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Anmerkungen zur Lage

Wer es in diesen Zeiten auf sich genommen hat, den Gang der Dinge zu berichten, zu kommentieren und zu beurteilen, hat es zu seiner Bürgerschaft nicht leicht. Er darf sich nicht scheuen, immer wieder die gleichen Vorgänge zu erzählen, die gleichen Fragen zu stellen, die gleichen Mängel zu rügen, die gleichen Vorschläge zu machen — und doch ist er gerade dies, was den Schreibenden verzagt macht. Er befindet sich also ungefähr in der Lage jenes Pfarrers, an dessen Sonntags-predigten die Hörer Mannigfaltigkeit vermißten und der auf diese Rügen, was uns scheint, mit Recht, die Antwort gab: „Ich werde eine neue Predigt halten, wenn Ihr das beherzigt habt, was ich bisher immer wieder gepredigt habe.“

Die Reparationskommission ist von Berlin abgereist, anscheinend ohne überhaupt die zentralen Probleme der deutschen Tributzahlungen besprochen zu haben. Sie hat Haupt-, davon überzeugt zu sein, daß Deutschland die in den nächsten Monaten fälligen 600 Mill. Goldmark aufbringen kann, wenn nicht aus vorhandenen Überschüssen, so doch auf Grund von Auslandskrediten. Seltsamerweise hält sie auch den Communiqué, das sie nach ihrer Rückkehr veröffentlicht, die deutschen Kredite dabei für praktisch als unerläßlich. Sie muß also, da an eine riesenhafte Steigerung der deutschen Ausfuhr in den nächsten Monaten nicht zu denken ist, einen radikalen Umschwung der Reparationspolitik in den nächsten Monaten für möglich halten.

Die deutsche Regierung hat zugesagt, sich in der Tat um Auslandskredite ernstlich bemühen zu wollen, obwohl das Londoner Ultimatum eine solche erweiterte Interpretation des Begriffs der deutschen Zahlungsfähigkeit nicht begründet. Der Reparationsausschuß des vorigen Reichswirtschaftsrats hat diese Politik einstimmig gebilligt; ebenso einstimmig das heißt mit unter Einschluß der Industrievertreter ist es die vom Zentralverband der deutschen Industrie unter dem übermächtigen Einfluß einer mehr technisch, als politisch begabten Unternehmersgruppe geforderte Verkoppelung der Kreditfrage mit der Forderung der Entstaatlichung der Verkehrsunternehmungen entschieden abgelehnt.

Die Regierung ist sich, wie bisher, darüber klar, daß die einmalige Erweiterung der deutschen Zahlungsfähigkeit nur ein paar Monate wirtschaftlich betrachtet ebenso unsinnig, wie politisch betrachtet unmöglich ist. Die Kriegsschuldner kein Moratorium für die Tributzahlungen gewähren wollen, muß Deutschland ihnen ein Moratorium der Vernunft bewilligen.

Inzwischen ist der Verband der britischen Industrie mit einer Denkschrift an die Öffentlichkeit getreten, die die technischen Schwierigkeiten und Mängel an Psychologie mit dem Kreditbegehren der deutschen Industrie aufnehmen kann. Wichtig ist die Feststellung, daß der Londoner Zahlungsplan sich als ganz unhaltbar erwiesen hat und daß die englische Industrie von einer Durchführung die schwersten Schädigungen erwartet. Die eigenen Vorschläge des Verbandes zerfallen in zwei Teile: die Umwandlung der Schuld der Reichsregierung in eine Belastung der deutschen Wirtschaftsbanken und die Erstreckung von Sachlieferungen weit über den Rahmen der noch französischen Wiederaufbau hinaus. Über diese zweite Forderung wird sich reden lassen, zumal wenn Deutschland die Aufgabe erhält, das russische Reich industriell wieder aufzurichten und in die Wirtschaftseinheit Europas einzugliedern. Mit der ersten Forderung aber wird der Boden eines versailler Vertrages durchaus verlassen. „Die deutsche Zahlungsfähigkeit“, das bedeutet nicht das Auswerfen der dem Staat, Industrie und Landwirtschaft. Kein verantwortlicher Staatsmann der Entente hat bei der Redaktion jenes Paragraphen des Friedensvertrages die Möglichkeit erwogen, eine der deutschen Wirtschaft als Deckung der Reparationsverpflichtung zu fordern.

Es muß leider festgestellt werden, daß ein Teil der deutschen Politiker und Publizisten in blindem Eifer und begrifflicher Fahrlässigkeit einer solchen Forderung Vorschub geleistet hat. Der englische Industrieverband beruft sich auf sie. Wir dürfen sagen, daß wir das Unsrige getan haben, um zu warnen auch diesem, ohne daß man uns die Ohren erhört zu werden. Man hat in innerpolitischer Erregung nicht genug Ruhe den Denkern aufbringen können, um zwischen der Frage der deutschen Zahlungsfähigkeit an England und dem Problem der Ordnung unserer inneren Staatshaushalt zu scheiden, sondern unbekümmert immer wieder das Schlagwort vom „Eingriff in die Substanz“ in beiden Zusammenhängen gebraucht. Vielleicht lernt man doch noch aus diesem Beispiel, daß ohne Sacharbeit der Begriffe auch keine Klarheit der Politik möglich ist.

Am Schluß des englischen Industriegutachtens wie in den Äußerungen anderer Kreise jenseits des Kanals wird immer wieder die Forderung erhoben, Deutschland müsse den Kohledruck einstellen, bevor ihm irgendeine Erleichterung gewährt werden könne. Zunächst keine Inflation mehr! Das übrige wird sich finden.

Hier wird versucht, dem Pferd beim Schwanz aufzuzäumen. Eine Stabilisierung des deutschen Budgets ist unmöglich, wenn nicht das System der Reparationszahlungen zuallererst geändert ist. Das Wirtschaftsdienstgutachten, um im Reichstag eine Denkschrift vorstellen lassen, in der vom Reichs-Haushalt der nächsten Fiskaljahres (1922) folgendes Zahlenbild entworfen wird in Millionen M.:

Tabelle 1: Haushalt des Reiches 1921 (in Millionen Mark)

Einnahmen:
Ordentl. Haushalt der allg. Verwaltung 73,0
Außerord. Haushalt der allg. Verwaltung 6,8
Fehlbeträge der Betriebsverwaltungen 11,0
Kontributions-Haushalt 229,0
Zusammen 319,8
Ausgaben:
Ordentl. Haushalt der allg. Verwaltung 68,2
Einmalige Steuern 3,0
Zeile 11 der Verbrauchssteuern 23,2
Außerord. Verwaltungseinnahmen 6,0
Zusammen 100,4

Nehmen wir an, die erwarteten Steuererträge würden erreicht: wird nicht die wachsende Teuerung schon das Erreichen des allgemeinen Reichseinnahmenverwaltung weit über die ursprünglichen Anschlagsmöglichkeiten einstellen lassen? Einmalige Vorräte wären die Grundeinnahmepreise in Deutschland auf das Sechundzwanzigfache des Standes von 1913 gestiegen. Der Dollarkurs hat unterdessen etwa das Siebenfache der Vorkriegsnormalität erreicht und doch ist kein Motiv zu finden, das ihm den Fall bewegen müßte. Es ist durchaus möglich, es ist sehr wohl möglich, weil man uns glauben möchte, die 600 Millionen Mark in Banknoten, wenn sie in den nächsten Monaten in Verkehr gesetzt werden müssen, um den staatlichen Bedarf pünktlich zu decken und die Beträge vor der Pünktlichmachung zu schützen — seien die Ursache des Marksturzes, der ihnen doch einige Wochen vorausgeeilt ist?

Ergänzend ist die Inflation das Hauptübel neben gelegentlich die Schäden ihrer eigenen Regulierungsneigung die, abgesehen vom „Economist“ erst spät genug begriffen haben. Ob die Senkung des Pfundkurses wesentlich durch diese inflatorische Politik bestimmt war, ist eine offene Frage. Der neuerliche Marksturz aber ist sicherlich Ursache der Inflation, nicht Folge.

Die Stabilisierung des Markkurses, wenn auch auf einem sehr niedrigen Stande, wie er der Verringerung unserer Wirtschaftskraft und dem Niedergang unserer Staatsmacht entspricht, ist in dem Augenblick möglich, wo die Bedingungen für Reparation und Bezahlung der Leistungsfähigkeit Deutschlands angepaßt sind. Zu dieser Anpassung bedarf es keiner Änderung des Versailler Vertrages, sondern nur einer entsprechenden Interpretation der Mitglieder der Reparationskommission.

Vor mehreren Monaten ist an dieser Stelle ein Vorschlag gemacht worden, die Reparationskommission, deren Mitglieder keinen gleich bedeutenden Eindruck machen, bei der Feststellung der deutschen Zahlungsfähigkeit an die Noten eines von den einzelnen Regierungen eingesetzten Ausschusses nationalökonomisch zu binden. Dieser Vorschlag erscheint uns noch heute als einziger Ausweg aus einer durchaus verfahrenen Lage. Man gebe einem solchen Ausschuß das Endgutachten in Deutschland, lasse im Beamte, Gelehrte und Praktiker in Kontradiktorischen Verfahren verhören und ein begründetes Gutachten veröffentlichen, das durch seine Unterschriften die wissenschaftliche Ehre seiner Urheber, verpfändet. Wir wissen sehr wohl, daß in verschiedenen Ländern einige Gelehrte sich im und nach dem Kriege mehr von nationalen Interessen als von wissenschaftlichen Normen haben bestimmen lassen. Aber wir sind uns auch darüber im klaren, daß wir bei einem solchen Gutachten nicht mehr zu verlieren haben als die Hoffnung auf den letzten Rest von Ansehen und Urteil in der allgemeinen Verwirrung, Ohnmacht und Vergütung.

Hamburg, den 26. November 1921. Kurt Singer

Organisationsfragen der Deutschen Müllerei

Da man in der Getreidemüllerei die Wirtschafts- und Geschäftsentwicklung der Nachkriegszeit, welche im Konkurrenzkampf ähnliche Verhältnisse, wie sie vor dem Krieg bestanden¹), mit all ihren Schwierigkeiten heraufzuführen droht, schon seit längerer Zeit vorausgesehen hatte, war man nicht müßig gewesen und hatte versucht, die vorhandenen, besonders aber die während der Kriegszeit durch die Träger der Anstalten für die Kommunalbetriebe in verschiedenen Landesteilen neu geschaffenen Organisationen derart auszubauen, daß sie als Träger auch der freien Wirtschaft fungieren können.

Eine solche Entwicklung hatte auch das hatte man z. T. schon seit längerer Zeit voraussehen können — wirkt nunmehr dahin, daß die Wirtschaftszelle für den Müller schlechthin gefordert ist (bzw. auch willigen Aufkäufer der Wirtschaftsernährungswirtschaft zu werden droht) als Träger, unter dem diese normalerweise nur der eigenen gegenwärtigen Konkurrenz. Diese Erwägungen sind zunächst im Geschäftskampf der Verhältnisse zwischen Leistungstätigkeit und Höchstleistung, ferner der wenig geeigneten Kapitalisierung für den vorhandenen Kriegskredit und keine Geldmittel erübrigt und bereitgestellt worden sind und der jetzt dazu führt, fremde mit bürg. Kredit zu Anspruch zu nehmen, was freilich eine gewisse Unsicherheit des Geschäfts bedeuten muß. Endlich ist zu nennen das verstärkte Risiko, dessen Ursachen darin liegen, daß Deutschland jetzt in höherem Maße nie früher auf den Auslandgetreide angewiesen ist, wodurch Getreidepreise und Mühlen nicht nur von den Schwankungen des Weltmarkts, sondern auch denen der Valuta weitgehend abhängig werden — bei immer geringerer Möglichkeit, dagegen Sicherheit aufzubauen.

Der Praktiker der Wirtschaft lernt, wenn man nach dem großen Durchschnitt urteilt, nur schwer aus seinen Erfahrungen. Besonders der Unternehmer, kleinere und mittlere, still (zumal wenn er, wie der Mühlenbesitzer in der Regel, nicht an den Zentren des Verkehrs und der Wirtschaft angesessen ist) in dem alten Mühlenkampf unentwegt ist, der geradezu eine Abneigung gegen alle prinzipiellen und über den Tag hinaus reichenden Erwägungen — das augenblicklich zu machende Geschäft steht meist im Mittelpunkt seines Interesses. Trotzdem konnte man nicht, auch hier nicht, ohne weiteres in den Zeitgeistern der Kriegswirtschaft vorbeigehen, die gewiß eine wichtige und ansehnliche Wirkung entfaltet hat, haben doch unter deren Druck Tausende von kleinen Betrieben eine erhebliche Kapitalreduktion, darüber hinaus eine Buchhaltung überhaupt erst gelernt — und abgesehen von diesen vielleicht weniger Wichtigem: Alle noch so scharfe Kritik an bürokratischen Geschäftsgebahren, an mutwilligem Hin und Her hat doch gleichwohl eine kritische Beurteilung der (volkswirtschaftlich gesehen) vielfach unzweckmäßigen Verhältnisse der Vorkriegszeit geweckt. Trotz allem Raisonnement ist in Tausenden von Köpfen — ja, vielleicht in den meisten, außer

¹) Vgl. W.-D. Nr. 43 vom 22. 10. 1921.

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