Der Dawes-Plan ist unter allgemeiner Zustimmung angenommen worden. Ein jeder wußte, daß damit eine Anleihe an Deutschland verbunden war, von der unser Land ein Viertel bis ein Drittel übernehmen sollte. Es war nicht der Zweck dieser Anleihe, uns zu helfen; vielmehr sollte damit ein Anreiz geschaffen werden, um die Annahme des Planes als eines Ganzen durch Frankreich und Deutschland zu sichern. Das Zustandekommen der Anleihe stellt daher für uns eine Art Ehrenverpflichtung dar, und es wäre jetzt viel zu spät, um uns zurückzuziehen mit der Begründung, daß es sich nicht um denjenigen Teil des Planes handelt, der uns unmittelbaren Gewinn verspricht. Es steht vielmehr tatsächlich fest, daß wir uns nicht zurückziehen werden. Die Bank von England wird es übernehmen, den uns angemessenen Anteil an der Anleihe unterzubringen, und die Bank dürfte dieser Aufgabe auch gewachsen sein.
Betrachtet man die Angelegenheit soweit als erledigt, so hindert uns nichts, freimütig die durch den Dawes-Plan sich eröffnenden Aussichten zu besprechen. Ich will im folgenden versuchen, vier oft erhobene Fragen zu beantworten:
1. Ist die Anleihe ein wesentlicher Bestandteil des Sachverständigengutachtens?
Wirtschaftlich und finanziell - nein; politisch und psychologisch - ja. Da man von Deutschland vor Ablauf eines Jahres keinen verfügbaren Einnahmeüberschuß erwarten konnte, ergab sich die unausweichliche Notwendigkeit, den Beginn der Zahlungen um etwa diesen Zeitraum hinauszuschieben. Aber dieser Sachverhalt war für Frankreich nicht annehmbar, und zwar unannehmbar ganz unabhängig von der Höhe des in Frage stehenden Betrages. Großbritannien und die Vereinigten Staaten hielten es daher für angebracht, die erste Rate der Zahlungen auf die eigenen Schultern zu nehmen, um die Zustimmung Frankreichs zu erlangen - insbesondere wenn dies zu Bedingungen geschehen konnte, welche einige Aussicht auf Rückerstattung durch Deutschland in sich schlossen. Das war die eine Hälfte des politischen Argumentes. Die andere ergab sich daraus, daß die öffentliche Meinung Deutschlands Gewicht auf eine auswärtige Anleihe legte, unabhängig von der Höhe des erlangten Betrages. Es ist sehr merkwürdig, daß sowohl die deutsche wie die französische öffentliche Meinung bestimmt wird durch die Erwartung einer Anleihe, die nicht mehr ausmacht als die Zahlungsverpflichtung Deutschlands in den ersten acht Monaten nach dem Inkrafttreten des Planes (bis zum nächsten Juli wird Deutschland den Alliierten den Gegenwert der gesamten Anleihe wieder zurückerstattet haben, und zwar einer Anleihe, die ihm nicht vor Ende Oktober zur Verfügung stehen wird) und auch nicht mehr als die Viermonatsrate im ersten Normaljahr des Planes. Aber Rechnen ist niemals die Stärke der Menge gewesen. Seit Jahren hat man von der großen internationalen Anleihe gesprochen. Sie ist einer jener Punkte, über den sich Frankreich und Deutschland stets einig waren, darüber nämlich, daß wenigstens für den Anfang die Reparationsrechnung durch Großbritannien und die Vereinigten Staaten beglichen werden sollte. Die Tatsache eines leichten Zugeständnisses in dieser Richtung hatte daher sowohl in Frankreich wie in Deutschland einen entscheidenden psychologischen Einfluß.
2. Wird die Anleihe unmittelbar und nachhaltig Deutschlands Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt stärken?
Ich bin nicht dieser Ansicht. Die Wirkungen der Anleihe werden stark überschätzt und zwar sowohl von denen, welche glauben, daß die Anleihe Europa und damit auch uns stärkt, als auch von denen, die glauben, daß die Anleihe Europa stärkt, aber uns schwächt. Der Betrag, den die Anleihe Deutschland zu freier Verfügung stellt, ist gering im Verhältnis zu seinem Bedarf an Betriebskapital. Er ist vermutlich unbedeutender als jene Summen, die bereits in der jüngsten Vergangenheit unter dem Anreiz hoher Zinssätze in Deutschland angelegt worden sind. Wir können auch nicht erwarten, daß hierdurch der Weg für die Gewährung größerer privater Kredite an Deutschland zu normalen Zinssätzen freigemacht wird. Erwägungen, wie wir sie weiter unten betrachten werden, werden auch ferner Ausländer davon abhalten, Kreditgewährung an Deutschland als etwas anderes als ein Spekulationsgeschäft anzusehen – das heißt, verbunden mit dem Wissen um ein Risiko und der Erwartung eines dementsprechend hohen Gewinnes.
Die Geringfügigkeit der Summe, die durch die Anleihe zu Deutschlands freier Verfügung gestellt wird, beruht auf einem oft übersehenen Tatbestande. Die neue Staatsbank, die Deutschland gemäß dem Dawes-Plan zu errichten hat, muß in Gold oder fremden Devisen einen Betrag festlegen, der 33 % der Notenausgabe und 12 % der Depositen entspricht. Die bereits vorhandenen Goldreserven der Institute, aus denen die neue Bank hervorgehen soll, sind beträchtlich geringer als der Betrag, der erforderlich sein wird, um den bestehenden Notenumlauf und die vorhandenen Depositen zu decken. Es kommt aber noch hinzu, daß diese Summen erheblich geringer sind als Notenausgabe und Depositen, die Deutschland unter normalen Bedingungen brauchen wird. Es dürfte schwierig sein, den Notenumlauf und die vermutliche Höhe der Depositen der neuen Bank im voraus zu bestimmen. Nach meiner ungefähren Schätzung würde etwa ein Drittel der Anleihe in Form von Depositen in ausländischen Banken verbleiben müssen, um die Höhe der Reserven in Übereinstimmung mit den bestehenden Bestimmungen zu bringen1. Aber mehr als der volle Betrag würde benötigt werden, sobald die deutschen Wirtschaftsbedingungen wieder normal sein werden. Der Dawes-Ausschuß selbst schien der Ansicht gewesen zu sein, daß der Hauptteil, wenn nicht die ganze Anleihe, derart verwandt werden sollte; d. h. ihrer Meinung nach sollten nicht Importe finanziert werden, sondern eine die Öffentlichkeit befriedigende Grundlage für die Vermehrung der binnenländischen Notenzirkulation geschaffen werden. In der Praxis wird vermutlich mindestens die Hälfte der Anleihe im Auslande zurückbehalten werden müssen, um Spielraum für eine plötzliche Ausweitung des Notenumlaufs und der Depositen zu schaffen.
Hierdurch wird ein beträchtlicher Teil der von Deutschland in New York und London geborgten Summen niemals diese Plätze verlassen, sondern dort deponiert bleiben. Mit andern Worten, Deutschland wird von uns2 Geld zu etwa 8 % borgen und wird uns gleichzeitig die Hälfte dieses zu etwa 2 % wiederleihen. Es ist nicht ersichtlich, wieso dieses Geschäft uns ruinieren sollte oder in ungeahnter Weise die Kaufkraft Deutschlands für Baumwolle, Kupfer und ähnliches befruchten würde.
Ein wichtiger Tatbestand bleibt noch zu erwähnen. Es soll der neuen Bank gestattet sein, unter der Voraussetzung der Einstimmigkeit der Mitglieder des Verwaltungsrates, die Reserven von der vorgeschriebenen Höhe absinken zu lassen, wenn gleichzeitig eine Notensteuer gezahlt und der Diskontsatz hochgehalten wird. Bei einem Diskontsatz von 10 % beispielsweise ist die Bank zu einer Herabsetzung ihrer Reserven in der Lage, welche nach dem Dawes-Plan einer Verminderung der Notenrücklagen von 33 auf 23 % entspricht. Es ist möglich, daß tatsächlich etwas derartiges geschieht, denn 10 % ist der zurzeit in Deutschland gültige Diskontsatz. Trotzdem vermag die Anleihe im Ganzen die in Deutschland herrschende Geldknappheit nicht wesentlich zu lockern, denn nur unter der Voraussetzung einer Andauer dieser Verknappung kann der größere Teil von ihr verwandt werden. Die derart bedingte Festlegung der in Deutschland sehr knappen liquiden Reserven ist ein Fehler des Dawes-Planes.3
3. Ist die Anleihe eine befriedigende Anlage?
Die Beantwortung dieser Frage ist vor Veröffentlichung der Anleihebedingungen schwierig. Wir können jedoch annehmen, daß sie hinsichtlich der Verzinsung großzügig sein werden; denn dadurch entstehen ja Deutschland keine Kosten (die Verzinsung der Anleihe geht bekanntlich zu Lasten der deutschen Jahreszahlungen). Die Anleihe wird daher wahrscheinlich eine im Verhältnis zu den anderen auswärtigen Regierungen gewährten Anleihen günstige Verzinsung aufzuweisen haben.
Ist die Anleihe gut gesichert? Falls der Anleihedienst allen anderen deutschen Zahlungsverpflichtungen, sowohl Barzahlungen wie Sachlieferungen, vorangeht, liegt seine Erfüllung durchaus im Rahmen der deutschen Leistungsfähigkeit. Es bestehen in diesem Falle keinerlei Bedenken, abgesehen von dem unberechenbaren „politischen“ Risiko, das meiner Meinung nach allen fremden Regierungen gewährten Darlehen anhaftet. Trifft diese Auslegung zu, so geht die Anleihe faktisch zu Lasten der alliierten Regierungen, die Sachlieferungen erhalten; denn in dem nicht unwahrscheinlichen Fall, daß der Transfer-Ausschuß sich zu Barüberweisungen außerstande sieht, so sind diejenigen Länder, welche Sachlieferungen empfangen haben, zu Barrückzahlungen an die Anleihebesitzer verpflichtet.
Falls jedoch der Anleihedienst nur an erster Stelle der Barüberweisungen steht, die der Transfer-Ausschuß über die Sachlieferungen hinaus vorzunehmen vermag, und wenn diese Lieferungen alles in allem sich auf 40 bis 50 Mill. jährlich belaufen, dann ist die Anleihe nicht gut gesichert. Über diesen wichtigen Punkt schweigt sich der Dawes-Bericht aus.
4. Bedeutet der „Dawes-Plan“ eine Lösung des Reparationsproblems?
Das Wort „Dawes-Plan“ ist zur Zauberformel im geschlossenen Bannkreis geworden. Die politische Lösung hing von dem schweigenden Übereinkommen ab, nicht über den Tag hinauszuschauen oder vorlaute Fragen zu stellen. Fast jedermann ist diesem Übereinkommen stillschweigend beigetreten, da niemand den Diplomaten einen anderen gangbaren, nächsten Schritt vorzuschlagen vermochte. Diejenigen aber, die meinen, daß der Dawes-Plan ausführbar ist oder das Problem löst, täuschen sich.
Es waren und bleiben folgende zwei Argumente, die für die Annahme des Dawes-Planes als nächsten Schritt sprachen:
1. Unter seinem Schutze waren die Franzosen zur Ruhrräumung zu bewegen;
2. Seine Verfasser haben den Versuch gemacht, so zu arbeiten, daß im Lauf der Zeit aus dem Plan selbst die Unmöglichkeit seiner Ausführung hervorgehen wird.
Aber damit sind wir von einer Genesung von der Reparationskrankheit noch weit entfernt. Er gewährt uns nur eine kurze Atempause, denn als ein Zugeständnis an politische Schwierigkeiten hat der Dawes-Ausschuß seinem Plane zwei verhängnisvolle Fehler eingefügt. Zunächst, trotz der Anleihe, gewährt er Deutschland nicht den benötigten Zahlungsaufschub. Deutschlands wirtschaftliche Schwäche ist heute beinahe auf eine einzige Ursache zurückzuführen, nämlich der Erschöpfung seines verfügbaren Betriebskapitals. Der Ablauf der Ereignisse in und nach dem Kriege hat diesen Produktionsfaktor auf einen Stand herabgedrückt, der jenseits des benötigten Minimums liegt; das sind schätzungsweise 500 Mill. £. Es ist unmöglich, diesen Mangel zur Hauptsache durch ausländische Kredite auszugleichen. Das Ausland vermag etwa ein Viertel des Betrages nach und nach zu decken, falls wucherische Zinssätze, d. h. Sätze zwischen 10 und 20 % je Jahr, gewährt werden, deren Zahlung eine schwere Last in sich birgt. Ausländer werden keine großen Summen in Deutschland zu normalen Zinssätzen anlegen, solange der Dawes-Plan auf ihm lastet. Daher kann der Mangel vornehmlich nur dadurch behoben werden, daß es Deutschland für einen gewissen Zeitabschnitt gestattet wird, eigene jährliche Ersparnisse auf Zinseszins anzulegen. Doch das verträgt sich nicht mit den Vorkehrungen für die jährlichen Aderlässe. Die Dawes-Experten hätten der Wiederauffüllung des deutschen Betriebskapitals größere Aufmerksamkeit zuwenden sollen. Viele Engländer befürchten, daß der Dawes-Plan die britische Industrie bedrohe, da Deutschland, dessen wirtschaftliches System dem Druck fremder Fronvögte ausgeliefert ist, unsere Märkte mit den Früchten unter Hungerlöhnen hergestellten Arbeiten überfluten wird. Kurzum, sie nehmen an, daß der Plan funktioniere. Aber sie brauchen sich nicht zu ängstigen. Der Plan wird nie ganz wirksam werden, und insoweit er zeitweilig zur Ausführung gelangt, wird er tatsächlich die Wiederherstellung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit behindern. Wenn ich das sage, so entferne ich mich damit nicht von der Ansicht derjenigen, die behaupten, daß ein gewaltsam zu einem mit dem unsrigen konkurrierenden Export angetriebenes Deutschland, und zwar unter Bedingungen, die für unsere Arbeiter nicht erträglich sein würden, unseren Interessen widerspricht. Andererseits glaube ich, daß die Wiederherstellung normalen wirtschaftlichen Gedeihens in Deutschland für uns ein Nachteil wäre.
Hierzu kommt noch, daß der Dawes-Plan ein System darstellt, welches mit der Zivilisation und der menschlichen Natur unvereinbar ist. Durch dieses System wird über die Banken, den Verkehr und die Staatsfinanzen Deutschlands eine Kontrolle verhängt, deren Aufgabe es ist, aus dem deutschen Volk das Letzte herauszupressen. Unter solchen Umständen wird jeder gute Deutsche es von nun an als seine vornehmste Pflicht ansehen, sein Möglichstes zu tun, um dieses System in Verwirrung und zu einem Abschluß zu bringen. Und wenn durch ein Wunder das System dennoch funktionieren würde, würde es nicht lange dauern, bis die Mehrzahl der Engländer, aus verschiedenen Gründen, den gleichen Wunsch hätten.
Von Deutschland werden niemals Reparationen zu erlangen sein, außer jenen bescheidenen Summen, die es zu tragen vermag und die es freiwillig zahlen will. Der Dawes-Plan erhebt den Anspruch, mehr als dieses zu versuchen, und daran wird er scheitern. Meiner Ansicht nach haben die Verfasser des Dawes-Plans nicht deshalb die fremde Kontrolle und die Technik des Plans ersonnen, um einen Druck auszuüben, sondern um für den Fall eines Versagens den Beweis zu liefern, daß jede nur denkbare Sicherung getroffen war und daß der Zusammenbruch daher nur auf die Unmöglichkeit zurückzuführen sei, die in der gestellten Aufgabe beschlossen lag.
- 1 Dabei ist der Rückkauf der Dollarschabanweisungen im April 1926 nicht berücksichtigt, für die ein Teil des Reichsbankgeldes verpfändet wurde.
- 2 Ich schreibe uns, aber vielleicht sollte ich dafür Vereinigte Staaten setzen. Denn es scheint mir zweifelhaft, daß man von englischen Banken Zinszahlungen auf kurzfristige Depositen erwarten kann, die in Gold, d. h. Dollar, zurückzahlbar sind. So würde der Hauptteil der deutschen Reserven als New Yorker tägliches Geld Verwendung finden.
- 3 Der Bankteil des Dawes-Plans ist technisch viel schwächer als der übrige Teil, und ich befinde mich in voller Übereinstimmung mit den betreffenden deutschen Sachkennern, die die technische Schwäche hervorgehoben haben, besonders Kurt Singer und Dr. Hahn.