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Es scheint den Bankiers vorbehalten zu bleiben, die teigigzähe Masse der Reparationsverhandlungen in lebhafteren Fluß zu bringen. Galten die Vertreter der Hochfinanz vor dem Kriege meist als ausgleichendes, hinhaltendes, krisenabwehrendes, immer auf Stetigkeit und Kompromißbildung gerichtetes Element, so hat sich ihre Rolle jetzt von Grund auf geändert. Dieselben Motive, die sie damals bestimmten, wirken auch heute noch: der Wunsch, in übersehbaren Verhältnissen zu arbeiten, die Abneigung andere als wohlbegrenzte Risiken zu übernehmen, die Vorliebe für rationelle Lösungen und die Einsicht, daß nur das ungehinderte Spiel des zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehrs ihnen die Ausübung ihrer ganzen Talente und die Verwertung ihrer ganzen Kapitalmacht gestatte. Aber eben diese Motive müssen sie unter den veränderten Verhältnissen bestimmen, die Politiker zu neuen Entschlüssen zu zwingen — so wie sie vor dem Kriege die Politiker eher davon abgehalten haben, die ruhige Selbstbewegung der Dinge durch einschneidende Entscheidungen unübersichtlich zu machen. Denn jetzt sind es die Politiker, die sich im Netz ihrer eigenen Künste, Abmachungen und Taktiken verfangen und die europäisch-amerikanische Politik in ein undurchsichtiges Gemenge verwandelt haben, in dem es ebensowenig ein Vor wie ein Zurück zu geben scheint und in dessen Schoß Gefahren von unabschätzbarer Größe verborgen sind. Hier bleibt den Bankiers kein anderer Weg, als auf Entwässerung dieser morastigen Masse zu dringen — sei es auch um den Preis von Krisen, in denen nicht nur das Dasein von Regierungen, sondern von Völkern auf dem Spiel steht.

So hat die Bank von England, als sie im letzten Herbst dem deutschen Unterhändler den erbetenen Kredit verweigerte, die latente Reparationskrisis zur offenen gemacht und den stockenden Verhandlungen einen Impuls gegeben, der schließlich zu der Entscheidung der Reparationskommission Nr. 1841 vom 21. März und zu der Bestätigung des vorläufigen und teilweisen Zahlungsaufschubs durch die Entscheidung Nr. 1976 vom 31. Mai geführt hat. (Es sind also in rund 70 Tagen nicht weniger als 135 Entscheidungen der Reparationskommission ergangen. Hiervon ist der Öffentlichkeit nur ein ganz geringer Bruchteil bekannt. Es würde sicher nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, Frankreich, Italien und Belgien interessieren zu sehen, in welcher Weise die — keinem Parlament der Welt verantwortliche — Kommission regiert und wirtschaftet.)

Doch zeigte schon der Gang der Verhandlungen in den letzten Monaten, daß die Kraft jenes Anstoßes sich zu erschöpfen begann. Die Politik der Regierung Poincaré und ihrer mächtigen Hintermänner hat das meiste dazu getan. Aber es darf doch auch die Frage gestellt werden, ob das deutsche Kabinett nicht durch eine stärkere Initiative nach innen und außen die neue Lage hätte besser ausnutzen können. Das Votum der Bank von England legte es nahe, die Frage der deutschen Zahlungsfähigkeit aufzuwerfen und Berufung auf Grund des Paragraphen 234 des Versailler Vertrages einzulegen. Statt dessen wurde ein Moratoriumsgesuch gestellt, das den Sachverhalt nicht klar genug heraustreten ließ. Denn wenn anerkannt wurde, daß die deutsche Leistungsfähigkeit nicht ausreicht, so war nicht ein Moratorium, sondern eine Änderung des Zahlungsplans geboten; und es entfiel damit auch die Möglichkeit, Bedingungen aufzuerlegen, wie sie wohl dem in Zahlungsverzug geratenen Schuldner angemessen sind, nicht aber einem, dessen Schuldsumme zu hoch bemessen ist. Die ungünstigen Folgen dieses anfänglichen Ungeschicks konnten durch die entschiedene deutsche Note vom 7. April nicht wieder ausgeglichen werden, und so kam es nach mehrfachem Notenwechsel zu dem Brief des Reichskanzlers an die Reparationskommission vom 28. Mai, die unter mannigfaltigen Klauseln die Unterwerfung unter die Forderungen der Kommission ausspricht.

Inzwischen aber war ein neuer Faktor in das Spiel eingeführt worden, und vielleicht war die Reichsregierung, als sie sich zu jenem Akt der Unterwerfung entschloß, von dem Gedanken bestimmt, daß jeder Schritt von geringem Belang sein würde, ehe nicht dieser neue Faktor Zeit zur Auswirkung erhalten hätte. Die Reparationskommission hatte am 4. April beschlossen, einen Ausschuß von Bankiers zu ernennen, der die Bedingungen prüfen sollte, unter denen Deutschland „ausländische Anleihen zwecks Verwendung zur Ablösung eines Teils des Kapitals der Reparationsschuld“ aufnehmen könnte. Dieser Ausschuß, bestehend aus den Herren D'Amelio, Morgan, Kindersley, Sergent, Bergmann, Delacroix, Vissering, trat am 24. Mai 1922 in Paris zusammen. Am 10. Juni hat er sich auf unbestimmte Zeit vertagt und einen umfangreichen Bericht an die Reparationskommission erstattet. Er kommt zu dem Schluß, daß unter den obwaltenden politischen Verhältnissen überhaupt keine Anleihe zu dem bezeichneten Zweck an Deutschland gewährt werden könne.

Sieht man nur auf das Ergebnis, so scheint nur eine Wiederholung des Schrittes der Bank von England im letzten Herbst vorzuliegen — nur daß das Urteil der englischen Zentralbank nicht mehr allein steht, sondern von einem Vertreter des kapitalmächtigsten Landes wie Morgan und einem besonders einsichtigen Fachmann wie Vissering bekräftigt wird. Zieht man aber die Begründung in Betracht, die der Anleiheausschuß seinem Entschluß beigegeben hat, so bemerkt man, daß die Dinge weiter gediehen sind. Der Ausschuß stellt nicht nur fest, daß die Deutschland auferlegten Verpflichtungen das Maß seiner Leistungsfähigkeit weit übersteigen; daß hieraus sich die Möglichkeit eines finanziellen Zusammenbruchs und eines neuen sozialen Umsturzes ergebe; daß unter diesen Umständen keine wie immer gearteten Garantien als hinreichend sicheres Pfand für eine Auslandsanleihe angesehen werden könnten; daß „die Wiederaufnahme normaler Handelsbeziehungen zwischen den Ländern und die Stabilisierung der Währung ohne endgültige Regelung der Reparationszahlungen und anderer öffentlicher Schulden unmöglich ist“; daß aber keine bloße Nachsicht bei der Erzwingung der deutschen Zahlungsverpflichtungen und keine provisorische Lösung den Boden für eine solche Regelung abgeben könne, sondern allein eine definitive Reduktion der Verpflichtungen und die Herstellung eines Zustandes der Sicherheit und Gewißheit. Sondern der Ausschuß lehnt es ab, Vorschläge in dieser Richtung zu machen, solange die französische Regierung es ablehnt, über diese Dinge nachzudenken und zu sprechen. Die Mehrheit der Reparationskommission hatte den Anleiheausschuß dazu ermächtigt; genauer die ganze Kommission mit Ausnahme des französischen Vertreters. Was lag näher, als das uneingeschränkte Mandat des Ausschusses auszuführen und ein fachmännisches Votum über die „Deflation der Weltbilanz“ abzugeben, wie es das Memorandum der internationalen Finanzsachverständigen vom 15. Januar 1920 nennt? Es scheint dem Einfluß Morgans selber zuzuschreiben, daß dieser unpolitische Weg nicht begangen wurde. So erklärt der Anleiheausschuß: ich sehe eine Lösung der finanziellen und wirtschaftlichen Probleme, die durch die zwischenstaatlichen Schulden entstanden sind und die Deutschland vor die Gefahr des Zusammenbruchs und den Rest der Welt vor die Wahrscheinlichkeit langdauernder Depression stellen — aber ich weigere mich meinen Rat zu geben, solange er von derjenigen Stelle nicht gewünscht wird, an die er sich vor allem richten müßte. Man kann sich nicht klüger und würdiger verhalten. Diese Bankiers, die aufgefordert worden sind, ihren technischen Rat in Anleihefragen zu erteilen, haben in Wahrheit den Politikern eine Lektion in praktischer Diplomatie gegeben.

Die ganze Last der Entscheidung ruht jetzt auf Frankreich. Der Anleiheausschuß hat seine freudige Bereitwilligkeit ausgedrückt, seine Beratungen wieder aufzunehmen, sobald die Haltung Frankreichs sich ändert. Er hält die Marktverhältnisse für günstig und verweist auf eine Aufzeichnung (der amerikanischen Regierung?), wonach amerikanische Bankiers und Kapitalisten an dem Ankauf deutscher Schuldverschreibungen interessiert werden können, wenn „eine derartige Anleihe auf das einmütige Ersuchen und zum Nutzen der alliierten Nationen erfolgen würde“. In dem Augenblick, wo Frankreich einen solchen Antrag mitunterzeichnet, haben die Bankiers volle Freiheit, ihre Bedingungen zu nennen.

Es ist nicht wahrscheinlich, daß ein solcher Schritt ohne Umschweife getan werden wird. Poincaré ist ein guter Rechner, aber die Richtigkeit einer französischen Rechnung wird weniger durch Einsicht in die Arithmetik als durch Willen zum Prestige bestimmt. Vielleicht sucht er nach einem Umweg, der es ihm erlaubt, das Gesicht zu wahren. Es ist bezeichnend, daß eine große Pariser Zeitung in diesen Tagen den Vorschlag wagen konnte, die deutsche Zahlungsfähigkeit durch einen Ausschuß von alliierten und neutralen Sachverständigen prüfen zu lassen. Es wird der deutschen Regierung leicht sein, Frankreich beim Begehen dieses Weges zu helfen, denn sie selber hat einen ähnlichen Vorschlag in ihrer Note vom 7. April gemacht, ohne in weiteren Gang der Verhandlungen darauf zurückzukommen. Vermutlich hatte sie angenommen, daß der erneute Appell an den Artikel 234 angesichts der Arbeiten des Anleiheausschusses umgangen werden könnte.

Diese Hoffnung ist fehlgeschlagen. Die Reichsregierung wird sich schwerlich der Pflicht entziehen können festzustellen, daß sie nicht nur, gemäß dem letzten Briefwechsel mit der Reparationskommission, die Begrenzung der schwebenden Schuld auf den Stand von Ende März nicht einhalten kann, sondern daß es jenseits ihrer Zahlungsfähigkeit liegt, irgendwelche Devisenzahlungen auch nur im Umfang von monatlich 50—60 Mill. Goldmark zu bewirken, ohne den Markkurs weiter zu zerrütten. Wenn sie diese Feststellung mit dem erneuten Anerbieten verbindet, die Frage der deutschen Tributfähigkeit durch eine internationale Kommission von wirklichen Sachverständigen untersuchen zu lassen, so wird sie dadurch den Einwand der Zahlungsunwilligkeit entkräften und vielleicht zugleich auch Frankreich helfen, sich aus einer Situation zu ziehen, die für alle Beteiligten unerträglich geworden ist.

Hamburg, den 14. Juni.
Kurt Singer

 

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