven Zeitenwende befinden, die es aktiv zu gestalten gilt, gibt es eine Diskrepanz zwischen der theoretischen Bedeutung des Zukunftsdiskurses und seiner tatsächlichen Rolle im politischen Tagesgeschäft. Die Zukunftsorientierung parlamentarischer Reden begann aufgrund der akuten Nachkriegsherausforderungen auf einem niedrigen Niveau, stieg aber im Gleichklang mit dem Wirtschaftswunder zwischen den 1960er und 1990er Jahren rasant an. Seit der Jahrtausendwende nimmt sie ab. Inhaltlich ging dies mit einem Perspektivwechsel einher – vom Setzen langfristiger Rahmenbedingungen zum Reagieren auf kurzfristige Herausforderungen.

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Title:What Role Does the Future Play in Bundestag Speeches?

Abstract:For the first time, we analyse the role of future topics in Bundestag speeches between 1949 and 2021 using computational linguistic methods. The results show that the discourse on future issues in the Bundestag rose sharply in parallel with the “Wirtschaftswunder” between the 1960s and 1990s. However, since the global financial crisis of 2008, the Bundestag has lost its future focus. An algorithmic content analysis explains this phenomenon: Recent Bundestag speeches deal more with the short-term challenges of multiple crises and less with long-term frameworks.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0069