Soll dem aus tausend Wunden blutenden Deutschland eine neue Zukunft aus den Trümmern des alten erblühen, so ist die Wiedererlangung des inneren Friedens dafür erste Voraussetzung. Je mehr es gelingt, die inneren Gegensätze zu überwinden, desto größer die Energie, die der nationalen Produktion zuströmt. Kampf im Inneren bedeutet Vergeudung von Kräften, die in den Dienst des Aufbaus der Volkswirtschaft im friedlichen Wettbewerb mit dem Ausland gestellt werden können und müssen.
In diesem Sinne ist es zu begrüßen, daß in diesen Tagen ein Ringen seinen Abschluß gefunden hat, das länger als ein halbes Jahrhundert währte und die deutsche Einigkeit gefährdete. Am 15. November ds. Js. ist ein Vertrag zwischen den großen Arbeitgeberverbänden auf der einen und den Gewerkschaften auf der anderen Seite eingegangen worden, der nichts anderes als einen Friedensschluß nach hartnäckig geführtem Kriege bedeutet. Die Gewerkschaften können ihn als vollen Erfolg buchen. Wenige Tage vorher feierten sie ihr 50 jähriges Bestehen. Denn am 26. September 1868 tagte in Berlin der Kongreß, der die Gründung zentraler „Arbeiterschaften“ beschloß. Es ist nicht wenig, was die Gewerkschaften seitdem erreicht haben.
Hervorgegangen sind die Gewerkschaften aus dem Gedanken, daß die Durchsetzung der Arbeiterinteressen nur möglich sei im Wege der Organisation und im Kampf mit dem Unternehmer. Die Idee des Klassenkampfes stand auf dem Panier; der Streik war das wichtigste Mittel. Die Unternehmer stellten sich auf einen entsprechenden Standpunkt. Sie organisierten sich gleichfalls; sie setzten der Gewalt den Zwang entgegen. Zahlreiche Schlachten wurden in diesem Kriege geschlagen, die der Volkswirtschaft schweren Schaden zufügten. Wer die Wirtschaftsgeschichte der letzten fünfzig Jahre kennt, weiß, wie oft die Gewerkschaftsführer die Arbeitsniederlegung anordneten und ganze Reviere mit einem Schlage zum Feiern brachten. Der Ausgang war verschieden, meist aber war das Glück weder der einen noch der andern Partei gänzlich hold. Die soziale Gesetzgebung nahm dann dem Gegensatz viel von seiner Schärfe. Gleichwohl bedrohte er dauernd unser Wirtschaftsleben.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die Gewerkschaften, je mehr sich die praktische Arbeit häufte, die sie zu bewältigen hatten und je mehr sie die eigentliche politische Agitation den Parteien überließen, vom Radikalismus abgedrängt und zu größerer Mäßigung geleitet wurden. Sie erlebten es jeden Tag und jede Stunde, welche Schwierigkeiten sich im einzelnen der Durchführung ihrer Ideale, auch wenn wirklich guter Wille auf allen Seiten vorhanden war, in den Weg stellten. Diese durch die Praxis erworbene Mäßigung machte es möglich, daß die Gewerkschaften im Kriege ihre Mitarbeit dem Volksganzen zur Verfügung stellten. An der Lösung der durch den Krieg aufgeworfenen Probleme organisatorischer Art gebührt ihnen ein hervorragender Anteil. Die Kriegsarbeit hat zunächst zu einer Annäherung zwischen der Regierung und den Gewerkschaften geführt, deren Einfluß auf die Leitung des Reichs unablässig wuchs und hat auch die Gewerkschaften mit den Unternehmern und ihren Verbänden häufiger zusammengebracht. Diese Entwicklung findet nun in dem Vertrag vom 15. November ihren Abschluß. Natürlich hat die politische Macht, in deren Besitz die Arbeiterschaft je länger der Krieg dauerte, desto vollkommener gelangte, dabei ihre Rolle gespielt. Es ist aber festzustellen, daß nicht der Umschwung der jüngsten Wochen, die Revolution, die Vereinbarung geboren hat, sondern daß die Verhandlungen darüber schon Monate zurückreichen.
Unter dem Vertrag stehen u. a. die Namen von Stinnes, Springorum, Siemens und Borsig, aber auch von Legien und Stegerwald. Für jeden Kundigen geht schon allein daraus die ungeheure programmatische Bedeutung dieser Vereinbarung hervor. Denkt man an Friedenszeiten, so ist man fast geneigt zu glauben, daß Feuer und Wasser sich vermählt haben. Es ist zu hoffen, daß namentlich auch im Ausland die Wichtigkeit dieses Schrittes zum inneren Frieden in der Flucht der sich überstürzenden Ereignisse gebührend gewürdigt wird. Denn die Grundlagen, auf denen die Wiederaufrichtung der deutschen Volkswirtschaft zu erfolgen hat, werden durch den Vertrag zu einem wesentlichen Teil bestimmt. Auch die Erfolgsaussichten sind unter Berücksichtigung der eingetretenen Harmonie zu beurteilen. Die Bereitwilligkeit des Auslandes, sich an dem wirtschaftlichen Neubau Deutschlands zu beteiligen, kann dadurch nur vergrößert werden.
Der Vertrag beginnt mit der grundsätzlichen Feststellung, daß die Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft in aller Form anerkannt werden. Eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit der Arbeiter und Arbeiterinnen ist unzulässig, und die Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände erklären, die Werkvereine (die sogenannten „wirtschaftsfriedlichen“ Vereine) fortab vollkommen sich selbst zu überlassen und sie weder mittelbar noch unmittelbar zu unterstützen. Die Bestimmungen richten sich gegen eine mögliche Praxis von Arbeitgebern, Arbeiter bestimmter Richtungen nicht zu beschäftigen. Vor dem Kriege beklagten sich die Arbeiter vielfach über ein „Schwarze-Listen-System“ und Aussiebung der Arbeiter durch die Arbeitsnachweise der Arbeitgeber. Inwiefern diese Beschwerden begründet waren, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden. Es genügt festzustellen, daß derartigen Klagen durch den Vertrag jetzt der Boden entzogen wird.
Die wirtschaftsfriedlichen Vereine, von ihren Gegnern mit Vorliebe als „gelbe“ bezeichnet, stehen im Gegensatz zu den übrigen Gewerkschaften. Sie verfechten nicht die Idee des Klassenkampfes, sondern der Arbeitsgemeinschaft. Sie betrachten Arbeitgeber wie Arbeitnehmer als Glieder eines übergeordneten Ganzen, der Unternehmung selbst, aus deren Gedeihen beide Teile Vorteil ziehen und der sie daher nach Kräften dienen sollen. Die Werkvereine verwerfen von diesem Standpunkt aus den Streik, der geeignet sei, die Unternehmung zu schädigen. Sie erstreben gütliche Regelung von Streitfragen im Wege der direkten Besprechung mit der Werkleitung zur Erzielung von Kompromissen, unter Berücksichtigung der berechtigten Interesses beider Teile und des Interesses der Unternehmung. Entstanden sind die Werkvereine in Betrieben, in denen ein gewisses patriarchalisches Verhältnis herrschte und sozialpolitische Einrichtungen schon vor Eingreifen der Gesetzgebung und später vielfach über diese hinaus aus freiem Entschluß weitsichtiger Unternehmer in größerem Umfange durchgeführt waren. Hier waren naturgemäß die Reibungsflächen bedeutend verringert. Daß die Unternehmer sich in jeder Beziehung auf Seiten der Werkvereine stellen mußten, ergibt sich aus alledem von selber. Nachdem aber nun mit den sogenannten Kampfgewerkschaften eine Verständigung erzielt ist, durch die eine dauernde Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gewährleistet wird, ist der Gedanke der Arbeitsgemeinschaft, in großem Umfange wenigstens, auf andere Weise verwirklicht, und so mag es den Arbeitgebern leichter geworden sein, die Werkvereine, denen ihre Liebe gehörte, sich selbst zu überlassen. Nur die Kampfgewerkschaften sind unter dem Vertrag vertreten, durch Legien und Stegerwald, nämlich die Generalkommission der freien Gewerkschaften, der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften und der Zentralverband der Hirsch-Dunkerschen Gewerkvereine.
Schon lange vor Beginn der Verhandlungen mit den Gewerkvereinen hatten sich die Unternehmer durchweg im Sinne von Punkt 4 des Vertrages ausgesprochen, wonach sämtliche aus dem Heeresdienst zurückkehrende Arbeitnehmer Anspruch haben, in die Arbeitsstelle wieder einzutreten, die sie vor dem Kriege inne hatten. Da dies mit Schwierigkeiten verknüpft ist, so wollen die beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände dahin wirken, daß durch Beschaffung von Rohstoffen und Arbeitsaufträgen diese Verpflichtung in vollem Umfange durchgeführt werden kann. Gemeinsame Regelung und paritätische Verwaltung des Arbeitsnachweises ist vorgesehen. Gerade die Neugestaltung des Arbeitsnachweiswesens war bislang ein gefährlicher Zankapfel.
Von großer Bedeutung ist die Bestimmung, daß die Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen entsprechend den Verhältnissen des betreffenden Gewerbes durch Kollektivvereinbarungen mit den Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer festzusetzen sind. Die Verhandlungen hierüber sind, so heißt es im Vertrag, ohne Verzug aufzunehmen und schleunigst zum Abschluß zu bringen. Es ist sehr die Frage, ob es möglich sein wird, die hier angestrebten Tarifverträge in absehbarer Zeit allgemein durchzuführen. Die besonderen Verhältnisse in den einzelnen Industriezweigen werden nicht immer die Anwendung dieses Schemas gestatten. Die Lehrbücher der Staatswissenschaften waren bislang über die Notwendigkeit einer Differenzierung einer Meinung. Im Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte Berlins ist bereits Klage geführt worden, daß der Umwandlung der Akkord- in Lohnarbeit in den Berliner Betrieben Widerstände entgegenträten. Es läßt sich von hier aus nicht beurteilen, ob und inwieweit die Begründung mit der Furcht der Unternehmer vor der bevorstehenden Sozialisierung der Betriebe zutrifft, die ein Redner für diese Hemmnisse gab, ob und inwieweit anderseits die Schwierigkeit im Wesen der Betriebe selbst liegt.
Später hat der Vollzugsrat erklärt: Die Frage der Akkordarbeit kann im gegenwärtigen Augenblick grundsätzlich nicht geregelt werden; sie muss vielmehr bis zum Wiederaufbau eines geregelten Wirtschaftslebens zurückgestellt werden.
Noch verwickelter als bei den Kollektivvereinbarungen über das Lohnsystem liegen die Dinge in der Frage des Achtstundentags als Maximalarbeitszeit. Ein Mann, der gewiß nicht im Verdacht stehen kann, andere Interessen als die der Arbeiter wahrzunehmen, der frühere Arbeitersekretär, jetzige Unterstaatssekretär J. Giesberts , M. d. R., schreibt darüber in der „Nordd. Allg. Ztg.“ (Nr. 588 v. 18. Nov.): „Man darf hinter diese Vereinbarungen ein Fragezeichen setzen. Nicht in dem Sinne, als sei der Achtstundentag ein unmögliches Ziel, im Gegenteil, jeder Sozial- und Wirtschaftspolitiker wird es freudig begrüßen, wenn die Arbeitszeit allgemein in dieser Weise begrenzt werden könnte. Das Fragezeichen gilt der Möglichkeit der Durchführung. Man darf indessen die Zuversicht haben, daß wenn Arbeiter und Arbeitgeber dieser größten Industriegruppen hier vorbildlich vorangehen, die nicht erfaßten Gewerbe allmählich nachkommen werden. Der Achtstundentag wurde ja schon vor dem Kriege von den Arbeitern der Großeisenindustrie und allen Industrien mit ununterbrochenem Feuer lebhaft verlangt. Nachdem diejenigen Gruppen der Industrie, die sich am meisten dagegen gewehrt haben, sich freiwillig auf den Boden des Achtstundentags stellen, wird man seine Durchführbarkeit erhoffen dürfen.“ Die Frage des Achtstundentages berührt unsere Wettbewerbsfähigkeit mit dem Auslande unmittelbar. Wenn das Ausland, das in sozialpolitischer Hinsicht schon vor dem Kriege im allgemeinen im Vergleich zu Deutschland weit zurückgeblieben war, durchschnittlich 10 Stunden und länger arbeitet, geraten wir mit achtstündiger Arbeitszeit ins Hintertreffen. Gerade die Zeit des Wiederaufbaus erfordert aber, daß wir unsere Kräfte aufs Äußerste anspannen. Geholfen wäre uns, wenn es auf der Friedenskonferenz gelänge, durch internationale Vereinbarungen den Achtstundentag in der ganzen Welt einzuführen. Jedenfalls müssen unsere Vertreter darauf hinarbeiten. Nachdem die Franzosen, wie aus Straßburg berichtet wird, sofort durch militärischen Zwang den Achtstundentag, wo er im Elsaß von den Arbeiter- und Soldatenräten eingeführt worden war, wieder abschafften, scheint die Neigung auf der Gegenseite allerdings nicht gerade groß zu sein. Im Augenblick kommt uns auf alle Fälle eine Einschränkung der Arbeitszeit sehr gelegen, um den zurückkehrenden Truppen Arbeitsgelegenheit zu schaffen. Der Berliner Vollzugsrat hat sogar bestimmt, daß zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit Entlassungen nicht erfolgen dürfen, bevor nicht die Arbeitszeit bis zu 4 Stunden herabsetzt ist. Die Frage ist nur, ob der Achtstundentag über den vorübergehenden Zweck hinaus als dauernde Einrichtung beibehalten werden kann. Das Programm der sozialistischen Regierung, das gleich nach dem erfolgten Umschwung durch einen Aufruf der Volksbeauftragten bekanntgegeben worden ist, sieht vor, daß der achtstündige Maximalarbeitstag spätestens am 1. Januar 1919 in Kraft trete.
Es bleibt noch die Regelung der Vertretung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern innerhalb der einzelnen Betriebe übrig. Nach dem Vertrag vom 15. November sind in den schon besprochenen Kollektivvereinbarungen Schlichtungsausschüsse bzw. Einigungsämter vorgesehen, bestehend aus der gleichen Anzahl von Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Vertretern. Das Regierungsprogramm verkündigt, daß die auf Schlichtung von Streitigkeiten bezüglichen Bestimmungen des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst beibehalten werden, während dieses Gesetz selbst aufgehoben wird. Inzwischen hat der Berliner Vollzugsrat verfügt, daß zur Wahrnehmung der politischen und wirtschaftlichen Interessen von Arbeitern und Angestellten Betriebsräte innerhalb der Betriebe zu bilden sind, die die Aufgaben der bisherigen Arbeiterausschüsse zu erfüllen haben. Gemeinsam mit der betreffenden Betriebleitung haben sie alle die Arbeiter und Angestellten betreffenden Fragen zu regeln. Sie sollen dauernd mit den Gewerkschaften in Fühlung bleiben. Bei Differenzen mit der Betriebsleitung müssen die Gewerkschaften zugezogen werden, bevor die Arbeiterschaft weitere Schritte unternimmt.
Der Vertrag zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgeber-Verbänden sieht ferner die Errichtung eines Zentralausschusses auf paritätischer Grundlage mit beruflich gegliedertem Unterbau seitens der betreffenden Organisationen vor. Er soll zur Durchführung der getroffenen Vereinbarungen, zur Regelung der Demobilisierung und zur Sicherung der Daseinsmöglichkeit der Schwerkriegsbeschädigten dienen. Ferner obliegt ihm die Entscheidung grundsätzlicher Fragen, soweit sich solche namentlich bei der kollektiven Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse ergeben, sowie die Schlichtung von Streitigkeiten, die mehrere Berufsgruppen zugleich betreffen.
Berücksichtigt man noch, daß die bei Beginn des Krieges aufgehobenen Arbeiterschutzbestimmungen regierungsseitig wieder in Kraft gesetzt worden sind, daß die Aufhebung der Gesindeordnungen und der Ausnahmegesetze gegen die Landarbeiter erfolgte, daß die Unterstützung von Erwerbslosen und die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf dem Gebiete der Krankenversicherung über die bisherige Grenze von 2500 M hinaus vorgesehen ist, so erhellt, daß unter Mitwirkung der daran Beteiligten ein sozialpolitisches Programm zur Durchführung gesehen ist, so erhellt die ganze Tragweite dieses umfassenden sozialistischen Programms. Es ist zu wünschen, daß seine Durchführung im Wege internationaler Vereinbarung ermöglicht wird.