Es ist verständlich, daß im Bewußtsein der Zeitgenossen und in den Kämpfen der Öffentlichkeit solche politischen Fragen und Forderungen im Vordergrund stehen, die aus der Notwendigkeit erwachsen, den alten Bestand der Reichs- und Landesinstitutionen zu liquidieren, das Haltbare hinüberzuretten und so durch Preisgabe und Bewahrung die neue Verfassung des deutschen Freistaates zu schaffen. So beispiellos jäh und tief der Zusammenbruch des alten Reichs gewesen ist, so zeigt doch jeder Tag deutlicher, daß die bestimmenden und hemmenden Faktoren der deutschen Vergangenheit: Individualismus und Partikularismus, Mangel an Nationalbewußtsein und Widerstand gegen jedes umschmelzende Feuer kaum an Stärke verloren haben. Die Verfassungsprobleme, die aus dem Widerstreit dieser Elemente und den Forderungen der neuen Ordnung folgen, stellen die Nationalversammlung vor ihre ersten, schweren, aber nicht entscheidenden Aufgaben.
Denn hinter den Problemen der Liquidation und der Auseinandersetzung steht, dunkler und gewaltiger, drohend und fordernd eine zweite Reihe von Aufgaben, die sich nicht aus dem zähen Fortbestehen der Reste des Gestern, sondern aus der gebieterischen Ankündigung des Morgen ergeben. Es hieße, den Halbschlaf des alten Régimes weiterträumen, wollte man glauben, daß mit radikaler Verfassungsänderung und sozialer Gesetzgebung alles nötige getan sei, um die notdürftige Ruhe des Augenblicks in eine gewährleistete Ordnung der Dauer überführen zu können. Das innere Gleichgewicht der Staaten ist zu tief erschüttert, die Auflösung der alten Ordnung zu weit gediehen, als daß eine rasche Beruhigung der aufgewühlten Massen erwartet werden dürfte. Deutschland, und nicht nur Deutschland, tut gut daran, alle politischen und wirtschaftlichen Pläne auf der Einsicht aufzubauen, daß die Massen und Kräfte Europas auf lange Zeit hinaus nur ein labiles Gleichgewicht kennen werden und daß die andrängende Gewalt der radikalisierten Schichten des Proletariats noch im Wachsen ist. Es wird einer beispiellos kühnen und schöpferischen Staatskunst bedürfen, um diejenigen Institutionen und Formen staatlicher Willensbildung zu schaffen, durch die Deutschland vor dem Abgleiten ins Chaos in letzter Stunde gerettet werden kann. Parlamentstechnik und Parteikompromiß sind notwendig und, an ihrer eigenen Stelle, gut. Wo aber ein Volk am Rande des Abgrundes steht, hilft nur die Bereitschaft, die Notwendigkeit des Kommenden unerschrocken in seinen Willen aufzunehmen und ohne Schielen und Blinzeln nach rechts und links entschieden und souverän nach den Geboten der Stunde zu handeln.
Das erste staatsmännische Erfordernis der Lage aber ist, die Probleme des wirtschaftlichen Wiederaufbaus aus der Unruhe des politischen Kampfes zu heben. Schon als die deutsche Gesetzgebung noch in den Händen einer nur zum Teil sachkundigen Bürokratie und eines Parlaments lag, dessen Parteien immer mehr zu Sachwaltern von wirtschaftlichen Klassen geworden waren, ist es oft beklagt worden, daß wirtschaftliche Gesetzesvorlagen zum Spielball politischer Tendenzen wurden und daß keine Stelle in der Verfassung vorgesehen war, die die Ziele und Mittel der Gesetzgebung in Beratungen von Sachverständigen zu prüfen hatte. Nachdem die Revolution alle Hemmungen zerbrochen hat, die der Auswirkung einer schrankenlosen Mehrheitsherrschaft entgegenstanden, ist diese Notwendigkeit nur noch stärker geworden. Die Arbeiterschaft wird in diesen Wochen ohnmächtiger Herrschgewalt die Einsicht gewonnen haben, daß ihre Ziele nicht ohne die Mitarbeit des Unternehmertums und der ganzen Schicht intellektueller Arbeiter erreicht werden können, die, ähnlich den Schemen der Vorhölle, ohne Gewaltsamkeit weder zu dieser noch zu jener Klasse gerechnet werden können. Sie haben eingesehen, daß eine gemeinwirtschaftliche Ordnung der Dinge nur in langsamer Arbeit heraufgeführt werden kann und daß die nächste Aufgabe sein muß, den Wertertrag der deutschen Arbeit zu steigern. Bevor über die Verteilung des Ertrags an Kapital und an Arbeit entschieden wird, muß dieser Ertrag so weit erhöht werden, wie es die Kräfte von Mensch und Boden, Maschine und Rohstoff erlauben und die Bedürfnisse der Nation notwendig machen. Diese Aufgabe kann nur durch gemeinsame Beratung der Vertreter der Arbeiterschaft und des Unternehmertums gelöst werden. Dazu ist hier und dort bereits der Weg gefunden worden. Es fehlt aber ein Organ, das aus einer gelegentlichen Zusammenarbeit eine dauernde machte, an die ·Stelle einer Arbeitsgemeinschaft eine Verfassungsinstitution setzte und das in sich die Gewähr schlösse, daß kein Gesetzentwurf auf dem Feld der Wirtschaft dem Parlament vorgelegt werden kann, der nicht vor der Einbringung einem autoritativen Gremium von Sachverständigen zur Begutachtung vorgelegt war. Es ist selbstverständlich, daß diese Institution aus Wahlen der teils territorialen, teils fachlichen Berufsorganisationen hervorgehen und in ihrem obersten Organ zu je einem Drittel mit Führern der Arbeiterschaft, des Unternehmertums und der Konsumenten besetzt werden müßte.
Es ist der alte Bismarcksche Gedanke eines Reichswirtschaftsrates, der hier in neuer Form und mit neuen Zwecken lebendig wird. Er ist in den letzten Monaten an mehr als einer Stelle zur Forderung erhoben worden. Man darf hoffen, daß die Widerstände, die ihm bisher entgegengesetzt worden sind, in Zukunft entkräftet sein werden. Kein Reichstag wird die Verantwortung für die wirtschaftliche Umgestaltung Deutschlands tragen können, wenn die Gesetzvorschläge nur auf der Arbeit einiger Referenten oder den Anregungen dieser oder jener Kommission aufgebaut sind. Wird festgesetzt, daß der Reichswirtschaftsrat keine legislatorischen Befugnisse hat, sondern lediglich zur Vorbereitung und Begutachtung wirtschaftlicher Gesetze gebildet wird, so entfällt jeder Grund, zu befürchten, daß hier neben die Volksvertretung ein rivalisierendes Gebilde gestellt werden soll, das ein neues Element der Reibung in die ohnehin überaus komplizierte Verfassung Deutschlands tragen muß. Diese Institution kann vielmehr zu einem der stärksten Träger nationaler und sozialer Einheit werden.
In dem Aufbau eines solchen Reichswirtschaftsrats würden nämlich auch die Arbeiterräte, die durch einen Federstrich auflösbar zu glauben, eine arge Verkennung der Lage bedeuten würde, ihre legitime Stelle und Begrenzung finden. Es ist interessant zu beobachten, daß im radikalen Lager bereits eine einseitig auf proletarisch-revolutionäre Interessen ausgerichtete Abwandlung des Ratsgedankens vorgeschlagen wird. Hilferding, neben Kautsky der scharfsinnigste Nationalökonom der Unabhängigen Sozialdemokratie, hat jüngst in der „Freiheit“ auseinandergesetzt, daß eine Umbildung des Rätesystems aus politischen und wirtschaftlichen Gründen gefordert werden müsse. Die Vorzüge des Systems liegen in der „Erfassung der ganzen Arbeiterschaft der Betriebe“ und in dem „unmittelbaren Zusammenhang mit den Massen“. „Dieses macht sie radikaler als die alten Organisationen, jenes befähigt sie in hohem Maße, Trägerin der Massenaktion zu sein. Beides läßt sie in bewegten Zeiten unentbehrlich erscheinen“. Die wirtschaftliche Gefahr des Systems aber liegt darin, daß der Anspruch des Arbeiterrats eines Betriebes auf Leitung und schließlich auf Besitz des Unternehmens dem Interesse der Gesamtheit und den Notwendigkeiten der Sozialisierung widersprechen. „Die Rechte der Arbeiterräte müssen so zugunsten der Gesamtheit eine Einschränkung erfahren, auch gerade in vergesellschafteten Industriezweigen.“ Bestehen müssen nach Hilferding die Arbeiterräte bleiben , „als Kontrollorgane für die sozialpolitischen Aufgaben und als Hilfsorgane bei der Durchführung der Sozialisierung.“ Auf politischem Gebiet bezeichnet Hilferding die Forderung: „Alle Macht den Arbeiterräten!“ schlechthin als verfehlt. „Sie widerspricht allen Grundsätzen der Demokratie, indem sie einen Teil des Volkes von dem Mitbestimmungsrecht ausschließt. Die Ausschließung irgend welcher Bevölkerungsteile von der politischen Mitwirkung treibt diese in die äußerste Opposition. Die Verleugnung der Demokratie stößt aber auch bei allen, denen die Demokratie Überzeugung ist, auf steigenden Widerstand, nicht zuletzt bei großen Arbeiterschichten. Die Formel einigt das Proletariat nicht, sondern spaltet es. Die Folgen sind Kampf innerhalb der Arbeiterräte selbst, der entweder ihre Tätigkeit auf allen Gebieten lahmlegt oder gewaltsam ausgetragen werden und mit der Niederwerfung eines Teiles des Proletariats durch den andern enden muß.“ Es wird daher vorgeschlagen, die politischen Befugnisse der Arbeiterräte so abzugrenzen und zu sichern, daß in die Verfassung Bestimmungen aufgenommen werden, die besagen: „Die Delegierten der Arbeiterräte treten alljährlich zu dem Kongreß zusammen, der aus seiner Mitte den Zentralrat wählt. Der Zentralrat hat das Recht: die Vorlagen an die Nationalversammlnng vor ihrer Einbringung zu prüfen und mit einem Gutachten zu versehen; selbständig Gesetzentwürfe an die Nationalversammlung einzubringen; bei Ablehnung der von ihm eingebrachten Gesetzesvorschläge durch die Nationalversammlung eine Volksabstimmung durch die Regierung herbeiführen zu lassen. Er erhält ferner das Recht auf ein aufschiebendes Veto gegen die Beschlüsse der Nationalversammlung und die Verordnungen der Regierung. Der Einspruch hat zur Folge, daß das Gesetz, gegen das sich der Einspruch richtet, einer Volksabstimmung unterbreitet werden muß, deren Ausfall endgültig entscheidet.“ Den Einwand, eine solche Institution verstoße gegen die Grundsätze der Demokratie, glaubt Hilferding durch die Behauptung erledigen zu können, rechte Demokratie sei überhaupt unter der Herrschaft der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unmöglich; es käme jetzt vor allem darauf an, die Interessen der breiten Massen zu schützen. Lassen wir für einen Augenblick die Gegenargumente beiseite, die einer solchen Auffassung entgegengestellt werden können, so ist leicht zu zeigen, daß auch von dem Hilferdingschen Standpunkt aus die von ihm vorgeschlagene Organisation als unzweckmäßig und die ihr beigegebene Begründung als brüchig dargetan werden kann. Denn ein solcher Zentral-Arbeiterrat, der aus allgemeinen Betriebswahlen unter Ausschaltung der Partei- und Gewerkschaftsorganisationen hervorgegangen ist, hat zwar, wie Hilferding richtig bemerkt, unmittelbareren Kontakt mit der bloßen Masse als diese und ist daher leichter mit dem Willen zum Umsturz bestehender Ordnungen zu erfüllen. Im selben Maße verringert sich aber auch die Chance, in diesem Gremium erfahrene und sachverständige Männer zu versammeln, deren Urteil so viel Gewicht, Klarheit und Ruhe bewahrt hat, daß ihnen die Ermächtigung zu Eingriffen in die Arbeit der gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften zugestanden werden kann. Will man ein ständiges Zentrum revolutionärer Unruhe erhalten, so ist es nur folgerichtig, eine Institution nach den Hilferdingschen Plänen aufzubauen. Der Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft aber wird durch die Schaffung solcher tribunicischen Gewalten nur verlangsamt und gestört werden können. An Interessenvertretungen, Intercessionsgelegenheiten und eigenbrödlerischen Protestaktionen haben wir genug und übergenug. Was uns helfen kann, ist allein die geordnete Zusammenarbeit aller schaffenden Kräfte unter Führern, deren Seh- und Tatkraft weder durch geistlose Routine noch durch verantwortungslosen Radikalismus geschwächt ist. Die Geschichte Roms zeigt, wie furchtbare Verheerungen die Errichtung eines Volkstribunats selbst im Gefüge dieses stärksten aller historischen Staaten angerichtet hat, Deutschland würde durch ein ähnliches Experiment die verzweifelte Lage der Nation nur zu einer aussichtslosen machen. Um so dringlicher ergeht an die aufbauenden Kräfte des Landes der Ruf, ein von den Wirrungen der Parteien und der Partikularismen gelöstes Organ zu schaffen, das die Zusammenfassung aller Führer und aller Zweige der deutschen Wirtschaft zur Mitarbeit am Wiederaufbau gewährleistet und die aus dem Westen übernommene Verfassungsform um eine Institution bereichert, die zu schaffen dem staatsbildenden Geist unserer Nation vorbehalten war.