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Die Verhängnisse nehmen ihren Lauf. In einer solchen Stunde, diis velatis, steht es einem Deutschen nicht mehr an zu fragen, was bevorsteht, sondern wie er zu tragen gedenkt, was auch immer bevorstehe. Er tut gut daran, von außen keine Hilfe zu erwarten und auch kein deutendes Wort. Über Europa liegt unheimliches Schweigen und wachsendes Dunkel. Die Klammern, die das vielgefährdete Gefüge seiner Staatenwelt mühsam zusammenhalten sollen, sind zerbrochen oder im Begriff zu zerbrechen; und die geistigen Grundlagen dieser Welt mit ihnen. Der Erdteil Homers, Dantes und Shakespeares steht vor dem Nichts oder vor einem Anfang von Grund auf. Hören wir einige englische Zeugen, die gegen den Verdacht gesichert sind, Wortführer Nietzsches oder Burckhardts im Forum der Westmächte zu sein.

Im zwölften Wiederaufbauheft des „Manchester Guardian" zieht John Maynard Keynes die Bilanz des Zeitalters: „Es ist kein Grund vorhanden, daß die Bewohner Europas, wenn sie klug sind, sich um ihre materiellen Zustände ängstigen. Sie können noch immer das goldene Zeitalter vor sich sehen und ihm entgegengehen. Wenn Europa einen Zerfall erleben sollte, wird er nicht materiellen, sondern geistigen Ursachen zuzuschreiben sein. Wir sind heute die ungläubigsten Menschen geworden. Alle unsere religiösen oder politischen Konstruktionen sind von Motten zerfressen — sogar durchlöcherter, als wir es uns zugestehen wollen. Unsere offiziellen Religionen haben ungefähr denselben praktischen Einfluß auf uns wie die Monarchie oder der Galawagen des Lord Mayor, aber wir haben keinen Ersatz mehr für sie in dem kampflustigen Skeptizismus von Voltair und Home oder dem humanitären Optimismus eines Bentham, Comte und Mill oder den fernen Abstruktionen von Hegel .... Aber hier liegt mir mehr an unseren wirtschaftlichen und politischen Idealen. Ist in unserer jetzigen Verwirrung aller Ziele genug von dem hellsichtigen öffentlichen Geist geblieben, um das Gleichgewicht der komplizierten Organisation, die unser Leben bedingt, zu erhalten? Der Kommunismus ist durch die Ereignisse in Mißkredit gekommen. Der Sozialismus mit seiner altmodischen Interpretation interessiert die Welt nicht länger. Der Kapitalismus hat sein Selbstvertrauen verloren. Wenn die Menschen nicht durch ein gemeinsames Ziel verbunden oder durch objektive Prinzipien bewegt sind, wird der eine gegen den andern kämpfen, und die ungeregelte Jagd nach individuellem Vorteil mag bald das Ganze zerstören. In der letzten Zeit gab es kein gemeinsames Ziel der Völker und der Klassen mit Ausnahme des Krieges.“

Keynes bekennt, nicht zu wissen, welchen Weg die Menschheit beschreiten könnte, um sich aus dieser Lage zu befreien. Er beschränkt sich darauf, zwei Prinzipien aufzustellen, deren Befolgung für ihn die Vorbedingung jeder Lösung überhaupt bedeutet: der Grundsatz des radikalen Pazifismus, einschließlich des radikalen Freihandels, und der Grundsatz der Geburtenbeschränkung. Ein anderer Weg zur „materiellen Besserung des durchschnittlichen Menschenschicksals" steht nicht offen. Da Keynes, wie es scheint, ohne Ironie dieses Ziel sich unumschränkt zu eigen macht, erweist sich der totgesagte Bentham in England immer noch stärker als er nach Keynes' eigenem Bekenntnis scheinen sollte. Der Geist Hegels ist einem solchen Glauben an den unbedingten Wert des größten Glücks der größten Zahl allerdings sehr fern und fremd.

Es scheint der Glaube des von jeher träumerisch gestimmten Lord Curzon zu sein, daß die Welt in den letzten Jahren beträchtliche Fortschritte in der Richtung nach diesem Ideal hin gemacht hat. Noch in seiner Rede vor dem Aldwych Club am 27. Februar, zeigte er sich über den Zustand Europas sehr beruhigt: im eigenen Lande Zeichen finanzieller und wirtschaftlicher Besserung, große Fortschritte in der Tschecho-Slowakei, in Polen, sogar in Österreich; Unruhe zwar und Unzufriedenheit an vielen Orten, doch nur, weil jetzt endlich die aufgeklärten Völker ihre Geschicke selbst in die Hand genommen hätten... Die „Times" pflichtet ihm nicht bei. In einem durch Festigkeit der Gedankenführung und Urbanität des Stils gleich ausgezeichneten Aufsatz (vom 28. Februar) erinnert sie den Außenminister an die Besetzung des Ruhrgebiets, die nicht eigentlich in die idyllische Zeichnung der europäischen Verhältnisse passe. „Nach vier Jahren Krieg haben wir vier Jahre unsichern Friedens erlebt, und es herrscht das Gefühl — dunkel zwar noch bisher —, daß Europa in eine neue Phase eingetreten ist. Ein neuer Wendepunkt der Geschichte ist da. Viele Grenzsteine scheinen zu verschwinden; es ist eine merkliche Lockerung von Bindungen und Übereinkünften zu spüren, von denen einige als höchstes Gesetz und endgültige Berufungsinstanz über ein weites Gebiet und auf lange Zeiten hin gedacht waren. Abmachungen, in deren Schutz die Welt zu leben versucht hat, sind in Fluß geraten. Der gewöhnliche Mann sieht das und hat es schwer zu entscheiden, ob es zum guten oder schlimmen geht." Was aber nun? Die „Times" gibt keine Antwort darauf. Sie fordert Lösung Englands aus der einseitigen Bindung an die Entente, verwirft eine Politik der Isolierung und verweist auf die Verantwortung, die England als Hauptstadt eines überseeischen Commonwealth of Nations zufällt. Ein Formprinzip für die Gestaltung Europas wird auch hier nicht sichtbar. Stetigkeit, Gleichgewicht, Starrköpfigkeit, wie sie der englischen Nation nach dem Urteil der „Times" in besonderem Maße eigentümlich wären, sind kein Ersatz für die Kräfte des Denkens und Schauens. Sie können eine geordnete Welt sichern; eine sich auflösende müssen sie zum Chaos führen.

Es scheint, daß man in England beginnt, sich in diesem geistig-moralischen Chaos mit Resignation und Gleichmut, Skepsis und Klarheit einzurichten. Der „Spectator", die angesehenste Wochenschrift gemäßigt-konservativer Haltung schreibt (am 17. Februar) in einer Besprechung des Bakerschen Wilsonbuches: „Das Endergebnis aus unserer Lektüre des Bakerschen Buches ist der Schluß, daß die Geschäfte der Welt sehr übel in Versailles geführt wurden. Keine der Hauptpersonen war der übernommenen Aufgabe gewachsen, und am wenigsten, in ihrer besonderen Art, Lloyd George und Präsident Wilson. Wenn sie dümmer gewesen wären, hätten sie wahrscheinlich Besseres vollbracht. Schlimmeres hätten sie kaum zustande bringen können. Der idealistische Teil der Versailler Abmachungen war schwätzerisch, futil, blutarm und schlecht gebaut. Der opportunistische Teil war oft niedrig und grausam. Die Regelung als Ganzes war eine schlammige Mischung von Hochmut und Unwissenheit, Zynismus und Egoismus. Dennoch wäre es töricht, die Sache allzu tragisch zu betrachten. (Von uns gesperrt D. R.) Wir dürfen nie vergessen, daß die Mehrheit der menschlichen Handlungen auf allen Gebieten töricht und belanglos ist ..."

Es muß zugestanden werden, daß der Spectator, mit einer Kraft, die liberalere Organe vermutlich wegen ihres Glaubens an die ausreichende Macht hoher Prinzipien nur selten aufbringen können, während der finstere Realismus jene Geschichtsansicht zu stärkerer Anspannung der eigenen Kräfte anzuspornen scheint, die englische Regierung zu bestimmen versucht, in das Ringen um den Ruhrbezirk einzugreifen, solange es noch nicht zu spät ist: „Wir fühlen uns verpflichtet, die Regierung Mr. Bonar Law anzuflehen (to implore), sich nicht selbst und mit ihnen die Nation durch eine Politik des Nichtstuns zum Ruin zu bringen. Solches Nichtstun muß Frankreich mißleiten und mißleitet es schon zu denken, daß wir fortfahren werden, uns bei seinem Feldzugsplan zu beruhigen, was immer seine Folgen sein werden, und daß wir ihm in der Tat freie Hand gewährt haben . . . Was wird geschehen, wenn eine solche Lage im Rheinland geschaffen ist, daß die Franzosen Zivilisten hängen und erschießen, Städte anzünden und den Verkehr lahmlegen, um „Sabotage" zu verhindern, wie jede Form passiver Resistenz genannt werden wird? Dann wird von allen Klassen Englands verlangt werden, daß den Franzosen Halt geboten und daß England von einem neuen Weltkrieg ferngehalten wird. Dann, aber zu spät, werden wir „schroffe" Noten an Frankreich senden, und ihnen noch schroffere Ultimaten nachschicken. Aber wer kann erwarten, daß Frankreich dann noch Vernunft annehmen wird?"

Die Klarheit, mit der hier die künftigen Dinge gesehen werden, beginnt auch das Bild des Vergangenen aufzuhellen. In einem andern Aufsatz des „Spectator" (vom 10. Februar) unter der Überschrift: „Was hätte sein können und sollen" wird ohne Umschweife ausgesprochen, daß die Entente von Bismarck hätte lernen sollen, wie man Kriegsentschädigungen bemißt und auferlegt. Auch seine Haltung in der Annexionsfrage wird als Muster hingestellt. Von dem Völkerbund aber wird gesagt: man würde mehr erreicht haben, wenn man weniger angestrebt hätte. „Statt uns mit unmöglichen Aspirationen in der Richtung abstrakter Tugenden zu beschäftigen, hätten wir den bescheideneren Grundsatz der Unverletzlichkeit in Friedensvereinbarungen (treaty contracts) annehmen und festhalten sollen".

Diese Worte schließen eines der schmählichsten Kapitel englischer und europäischer Geschichte, sie eröffnen kein neues. Sie stellen nur fest, daß Deutschland zwar den Krieg, England aber den Frieden verloren hat und daß das Opfer seiner besten Jugend schlimmer als vergeblich gewesen ist.

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