Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Wer die Ereignisse der letzten Jahre mit dem ruhigen Blick des Forschers betrachtet, dessen Gedanken ihr Gesetz nicht von Stimmungen erhalten und auch nicht von jener Art von Politik, die sich gerade dann am liebsten hohe Politik nennt, wenn sie den mittleren oder geringfügigen Begabungen anheimfällt, wird zu dem Urteil geneigt sein, daß in der Reparationspolitik der Kriegsgegner von gestern auf allen Seiten schwere Fehler begangen sind, durch Tun, durch Unterlassen, am meisten durch Unfähigkeit, die Dinge zu sehen und nach dem Erkannten zu handeln. Dies gilt für Deutschland wie es für die Länder der Entente gilt. Sie alle hatten Mühe, den neuen Stand der Dinge zu begreifen, wie er sich teils mit, teils ohne ihren Willen nach dem jähen Ende des Weltkrieges herausgebildet hatte. Halb noch im Kriegsund Umsturzfieber, halb noch im Schlaf der Erschöpfung befangen, regten sie sich wirr und dumpf, wiederholten immerfort die starrgewordenen Formeln der amtlichen Propaganda und fühlten erst langsam Vernunft und Wille, Sachverstand und Handlungsbereitschaft wieder Besitz ergreifen an den ungefügen Leitern und erregten Geistern der Nationen. Inzwischen war die europäische Zerrissenheit ins kaum noch Heilbare gesteigert, die Krisis der Wirtschaft aus einem Ereignis zum Zustand geworden, die Verworrenheit der politischen Beziehungen ein genauer Ausdruck der Verworrenheit der Geister.

Für diesen Zustand sind die Staaten nicht gleichmäßig verantwortlich, sondern nach dem Maße ihrer Macht. Taten und Unterlassungen wirken sich in einem um so kleineren Kreis und mit um so geringerer Wucht aus, je schwächer ihr Urheber ist. In der gegenwärtigen Lage ist es Deutschland, das durch dieses Argument entlastet wird. Wenn ein Teil des Auslandes die Hauptschuld an der Zerrüttung der Markwährung dem Reiche selber zuschreibt, so darf es darauf hingewiesen werden, daß jenes Grundgesetz der Staatenführung und Staatenverantwortung selbst in den nackten Zahlen des Marksturzes klar gespiegelt wird: in den sechs bis sieben Jahren vom Kriegsausbruch bis zum Beginn der Reparationszahlungen, in jener Zeit also, wo das Reich nach der Weisung seiner ausländischen Kritiker die Ordnung seiner Finanzen immer wieder hinausschob und auf die unverantwortlichste Weise gewirtschaftet haben soll, ist die Mark, gemessen am Dollar, nur auf ein Fünfzehntel ihres Friedensstandes gesunken; in dem folgenden einen Jahre, wo das Reich seine Finanzen mit gewaltsamen Mitteln auf den Weg zur Sanierung gebracht hat, und diese Sanierung durchgeführt hätte, wenn die Entente nicht durch ihre Reparationspolitik den Anlaß zur völligen Währungszerrüttung gegeben hätte, ist die Mark von einem Fünfzehntel auf ein Hundertfünfzigstel gefallen, in den letzten Monaten seit dem immer deutlicheren Versagen der Entente von einem Hundertfünfzigstel auf weniger als ein Dreitausendstel. Wie immer man die Währungs- und Finanzpolitik des Reichs beurteile: in diesen Zahlen spricht sich deutlich aus, wer die eigentliche Verantwortung für den Gang der Dinge trägt.

Wenn in den Ententeländern einer jener nicht seltenen Schriftsteller aufstünde, die ihre Virtuosität gern darin zeigen, immer das strikte Gegenteil der jeweils herrschenden Meinung mit vielem Geist und einiger Eitelkeit zu zeigen, so wäre es ihm leicht, darzutun, daß die Regierungen dieser Länder seit dem Waffenstillstandsangebot der Reichsregierung schlechthin nichts anderes getan haben als Deutschland die Zahlung von Reparationen unmöglich zu machen. Sie haben den mächtigen Wirtschaftskörper des Reiches zerstückelt und entkräftet, eingeschnürt und überlastet, sie haben die Autorität seiner Regierung unerhöht, die inneren Hemmungen und Reibungen vervielfacht, die Labilität des Reiches aufs wirksamste gefördert. Sie haben dem Reich Staatshoheit und Heeresschutz — untrennbare Dinge —, Land und Leute, Kohle und Kali, Getreide und Kartoffeln, Auslandsgeschäfte und Handelsflotte, Rechte und Guthaben durch das Versailler Schriftstück genommen oder gemindert. Sie haben es mit einer Auslandsschuld belastet, die seinen Kredit zerstört und seine Währung zerrüttet hat, und als ob es damit nicht genug geschehen sei, haben sie endlich drei Jahre nach Friedensschluß die wichtigste Wirtschaftsprovinz Deutschland aus dem Körper des Reiches herausgeschnitten, die Franzosen und Belgier durch Teilnahme an der militärischen Besetzung, Engländer und Italiener durch freundschaftliche Duldung dieses Gewaltaktes. Alles, was Deutschland durch Mängel der Finanz- und Währungspolitik verschuldet haben mag, wiegt federleicht gegen diese Summe von Unsinn und Unrecht, die sich nur dem in Sinn und Recht kehren kann, der die Auflösung des staatlichen Gefüges Deutschlands erstrebt und vor der Umwandlung Europas in eine Verfassung nicht erschrickt, die mit der friedlichen Zivilisation der letzten Jahrhunderte schlechthin nichts mehr gemein hat. Ist dies der Weg unseres Erdteils — und viele Zeichen und Winke deuten dahin — so reißt Frankreich in seinem Willen zum Ende einen Abgrund auf, dem es als erstes zum Opfer fallen muß.

Inzwischen setzt der blut- und bildlose Schemen, der unter dem Namen der Reparationskommission eingesetzt ist, um die Willkür einiger politischer Taktiker mit einem täuschenden Schein von Objektivität zu umgeben, in fruchtloser Kombinatorik seine Beratungen fort: Die nächste Reparationsbarzahlung in Höhe von 500 Mill. M Gold (bei einem Dollarkurs von 12 600 M, nicht weniger als 1500 Milliarden Reichsmark, mehr als der gesamte Notenumlauf der Reichsbank) war am 15. Januar fällig; da über die Gewährung eines Moratoriums und seine Bedingungen kein Einvernehmen erzielt werden konnte, ist die Frist bis zum 31. Januar verlängert worden. Vermutlich geht der Streit um die Art und das Maß der Pfänder, die von dem angeblich rückständigen Schuldner gefordert werden sollen. Weder das englische noch das italienische Mitglied der Kommission waren bereit, das Schriftstück zu unterzeichnen, das Deutschland diese Entscheidung bekannt gibt.

Die Reparationskommission liebt es, die Form ihrer Entscheidungen genau dem Wortlaut des Schriftstückes von Versailles anzupassen; dies mag ihr in Einzelheiten gelingen oder nicht gelingen: sie wird uns aber nicht überreden, daß ihr Bestand und ihr Vorgehen als Ganzes noch den Bedingungen jenes zweifelhaften Friedensschlusses entspricht. Ihr Bestand: denn es sollen nach Paragraph 2 des Anhangs II zum Teil VIII des Vertrags der Kommission angehören Vertreter der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Japans, Belgiens und Serbiens, von denen die ersten vier und Belgien Vorzugsrechte genießen. Seitdem die Vereinigten Staaten, enttäuscht und entmutigt vom Gang der europäischen Angelegenheiten, ihren Vertreter von der Kommission zurückgezogen haben, ist dieser Ausschuß nicht mehr das, was er nach dem Schriftstück von Versailles sein sollte. Es gehört ihm diejenige Macht nicht mehr an, die nicht ohne Grund in jenem Paragraphen an erster Stelle genannt war, da sie kraft ihrer Wirtschaftsmacht und ihrer Uninteressiertheit an den Reparationszahlungen allein in dem engeren Rat der Fünf den Ausschlag hätte geben können. Daß eine so verstümmelte Körperschaft nicht mehr den Versailler Normen entspreche, ist jüngst von Lloyd George auf das entschiedenste ausgesprochen worden. Grund genug für uns, den Bestand der Kommission für nicht im Einklang mit dem Text und Geist des Vertrages stehend zu erklären. „Dies ist nicht der Vertrag, wie ihn Deutschland unterzeichnet hat“, bekennt der Chef der englischen Friedensdelegation.

Eine gleiche Haltung fordert das Verfahren des Ausschusses, der sich die Rechte jener vom Vertrag intendierten Reparationskommission angeeignet hat. Artikel 234 des Teils VIII verpflichtet die Reparationskommission zur periodischen Feststellung der deutschen Leistungsfähigkeit. Dieser Pflicht hat die Kommission (oder vielmehr ihr Scheinbild — denn wir wollen durchaus daran festhalten, daß nach dem Ausscheiden der Vereinigten Staaten keine legitime Reparationskommission besteht) durchaus nicht genügt. Sie ist von Zeit zu Zeit nach Berlin gereist, wenn die Folgen ihrer berühmten Decisionen so verheerend ausgefallen sind, wie die wirklichen Sachverständigen nicht nur Deutschlands vorausgesagt hatten. Aber sie hat den Schaden immer nur mit neuem Schaden gutzumachen versucht. Wenn man sie fragte, nach welchem Prinzip sie die deutsche Leistungsfähigkeit bemesse, so würde sie sehr verlegen sein. Sie hat keine vernunftgerechte Norm der deutschen Zahlungsfähigkeit aufgestellt, sondern verfährt nach Gutdünken, wie gerade die politischen Winde wehen. Sie setzt, gestützt auf Vorkriegsund Nachkriegsstatistiken der fragwürdigsten Art, irgendwelche Summe fest, bestimmt die Zahlungsweise und stellt, wenn Deutschland das Geforderte nicht zu leisten vermag, Erwägungen über einen Zahlungsaufschub und über seine Bedingungen an. Hierin spricht sich eine ungeheuerliche Verkennung der Sachlage aus. Deutschland hat kein Moratorium zu fordern oder zu erhalten, sondern Feststellung des Maßes seiner Zahlungsfähigkeit; es hat also auch keine Bedingungen zuzugestehen, wie sie dem säumigen Schuldner wohl anstehen mögen; es will nicht Schonung, sondern Norm, nicht Aufschub imaginärer Forderungen, sondern Aufrichtung des Rechts, das in den Menschen und Dingen ruht. Niemand scheint darauf zu hören: wie lange noch?

K. S.

Beitrag als PDF

Unter der Rubrik "Historischer Beitrag" dokumentieren wir Beiträge aus den ersten Jahrzehnten des Wirtschafts­dienst seit dem Gründungs­jahr 1916. Das Archiv befindet sich im Aufbau und wird sukzessive mit Beiträgen gefüllt. Die Inhalte sind selbst­verständlich im historischen Kontext zu betrachten und spiegeln nicht heutige Auswahl­entscheidungen der Redaktion wider.

Fachinformationen über EconBiz

EconBiz unterstützt Sie bei der Recherche wirtschaftswissenschaftlicher Fachinformationen.