Die Statistik der britischen Wahlen kann man in runden Ziffern unter Vergleichung mit dem Vorjahre auf folgende kurze Formel bringen:
1. Die Zahl der Wahlberechtigten war gegen das Vorjahr um 800 000 größer.
2. Die Zahl der tatsächlich Wählenden war um 2 Mill. größer als letztes Jahr.
3. Die Konservativen erzielten 2 Mill. mehr, die Arbeiterpartei 1 Mill. mehr und die Liberalen 1 Mill. weniger (unter Berücksichtigung der Wahlkreise, in denen dieses Mal keine liberalen Kandidaten aufgestellt waren).
4. Das heißt, von den 3 Mill. Neuwählern und liberalen Abtrünnigen eroberten die Konservativen zwei Drittel und die Arbeiterpartei ein Drittel.
Wie bei unserm gegenwärtigen Wahlsystem üblich, steht die politische Machtverschiebung in keinem Verhältnis zu der Verschiebung der Stimmen. Von den 20 Mill. Wählern entscheiden 2 Mill. über die Regierung des Landes. Wenn man stark verallgemeinert, so sind 70 % der Wähler unwandelbare Parteileute, von denen man annehmen kann, daß sie geradenwegs der gleichen Partei ihre Stimme geben. Die Aufteilung dieser 70 % unter die verschiedenen Parteien ändert sich nur sehr allmählich; zurzeit sind etwa 28 % konservativ, 14 % liberal und 28 % Arbeiterpartei. Von den verbleibenden 30 % enthalten sich nahezu 20 % der Stimme, so daß 10 % Unentschlossene übrig bleiben, die den Ausschlag geben. Dies wird manchmal auch von den besten politischen Taktikern vergessen. Sie wenden den Parteihörigen eine zu große Aufmerksamkeit zu und beachten zu wenig die „freien Männer“, jene unvoreingenommenen, unabhängigen Parteilosen, die ihr Haupt hoch erhoben tragen und uns zu regieren geruhen, indem sie es ein wenig zur Rechten oder Linken neigen.
Nun ist es unwahrscheinlich, daß die parlamentarische Mindestvertretung der Arbeiterpartei jemals erheblich unter ihre gegenwärtige Stärke, d.h. ein Viertel des Unterhauses, fallen wird, da sich die Stärke der Arbeiterpartei in gewissen Landesteilen konzentriert. Mehr im Gegensatz zu den Liberalen, die sich gleichmäßiger über das ganze Land verteilen. Andererseits aber ist es aus dem gleichen Grunde für die Arbeiterpartei sehr viel schwieriger, eine absolute Mehrheit im Unterhause zu erhalten. Wenn zum Beispiel jeder einzelne Wähler im Lande, der vorige Woche für die Liberalen gestimmt hatte, für die Arbeiterpartei gestimmt hätte, so würden die Konservativen immer noch eine bequem arbeitsfähige Mehrheit von mehr als 50 Sitzen erhalten haben.
Um also eine unabhängige Mehrheit zu erlangen, müßte die Arbeiterpartei nicht nur alle liberalen Stimmen, sondern auch diejenigen aller Unentschlossenen gewinnen. Da jedoch, falls die liberale Partei auseinanderfiele, ein beträchtlicher Teil von ihr zu den Konservativen stoßen würde, so würden diese in vielen Teilen des Landes unbesiegbar werden.
Welche praktischen Schlußfolgerungen können wir aus dieser Untersuchung ziehen?
Erstens, wenn die liberale Partei auch nicht erwarten kann, in Zukunft eine unabhängige Mehrheit im Unterhause zu erlangen, so verfügt sie dennoch über eine Ausgleichskraft, von der wir annehmen können, daß sie in einer von zwei Wahlen den Ausschlag gibt.
Zweitens, es würde außerordentlicher Umstände bedürfen, um der Arbeiterpartei eine absolute Mehrheit zu verschaffen, wie etwa das Zusammenfallen einer mehrjährigen Tory-Mißregierung mit sinkender Lebenshaltung für die breite Masse der Arbeiter. Gewisse Teile der Arbeiterpartei würden es vorziehen, so lange in der Wüste zu bleiben, um auf diese besonderen Umstände zu warten. Möglich, daß eines Tages eine unheilvolle wirtschaftliche Lage ihnen eine kurze Gelegenheit gäbe, einige radikale Experimente auszuprobieren. Auf der andern Seite aber sind weite Kreise der Arbeiterpartei fähig einzusehen, daß sozialer Fortschritt nur das Ergebnis klaren Denkens und kühlen Handelns sein kann und daß die lärmende Ausbeutung zeitweiliger Notstände jedem Reformversuch nur geringe Aussichten auf Erfolg verbürgt. Neue soziale Versuche haben nur dann eine billige Gelegenheit, ihren Wert zu erweisen, wenn sie in Zeiten normaler Wohlfahrt eingeführt werden.
Damit komme ich zu meiner dritten Schlußfolgerung. Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir für eine Reihe von Jahren eine fortschrittliche Regierung der Linken im Amt sehen werden, die fähig zu wirksamer Gesetzgebung ist – es sei denn, daß Radikale und Arbeiterparteiler es aufgeben, einander bis aufs Messer zu bekämpfen und sich von Zeit zu Zeit zu gemeinsamem Vorgehen einigen, um praktische Maßnahmen, in denen sie übereinstimmen, durchzuführen. Wahrscheinlich sind nicht mehr als 10 % der britischen Wählerschaft radikal gesinnt. Ihre Denkweise, ihr Fühlen und teilweise auch ihre Klassengesinnung unterscheiden sie von denen der typischen Labouranhänger. Ihr eigentlicher Platz ist jenseits der Labourpartei. Sie bilden einen Zellkern, um den sich von Zeit zu Zeit eine beträchtliche Schar von Wählern sammeln wird. Es wird keine wichtige Reform jemals in Großbritannien durchgeführt werden ohne ihre geistige, moralische und zahlenmäßige Unterstützung.