An der Hamburger Rede von Keynes über die deutsche Reparationspolitik war viererlei bemerkenswert: seine Behauptungen, seine Vermutungen, seine Vorschläge und seine Person. Am wichtigsten erscheint uns diese Person selber. Nicht, daß von ihr eine besonders mächtige Wirkung ausginge. In einer Gruppe europäischer Intellektueller würde er wenig auffallen: schlank und nervös, versonnen und ein wenig besessen, ein Träumer und Rechner, in einer höchst individuellen Verbindung, die auf dem Kontinent häufiger sein wird als auf der Insel Mills und Benthams. Aber er ist zugleich Engländer, und dies gibt ihm eine Ganzheit, die seinen kontinentalen Vettern abgeht. „Ich möchte nicht behaupten,“ sagt einmal Eckermann zu Goethe, „daß unsere weimarischen jungen Engländer gescheiter, geistreicher, unterrichteter und von Herzen vortrefflicher wären als andere Leute auch.“ „In solchen Dingen, mein Bester,“ erwiderte Goethe, „liegt's nicht. Es liegt auch nicht in der Geburt und im Reichtum; sondern es liegt darin, daß sie eben die Courage haben, das zu sein, wozu die Natur sie gemacht hat. Es ist an ihnen nichts verbildet und verbogen, es sind in ihnen keine Halbheiten und Schiefheiten, sondern wie sie auch sind, es sind immer durchaus komplette Menschen.“
Aber Keynes ist auch darin Engländer, daß er an den Fortschritt der öffentlichen Meinung, an den Sieg der Tatsachen-Vernunft und an die Selbstheilung des kranken Staatensystems glaubt. In seinem ersten Buch trat dieser Zug nicht so deutlich hervor. In der verhängnisschweren Luft von Versailles und Paris vom Frühjahr 1919, schien ihn ein Atem der düsteren Mächte angeweht zu haben, die den Kontinent zur tragischen Bühne machen. In seine heimatliche Insel zurückgekehrt, während der Lauf der Dinge die ärgsten Befürchtungen zuschanden zu machen schien, hat sich sein Wesen dem Zwang des höllischen Gesichts entzogen. An die Stelle visionären Schauders ist ironische Überlegenheit und eine fast heitere Zuversicht getreten. Ob diese gelöste Stimmung wohl anhalten würde, wenn er auch nur ein paar Wochen in dem Inferno Mitteleuropas unter den jungen Menschen leben würde, denen seine letzte Frage galt?
Dennoch ist es gut, diese helle und feste Stimme vom anderen Ufer zu hören. Sie behauptet wenig, aber das Wenige ist um so gewichtiger. Sie räumt mit zwei Illusionen auf, denen bei uns die meisten wirklichen und alle vermeintlichen Sachverständigen angehangen haben: daß Sachleistungen einen Vorteil vor Barleistungen bedeuten und daß auf eine Auslandsanleihe von einigen Milliarden Goldmark zu rechnen sei. Beide Gedanken haben als Ingredienzien der Diplomatie ihr Gutes gehabt; technisch sind sie ohne Wert. Sachleistungen steigern nicht die Fähigkeit zu Reparationen, sondern vermindern sie. Auslandsanleihen von auch nur einer Milliarde Dollar sind unter keinerlei annehmbaren Bedingungen unterzubringen — es sei denn, daß der Erlös der Anleihe dem eigenen Lande zugute kommt. Hiermit sind zwei der schädlichsten Illusionen begraben.
Wichtig ist auch die Feststellung, daß es Deutschland an einem wirksamen Anreiz gefehlt hat, eine bessere Finanzpolitik zu treiben. „Selbst wenn die deutschen Sachverständigen noch so geschickt und zähe versucht hätten, die Mark zu stabilisieren oder den Reichshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen, wäre die sichere Folge nur gewesen, daß die Alliierten ihre Forderungen in gleichem Maß erhöht und damit jede Anstrengung vereitelt hätten. In solcher Lage war einfach nichts zu tun, und mehr zu verlangen heißt unmögliches von der menschlichen Natur erwarten.“
Nicht weniger aber sollte die Kritik der deutschen Reparationspolitik gehört werden, die sehr höflich zwischen den Zeilen der folgenden Sätze versteckt ist: „Ich glaube, daß die Zeit nun da ist, wo die Praktiker in Deutschland sich ernstlich dem Entwurf eines Planes widmen können, ausgehend von dem, was in Wirklichkeit ausführbar ist, und nicht mehr ausgehend von der Absicht, eine mißleitete und vorübergehende öffentliche Meinung in Frankreich oder anderwärts zu beschwichtigen. Deutschland muß Ideen vorbereiten und trachten, die Einzelheiten für eine Politik auszuarbeiten, die nicht bloße Papierpolitik oder Diplomatie ist, sondern eine, die ausgeführt werden kann und die auszuführen beabsichtigt wird. Es ist durchaus möglich, daß irgendwann im Lauf des nächsten Jahres eine große allgemeine Konferenz abgehalten wird und es ist besser, seine Ideen vorher durchdacht zu haben, als sie im letzten Augenblick unter dem Druck der momentanen politischen Lage zu improvisieren.“
Dies ist für den, der hören will, deutlich genug; und es wird vermutlich gehört werden, da es von einem Ausländer gesagt wird. Inländer, die dasselbe sagen, gelten leicht bei den einen als unpatriotisch, bei den andern als unpolitisch, bei beiden als doktrinäre Narren. Aber auch ihre Zeit wird kommen.
Keynes glaubt, daß sie nahe ist. Er glaubt nicht an die großen Worte und starken Gesten der französischen Politik, weil eine große und starke Politik eben diese Worte und Gesten nicht nötig hat. Dies ist ein ausgezeichnetes Argument. Er glaubt aber auch nicht an die Wahrscheinlichkeit, daß Frankreich aus militärischen und territorialen Motiven eine agressive Politik durchführen wird — weil er selber den Wert militärischen Vorgehens gering einschätzt. Dies Argument ist schwächer, und Keynes bekennt selber, daß er sich dieser Schwäche bewußt ist: sie stammt aus einem Apriori der englischen Geschichtsbetrachtung. Keynes glaubt auch nicht an eine unheilbare Zersetzung Deutschlands. „Ein so großes und festverwurzeltes Gebilde wie eine Nation kann ein ständiges Sinken ihrer Lebenshaltung erleiden, aber sie kann nicht plötzlich völlig zusammenbrechen, es sei denn aus eigener Verblendung.“ Soweit sich dies auf die Mechanismen von Geschäft und Verwaltung bezieht, wollen wir das gern, als eine Art von Arbeitshypothese, annehmen. Aber es gibt eine Zersetzung, die schlimmer ist als die Zerrüttung des staatlich-wirtschaftlichen Apparats: die Lähmung des politischen Willens, die Unfähigkeit, leitende Männer hervorzubringen und den mißtrauischen Widerstand der von Enttäuschung zu Enttäuschung gestoßenen Massen. Diesem Zustand ist Deutschland bedenklich nahe gekommen. Nichts Demoralisierenderes, als das ständige von Tag zu Tag leben.
Der Plan, den Keynes für eine künftige Regelung der Reparationszahlungen entwirft; scheint einfach und in seinen Grundzügen praktikabel. Das Wertvolle daran sind nicht die eingesetzten Zahlen, sondern das Schema, in das sie versuchshalber eingesetzt sind. Der Reparationszeitraum wird in drei Phasen gegliedert: in der ersten sind von Deutschland überhaupt keine Reparationszahlungen zu leisten, sondern Reichshaushalt und intervalutarische Kurse zu stabilisieren; in der zweiten wird eine Kombination von mäßigen Pflichtzahlungen und freiwilligen Zusatzzahlungen befürwortet, die samt Zinseszinsen auf den Gesamtbetrag angerechnet werden, der erst am Beginn der dritten Phase fällig wird; in dieser Phase wird der Rest im Lauf von etwa fünfzehn Jahren durch abnehmende Jahresraten getilgt. Keynes gibt dieses Projekt für nicht mehr aus, als was es uns wirklich wert sein kann: als Ausgangspunkt für eine Diskussion unter Sachverständigen. Er räumt selber ein, daß es unmöglich ist, zuverlässige Zahlen zu nennen, ehe nicht die Ergebnisse der Stabilisierungsphase sichtbar geworden sind. Wir wollen also auch nicht lange dabei verweilen. Keynes setzt den Beginn der zweiten Phase schon mit dem Jahre 1924 an; wie es scheint, viel zu früh. Er rechnet mit Pflichtzahlungen von 1924 bis 1930 in Höhe von jährlich mindestens einer Goldmilliarde; wie es scheint, erheblich zu hoch. Und er bemißt den 1930 fällig werdenden Gesamtschuldbetrag auf 40 Milliarden Goldmark; wie es scheint, ziemlich reichlich — auch wenn man in Betracht zieht, daß die von ihm vorgeschlagene Regelung zusammengehen soll mit einer totalen Streichung der Sachlieferungen (einschließlich Kohle); der Auflösung der Reparationskommission und, vor allem, der Beendigung der Besetzung der Rheinlande.
Immerhin: hier ist ein Vorschlag, der in der Tat den Vorzug hat, diskutierbar zu sein. Für realisierbar halten wir ihn nur in Verbindung mit einem Abkommen zur Stabilisierung der intervalutarischen Kurse und mit einer Klausel, die automatisch die deutschen Zahlungen vermindert, wenn der Markkurs trotz dieser Vorkehrungen ins Sinken gerät. Endlich noch eine terminologische Bemerkung, die mehr als terminologische Bedeutung hat: es empfiehlt sich, die erste zahlungsfreie Phase des Abkommens nicht mit dem Worte Moratorium zu bezeichnen. Es handelt sich nicht um Aufschub einer Zahlung, sondern um Feststellung der Schuld und Aufstellung eines Zahlungsplans. Wäre dieser Gedanke klar erfaßt und festgehalten worden, so wäre die Rede von Garantien und Pfändern sinnlos geworden. Es handelt sich eben nicht um ein Verhältnis, das nach Analogie der privatrechtlichen Zahlungsunfähigkeit zu konstruieren ist. Wer Moratorium sagt, muß sich darüber klar sein, daß er damit nur die Position gewisser französischer Sachwalter stärkt, die nicht nur ihre Bilder aus der Sphäre des Gerichtsvollzieherdenkens nehmen.
Kurt Singer