In den Erörterungen über die Höhe der Kriegsentschädigungen und ihre Anpassung an die deutsche Leistungsfähigkeit geschieht es nur selten, daß neben den Lasten aus dem Londoner Zahlungsplan, die wie blauschwarze Hagelwolken drohend über der deutschen Wirtschaft hängen, und neben der Schwächung, die Zerstückelung, Einschnürung und Abschließung gemäß dem Versailler Vertrag über den schon durch Krieg und Umsturz entkräfteten Körper gebracht haben, auch das Wachstum der deutschen Auslandsverschuldung in Betracht gezogen wird, das in Gefolge jener Lasten und jener Schwächung bereits eingetreten ist. Man ist es gewohnt, auch von besonneneren Beurteilern in den Weststaaten behaupten zu hören, daß Deutschland größerer Anstrengungen fähig gewesen wäre, um seinen Reparationsverpflichtungen zu genügen, und daß die schwere Belastung Frankreichs mit Auslandsschulden um so unerträglicher sei, als Deutschland noch immer auslandsschuldenfrei dastehe. Es scheint, daß diese Meinung auch in der Londoner City und an neutralen Finanzkreisen viele Anhänger gehabt hat und noch immer hat. Doch ist es leicht, zu zeigen, daß sie durchaus falsch ist. Nur die Form der Verschuldung, wie sie in diesem Umfang kaum je zu beobachten gewesen ist, konnte solange darüber hinwegtäuschen.
Es ist wahr, daß Deutschland vor dem Kriege ein Gläubigerland war. Sein Gesamtbesitz an ausländischen Wertpapieren und Beteiligungen an ausländischen Unternehmungen pflegte in der Literatur auf 20—25 Milliarden M geschätzt zu werden, halb so groß wie der französische, ein Drittel so groß wie der englische Besitz an Auslandsanlagen. Wie Dr. von Glasenapp, der Vizepräsident der Reichsbank, in einem Aufsatz mitteilt, den er in dem ersten Wiederaufbauheft des „Manchester Guardian“ veröffentlicht hat, haben die während des Krieges gemachten Erfahrungen diese Schätzung bestätigt. Ob allerdings das stetige Anwachsen dieser Investitionen auf eine dauernde Aktivität der sogenannten Zahlungsbilanz Deutschlands zu schließen erlaubte, kann fraglich erscheinen. Daß der deutsche Außenhandel auch vor dem Kriege mit einem Einfuhrüberschuß abschloß, ist bekannt: in den Jahren 1909 bis 1913 überstieg die Einfuhr die Ausfuhr um 1,9; 1,4; 1,6; 1,7; 0,7 Milliarden M. Es war möglich, diesen Saldo durch Posten auszugleichen, die man in der englischen Literatur als „invisible exports“ zu bezeichnen pflegt: in der Schätzung Glasenapps 1—1¼ Milliarden Erträge der Auslandsanlagen; 1 Milliarde aus den Leistungen deutscher Reedereien, Banken und ähnlicher Unternehmungen an Ausländer; abzüglich 400 Mill. M, die von den 700 000 Wanderarbeitern in ihre Heimat rückgesandt zu werden pflegten; insgesamt 1¾ Milliarde. Ist diese Schätzung richtig (sie läßt sich in der Tat nur mit einem sehr robusten Willen aufstellen, auf alle Fälle zu Ergebnissen zu kommen), so wäre allerdings im Jahre 1913 ein Forderungsüberschuß von etwa einer Milliarde entstanden, der in Auslandsunternehmungen hätte investiert werden können. In den vier vorangegangenen Jahren aber hätte, was auch Dr. von Glasenapp zu übersehen scheint, der Überschuß der unsichtbaren Ausfuhr nur eben hingereicht, den Überschuß der sichtbaren Einfuhr zu decken. Dies würde die vor dem Kriege vielfach in konservativen Kreisen vertretene Ansicht stützen, daß Deutschland mit seinen Auslandsanlagen über das Maß seiner wirtschaftlichen Kraft hinausgegangen sei, und daß es die Vermehrung dieser Investitionen nur durch dauernde kurzfristige Verschuldung an die reicheren Kapitalmärkte ermöglicht habe.
Es ist selten bemerkt worden, daß diese Meinung auch durch die Bewegung der intervalutarischen Kurse bestätigt wurde. Der Durchschnittskurs der Mark hat sich im letzten Menschenalter vor dem Kriege in London und in Paris erheblich gesenkt. Die folgende Zusammenstellung zeigt, an wieviel Tagen an der Berliner Börse der Kurs von Auslandswechseln (8 Tage, von 1909 ab bei London und Paris: Sicht) unter, auf und über der Münzparität notierte:
Tabelle 1
| London | Paris | Amsterdam | |||||||
| unter | auf | über | unter | auf | über | unter | auf | über | |
| der Parität | der Parität | der Parität | |||||||
| 1896—1900 | 366 | 21 | 395 | 265 | 64 | 453 | 316 | 36 | 429 |
| 1901—1905 | 252 | 41 | 489 | 43 | 65 | 674 | 224 | 42 | 516 |
| 1906—1910 | 115 | 32 | 932 | 50 | 15 | 1014 | 125 | 28 | 630 |
Die Auslandswechsel zeigen von Jahrfünft zu Jahrfünft eine ganz entschiedene Tendenz zum Steigen. Die Zahlungsbilanz hatte sich also ständig verschlechtert. Wie groß die Ausschläge waren, geht aus folgender Zusammenstellung hervor, die wir ebenfalls einem Tabellenwerk der Reichsbank entnehmen:
Tabelle 2
| London | Paris | Amsterdam | New York | |||||
| auf od. unter dem Gold import-punkt | auf od. über dem Gold export-punkt | auf od. unter dem Gold import-punkt | auf od. über dem Gold export-punkt | auf od. unter dem Gold import-punkt | auf od. über dem Gold export-punkt | auf od. unter dem Gold import-punkt | auf od. über dem Gold export-punkt | |
| 1896—1900 | - | 89 | 2 | 94 | 39 | 41 | 11 | 38 |
| 1901—1905 | 2 | 27 | - | 179 | 1 | 52 | - | 9 |
| 1906—1910 | - | 191 | - | 251 | - | 107 | - | 47 |
Der Kurs der Mark bewegte sich unter dem Druck wachsender Nachfrage nach Auslandsvaluten innerhalb der „Goldpunkte“ immer ungünstiger für Deutschland und schien sich vom Münzpari immer mehr zu entfernen, oft sogar auf oder über den Goldausfuhrpunkt hinaus.
Erscheint die internationale Gläubigerstellung Deutschlands angesichts dieser Zahlen schon fragwürdiger, als sie es nach den gewöhnlichen Darstellungen unkritischer Bewunderer der damaligen Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik scheint, so hat schon der Krieg das Verschuldungsverhältnis erheblich verändert. Vom 1. August 1914 bis Ende 1918 ergab sich ein Überschuß der Einfuhr über die Ausfuhr von 15,3 Milliarden M, gleich 11,1 Milliarden „Goldmark“, und hierzu kamen noch rund 4 Milliarden „Goldmark“, die von der Einfuhr von Deutschlands Verbündeten auf seine Kosten zu finanzieren waren. Überschüsse aus „unsichtbaren Exporten“ waren nicht vorhanden. So wurde eine Milliarde Gold im Ausland verkauft; es wurden noch weitere 4 Milliarden „Goldmark“ inund ausländischer Wertpapiere abgestoßen; an Krediten wurden 3—4 Milliarden „Goldmark“ im Ausland aufgenommen. Den Rest von 6—7 Milliarden beglich man durch Verkauf von Marknoten. In diesen Betrag sind indessen die Noten nicht einbegriffen, die während des Krieges in die von Deutschland besetzten Gebiete im Nordwesten und Südosten abgeströmt sind.
Es folgt aus diesen Zahlen, daß Deutschland schon vor dem Waffenstillstand den größten Teil seines Überschusses an Auslandsanlagen verloren hatte. Von 20—25 Milliarden „Goldmark“ waren vor Kriegsende mehr als fünfzehn zur Finanzierung des aufs höchste eingeschränkten Einfuhrüberschusses beansprucht worden. Man hat, aus Gründen, die heute kaum noch verständlich sind, diese Zahlen erst so spät bekannt gegeben, daß sie ohne erhebliche politische Wirksamkeit bleiben mußten. Es wäre besser gewesen, die Welt hätte früher gewußt, daß wir, auch ohne die Lasten des Versailler Vertrags, in unserer internationalen Gläubigerstellung um ein Menschenalter zurückgeworfen gewesen wären.
Dann kamen Waffenstillstand und Friedensbedingungen mit ihrem System von Amputationen, Sequestrationen, Liquidationen, Reparationen, Restitutionen und Okkupationen. Sie haben die durch den Krieg schon geschmälerte Grundlage der deutschen Wirtschaftsmacht weiter eingeengt, erschüttert und unterhöhlt. Über die Veränderung der Produktionskraft des Landes gibt es nur vage Schätzungen. Einigermaßen faßbar sind die Zahlen des Ausfuhrhandels, doch ist zu bedenken, daß außer der allgemeinen Problematik aller Handelsstatistiken im Falle Deutschlands noch die offene Westflanke des Reichs und die rapide Bewegung der Ausfuhrpreise besondere Fehlerquellen schafft. Die Ausfuhrwerte, ausgedrückt in Goldmark, scheinen sich nach anfänglich großen Schwankungen auf einem Drittel des Friedenswerts zu halten, die Ausfuhrmengen auf etwa einem Viertel, entsprechend dem höheren Preisniveau auch des Auslands. Die Einfuhrwerte dagegen hielten sich anfangs auf etwa zwei Dritteln, 1921 auf weniger als der Hälfte, jetzt etwa einem Drittel des Friedenswerts. Insgesamt ergibt sich, wie aus folgender Tabelle hervorgeht, für die ersten drei Jahre nach Abschluß des Waffenstillstands ein Einfuhrüberschuß von 8 Milliarden „Goldmark“.
Tabelle 3
| Einfuhr | Ausfuhr | Einfuhrüberschuß | |
| (in Milliarden „Goldmark“) | |||
| 1.7.1914—31.12.1918 | 22,8 | 11,7 | 11,1 |
| 1919 | 6,6 | 1,76 | 5,0 |
| 1920 | 7,0 | 5,1 | 1,9 |
| 1921 (Schätzung) | 4,5 | 3,4 | 1,1 |
| 1922 (4 Monate) | 1,26 | 1,23 | 0,03 |
Wie ist dieser Saldo gedeckt worden? Überschüsse der „unsichtbaren Ausfuhr“ sind nicht mehr vorhanden, vielmehr sind für Verzinsung und Amortisation der im Krieg und nach dem Krieg aufgenommenen Kredite, nach Glasenapp, etwa ½ Milliarden Goldmark zu entrichten. Es kommen, von allen Sachleistungen, Besatzungs- und Kontrollkosten abgesehen, bis Ende 1921 rund 1,1 Milliarden „Goldmark“ Reparationszahlungen und rund 500 Mill. Zahlungen im deutsch-englischen Ausgleichsverfahren hinzu. Der zu deckende Betrag beläuft sich also für die Jahre 1919—1921 auf rund 11—12 Milliarden „Goldmark“.
Niemand kann sagen, welcher Teil dieser Summen durch Verkäufe von Anteilen, Effekten, Häusern, Grundstücken oder andern Gütern endgültig beglichen ist. An Gold ist nicht viel mehr als eine Milliarde abgeflossen. Die Reichsbank schätzt den Besitz des Auslandes an Marknoten im Frühjahr 1922 auf 25—30 Milliarden M Reichswährung (darunter jene 6—7 Milliarden, die während des Krieges zur Bezahlung unseres Einfuhrüberschusses ans Ausland verkauft worden waren, und überdies die während des Krieges in die von Deutschland besetzten Gebiete abgeströmten Marknoten); die ausländischen Guthaben bei deutschen Banken auf rund 35 Milliarden M Reichswährung; den Besitz des Auslands an deutschen Wertpapieren auf die gleiche Summe; die Summe der im Ausland aufgenommenen laufenden Kredite auf mindestens 30 Milliarden M Reichswährung; insgesamt 130 Milliarden Papiermark, von denen 100 Milliarden als eine kurzfristige Schuld anzusehen sind.
Es ist uns nicht bekannt, ein wie großer Teil der Auslandskredite auf Markwährung gestellt ist; doch ist anzunehmen, daß es mindestens 60 von jenen 100 Milliarden sind, in denen ja 30 Milliarden Noten und wohl nicht viel weniger Markguthaben bei deutschen Banken stecken. Wir wissen auch nicht, zu welchem Kurse jene Markguthaben und Marknoten erworben sind. Im Durchschnitt der Kriegsjahre waren 100 M Reichswährung gleich 76 „Goldmark“, im Durchschnitt der drei ersten Nachkriegsjahre gleich 12,6 „Goldmark“ (1919: 26; 1920: 6,7; 1921: 5), im ersten Halbjahr 1922 1,6 „Goldmark“. Da die größten Beträge an Banknoten sehr bald nach Kriegsende abgeströmt sein müssen und der Durchschnitt der Jahre 1914 bis 1921 ein Verhältnis von rund 1 : 50 ergibt, ist es kaum gewagt, einen durchschnittlichen Erwerbspreis anzunehmen, der einem Verhältnis von 1 : 25, wie im Jahr 1919, entspricht. Die ausländischen Erwerber hätten demnach für jene 60 Milliarden Reichsmark etwa 15 Milliarden „Goldmark“, gleich fast 4 Milliarden Dollar, aufwenden müssen. Heute ist, bei einem Dollarstand von über 350 Reichsmark, diese Summe auf ein Zwanzigstel ihres damaligen „Goldwertes“ zusammengeschrumpft: aus 4 Milliarden Dollar wären 200 Millionen, aus 15 Milliarden Goldmark — 750 Millionen geworden und die Besitzer hätten einen Verlust von rund 14¼ Milliarden zu tragen, der fast zehnmal so groß ist wie die bisher erfolgten Devisenleistungen (1,5 Milliarden „Goldmark“).
Auch wenn man die unwahrscheinliche Annahme macht, daß jene 60 Milliarden im Durchschnitt bei einer Entwertung der Mark schon auf ein Zehntel des Friedensstandes vom Ausland aufgenommen waren, so hätten sie dennoch eine Summe von 6 Milliarden „Goldmark“ dargestellt, deren Wert sich bei dem gegenwärtigen Dollarstand auf ein Achtel reduziert hat: das heißt, es wären die ausländischen Besitzer der Marknoten, Guthaben bei deutschen Banken und die ausländischen Geber kurzfristiger Kredite noch immer um rund 5 Milliarden „Goldmark“ geschädigt worden — immer noch mehr als der dreifache Betrag der deutschen Reparationsleistungen in Devisen überhaupt. Hierbei sind die schwerer abschätzbaren Verluste aus dem Erwerb deutscher Wertpapiere nicht inbegriffen.
Es folgt daraus, daß Frankreich im Irrtum ist, wenn es glaubt, das Gewicht unserer Auslandsverschuldung durch rigorose Reparationspolitik vermehren zu können: jede Überbelastung der deutschen Zahlungsbilanz entwertet durch den unausbleiblichen Marksturz nur die ausländischen Markinteressen, erleichtert damit die Goldbürde Deutschlands und steigert die ausländischen Verluste und die deutsche Entlastung in um so kühneren Verhältnissen, je höhere Forderungen an Deutschland gestellt werden.
Dies scheint eine dämonische Art von Arithmetik. Es ist aber nichts anderes als die schlichte Logik der Dinge.
Hamburg, den 1. Juli 1922.
Kurt Singer