Seitdem an dieser Stelle die Erörterung über die Ursachen der weltwirtschaftlichen Stockung aufgenommen worden ist1 , hat sich der Gegenstand als in so vielen Schichten aufgebaut und von so vielen Seiten her bedingt gezeigt, daß der Laie verwundert fragen mag, ob überhaupt ein einheitliches Phänomen vorliegt oder ob nur die Nationalökonomie wieder einmal versagt. Es scheint eine angeborene Neigung des Menschen zu sein, die schöne und verwirrende Vielfalt der Erscheinungen durch falsche Fragestellungen, vorschnelle Verallgemeinerungen und gefühlsmäßige Vorentscheidungen sich vom Leibe zu halten. Das Kind nennt anfangs alle fremden Männer Onkel, und fragt vor jeder überraschenden Erscheinung: „Wer hat das gemacht?“ Älter geworden sucht es für jede Störung irgendeinen Teufel als Urheber. Die Nationalökonomie erwächst langsam zur Wissenschaft, indem sie diese kindlichen Hänge überwindet. Es besteht nicht die geringste Vermutung dafür, daß die Wahrheit über die gegenwärtige Wirtschaftslage weniger verwickelt sein kann als das Ergebnis irgendeiner astronomischen oder elektrodynamischen oder biologischen Forschung. Die Zeit der populär zu machenden Prinzipien und der wissenschaftlich zu begründenden Schlagworte ist ein für allemal vorbei – mögen sie Freihandel oder Schutzzoll, Liberalismus oder Sozialismus heißen. „Der dringlichste Abbau in Deutschland ist der Abbau der Parolen“, bemerkt eine soeben erschienene Schrift2 mit Recht. Entscheidungen sind freilich zu fällen – von größerer Wucht und Härte als vielleicht von irgendeiner früheren Generation. Aber diese Entscheidungen können nicht jener Linie des geringsten Denkwiderstandes folgen, die durch die Alternative zweier „Ismen“ bestimmt ist. Hierdurch wird freilich das Geschäft manches Parteipolitikers erschwert und mancher baccalaureushafte Wahn zerstört: was aber wäre in unserer Lage wünschenswerter?
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Es war nicht zu hoffen, daß in einer zwölfmonatigen Diskussion die Übereinstimmung aller zuständigen Forscher über das vielerdrige Geflecht der Kräfte und der Bedingungen erzielt werden könnte, die für die gegenwärtigen Störungen im weltwirtschaftlichen Bereich verantwortlich sind. Wohl aber scheint ein leidliches Maß von Übereinstimmung in einigen wesentlichen Punkten erreicht oder fast erreicht zu sein:
1. Die Stockung, die seit Ende 1930 sämtliche Volkswirtschaften ergriffen hat, geht von einer Vielzahl von Störungsherden aus, die zum Teil unabhängig voneinander entstanden sind und die zum Teil wirksam bleiben werden, auch wenn ein anderer Teil ausgelöscht worden ist – um nur die wichtigsten zu nennen: die technische Revolutionierung der überseeischen Landwirtschaft, die Überzüchtung gewisser Industrien im Gefolge des Krieges, die zollpolitische Zerschlagung großer Märkte, die Steigerung nationalwirtschaftlicher Tendenzen, die Überbürdung einzelner Volkswirtschaften mit festen Lasten, Steuern, Leihzinsen und starr gewordenen Löhnen, die Störung der Kapitalmärkte durch finanzielle Tribute kapitalarmer an kapitalreiche Länder, die Unstetigkeit der weltwirtschaftlichen Kapitalversorgung überhaupt, die Ungleichmäßigkeit der Verteilung der Goldbestände, die veränderte Zusammensetzung der Bevölkerungen, die Andauer eines hohen Maßes politischer Unruhe, das Neben- und Gegeneinander früh- und spätkapitalistischer, bäuerlicher und frühsozialistischer Wirtschaftsformen in einem Neben- und Gegeneinander, das jedes gestaltenden Prinzips geistiger, politischer oder wirtschaftlicher Sphäre entbehrt.
2. In keinem Lande, außer vielleicht in den Vereinigten Staaten, liegt eine typische Stockung im Rahmen einer der wirtschaftlichen Wechsellagen der Vorkriegszeit vor. Wohl aber haben die depressiven Dispositionen der englischen, der deutschen und gewisser überseeischer Volkswirtschaften erst mit dem Abbruch der amerikanischen Hochkonjunktur sich kritisch verschärft; beide Faktoren haben zusammengewirkt, den Rest der Volkswirtschaften in die Stockung mit hineinzureißen. Andererseits ist die amerikanische Stockung schon dadurch vertieft worden, daß die Übersteigerung der letzten Phase des nordamerikanischen Aufschwungs zu starker Einschränkung der Kapitalausfuhr und damit zur Erschütterung der prekären Kapitalgrundlage der auf jene Kapitalströme angewiesenen Volkswirtschaften geführt hatte. Die Schwierigkeiten dieser Länder werden seit dem Beginn der amerikanischen Stockung kritisch verschärft durch die starke Einschränkung der amerikanischen Rohstoffeinfuhr, und diese Schwierigkeiten wirken sowohl auf die Vereinigten Staaten wie auf die europäischen Exportindustrieländer zurück. An Stelle einer echten Weltwirtschaft besteht ein System von einander induzierenden und sich kumulierenden Wirtschaftsstörungen.
3. Die gegenwärtige Lage erinnert in vielen Beziehungen an die langdauernden Stockungsperioden nach den napoleonischen und nach den Einigungskriegen des 19. Jahrhunderts. Nicht zufällig, denn es ist leicht, auch ihre wichtigsten Ursachen auf Folgen der Kriegswirtschaft, Auswirkungen der Friedensschlüsse und auf die Fortdauer latenter Kriegszustände zurückzuführen. In der Eigenart dieser politischen Faktoren und ihrer wirtschaftlichen Folgeerscheinungen ist das Moment zu suchen, das die verschiedenen Krisenursachen synchronisiert – abgesehen davon, daß schwere Störungen eines Gliedes einer Marktwirtschaft infolge der bedingten Solidarität von Käufer und Verkäufer auf die übrigen Glieder überzugreifen pflegen ... nach einiger Zeit, denn auch jene Solidarität wirkt sich nur „in the long run“ aus. Verwunderlich ist daher nicht das Eintreten der Stockung und die Entstehung einer Arbeitslosigkeit ohne Präzedenzfall, sondern die Hinauszögerung dieser Ereignisse um etwa ein Jahrzehnt.
4. Monetären Faktoren wird von den meisten Forschern nur ein geringfügiger Anteil an der Heraufführung der gegenwärtigen Störungen zugeschrieben. Sie mögen die Spannungen vergrößert haben, aber sie können nicht als eine Hauptursache der Stockung betrachtet werden. Doch wird viel Hoffnung auf eine engere Zusammenarbeit der Notenbanken, auf die Befreiung der Währungen von den gestörten Automatismen des Goldmarktes und auf die Ausbildung von Normen vernünftiger Geldschöpfung gesetzt.
5. Erklärungen der Arbeitslosigkeit aus dem Unterverbrauch der Massen kommen noch vor, werden aber im Bereich der Fachwissenschaft immer seltener. Dagegen wächst die Überzeugung, auch unter sozialistischen Schriftstellern, daß der technische Fortschritt nicht mit einer Freisetzung immer größerer Arbeiterheere durch die Maschinen enden müsse3. Mit diesem Zugeständnis ist die Krisentheorie des Sozialismus aufgegeben, wenn man sie im Sinne der früheren als eine Lehre von der notwendigen Entstehung immer schwererer Störungen auffaßt, die aus der Eigenart der kapitalistischen Wirtschaftsweise folgen und schließlich in ihrem Rahmen nicht mehr zu beheben wären. Die faktische Entstehung der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit aus der Verdrängung der Arbeiter durch die sogenannte Rationalisierung wird von sozialistischer Seite allerdings noch häufig behauptet4. Der Beweis wird so lange nicht zu erbringen sein, als nicht der Einwand entkräftet werden kann, die verstärkte Maschinenanwendung sei erst die Folge des relativ hohen Lohnstandes. Im übrigen wird für die Vereinigten Staaten von einem ausgezeichneten Kenner des Landes die Freisetzung industrieller Arbeiter durch die technischen Änderungen der letzten Jahre bestritten5. Für Deutschland hat Eduard Heimann selber darauf hingewiesen, daß in den kritischen Jahren 1927 bis 1929 der Anteil der Lohnarbeiterschaft an der Einkommenssumme nach den verfügbaren Aufstellungen sich unverändert gehalten hat. Er nimmt allerdings an, daß der faktische Anteil der Unternehmereinkommen in diesen Jahren stärker gewachsen sei, als aus jenen Aufstellungen hervorgehe, die auf die Steuerstatistik zurückgehen; denn in Zeiten rückgängiger Konjunktur würden mehr Steuern hinterzogen als in Aufschwungzeiten. Über diese Hypothese hätten sich geschäftliche Sachverständige zu äußern. Einstweilen scheint mir ihre Gültigkeit durchaus fraglich. Im übrigen wäre in Zeiten starker Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite auch Schwarzarbeit zu berücksichtigen.
In keinem Fall erklärt sich die ungeheure Verstärkung der Arbeitslosigkeit seit der Jahreswende 1929/30 aus der kumulierten Wirkung der Arbeitslosigkeit, die aus dem Vollzug der „Rationalisierung“ in den voraufgehenden Jahren stammt, und der Arbeitslosigkeit, die aus der Tatsache der technischen Vollendung dieses Rationalisierungsprozesses selber herrühren soll. Denn die Rationalisierung ist nicht ein einmaliger Vorgang, ein „Nachholen“ der industriellen Fortschritte des Auslandes, die dort während der Kriegs- und der ersten Nachkriegsjahre gemacht worden seien, während sich die inflationsberauschte deutsche Industrie in unverständlicher Rückständigkeit so lange gefallen habe, bis eine zweite Entdeckung der Vereinigten Staaten sie aus ihrem archaischen Idyll gerissen habe. Der technische Fortschritt ist stetig am Werk, und was die Durchführung seiner Planungen stört, ist im wesentlichen die Teuerkeit und Unstetigkeit des Kapitalstromes; von der Unsicherheit der politisch-sozialen Verhältnisse zu schweigen, die gegenwärtig die Planung von großen Unternehmungen auf lange Sicht hemmt. Es ist daran zu erinnern, daß kein anderer als Dr. Silverberg in einem vor einigen Monaten in Hamburg gehaltenen Vortrag die Wissenschaft freundlich bat, einige Zeit lang „kurz zu treten“ – weil das Kapital zur Realisierung der technischen Fortschritte nicht ausreiche. Dies wird von mehr als einer wichtigen Industrie und von allen Ländern gelten, vielleicht selbst von den Vereinigten Staaten und England, sicherlich für Deutschland. Wir sind nicht in der Stockung, weil die Rationalisierung beendet ist, sondern wir haben die Anwendung der kapitalintensiven Methoden der Rationalisierung unterbrechen müssen, weil die kapitalmäßigen Grundlagen zur Durchhaltung des Aufschwungs nicht vorhanden waren und weil die politisch-wirtschaftliche Gesamtlage das Aufkommen eines ausdehnungskräftigen Unternehmungswillens hindert.
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Ist dies die Endkrisis des Kapitalismus, von der Sozialisten seit je träumen und weissagen? Mehr als ein Viertel der industriellen Arbeiterschaft unbeschäftigt oder teilbeschäftigt, ein Drittel und mehr der industriellen Anlagen unausgenutzt, die Vorräte an Nahrungsmitteln und Rohstoffen anschwellend, und kein Zeichen, das das Ende dieses absurden Zustandes ankündigte – dies erscheint den Kritikern unserer Wirtschaftsordnung als „empörender Widersinn, der jedem menschlichen Verstand und jeder planenden Vernunft ins Gesicht schlägt“, aber zugleich als „Lebensgesetz der kapitalistischen Produktion“6. Nachdem nun aber eingesehen ist, daß diese kapitalistische Wirtschaftsweise an sich durchaus befähigt wäre, mit solchen quasiperiodisch wiederkehrenden Paradoxien fertig zu werden, wenn man nur den Strukturgesetzen dieser Wirtschaftsordnung folgt – muß sich die Hoffnung auf ein bevorstehendes Ende des Kapitalismus einer anderen Begründung bedienen. Diese neue Begründung ist, erinnert man sich der landesüblichen Verurteilungen des Kapitalismus als eines in sich völlig widerspruchsvollen und untergangsreifen Systems, von einer gewissen erfrischenden Kühnheit: es wird dem in Kraft stehenden Wirtschaftssystem nicht mehr vorgeworfen, daß es Kapitalismus oder gar harter Kapitalismus, sondern daß es überhaupt nicht mehr echter und energischer Kapitalismus sei – und daß es eben deshalb auch unfähig sein müsse, die Verwirrungen der gegenwärtigen Lage zu beheben. Der Kapitalismus der Gegenwart habe Wagemut und Anpassungskraft verloren, er schütze sich vor der scharfen Luft des freien Marktes, verschanze sich hinter hohen Mauern von Zöllen und Kartellen, vorwiegend auf Rentensicherung bedacht, ohne Willen zu radikaler Auslese und also auch ohne Mut zum ehrlichen Austrag der Krisis. Die Krisis sei zu überwinden, wenn man alle diese Selbstfesselungen der Unternehmungen löse, den Preis in seine Funktion als Regulator der Wirtschaftslage einsetze und entschlossen alle nötigen Folgerungen aus den Fehlinvestitionen der letzten Jahre ziehe: radikale Abschreibungen, wenn nötig Dividendenausfälle und Notleidendwerden von Obligationen. Die Forderung des Tages sei Wiederherstellung der richtigen Preisrelationen durch Auflösung von Monopolstellungen.
Für diese neue Schule von Sozialisten gibt es also etwas Schlimmeres als den Kapitalismus, der doch bisher als Ausbund aller wirtschaftlichen Unvernunft und jeder sozialen Schädlichkeit galt. Der neue Teufel ist auf den Namen „Monopolismus“ getauft. Es wird ihm nicht nur die Schuld an dem trostlosen Verharren in der Stockung zugeschrieben, sondern auch die Schuld an dem Abbruch des Aufschwungs. Der Monopolismus hat die Preise der inländischen Grundstoffe überhöht und dadurch die Konsumgüterindustrie zum Erliegen gebracht7; er ist für die Überproduktion zollgeschützter und valorisierter Nahrungsmittel und Rohstoffe verantwortlich; er ist es, der durch seine Neigung zur Verringerung des Umsatzes zwecks Hochhaltung der Preise es bewirkt hat, daß die durch die Maschine freigesetzten Arbeiter an anderer Stelle der Wirtschaft wieder eingestellt werden konnten. Eben diese Neigung muß es auch verhindern, daß die Kräfte der Selbstheilung über die Krisis Herr werden können8.
An dieser Stelle des Gedankenganges gabeln sich die Wege: die einen schließen mit Emil Lederer, daß jetzt die „planmäßige Ordnung der gesellschaftlichen Produktivkräfte unvermeidbar“ geworden sei; die anderen fordern mit Adolf Löwe die Sozialisten zur Abkehr von der bisher geübten Förderung und Duldung der angeblich gemeinwirtschaftlichen Bindungen und Gebilde auf: entschiedener Freihandel und radikaler Konkurrenzkampf, kurz: Befehdung des „Monopolismus in jeder Form“ sei die einzige Möglichkeit, unsere Welt vor dem Einbruch des Chaos zu retten – denn diese zweite Richtung schätzt die „organisatorischen, vor allem aber die außen- und innenpolitischen Schwierigkeiten einer planwirtschaftlichen Ordnung so hoch ein, daß sie auch hier mit der Möglichkeit eines Versagens rechnet, das nicht weniger gefährlich sei als die Fortdauer des Monopolismus“.
Von diesen beiden Richtungen scheint die zweite sehr viel weniger radikal als die erste. Sie verlangt, wie es scheint, nicht Umbau von Grund auf, sondern Abstellung von Mißbräuchen im Rahmen des Bestehenden. Auf weite Strecken hin geht sie mit Forderungen breiter Schichten von Handel und Industrie parallel, und niemand wird ihnen feind sein, wenn sie sich gegen übermäßige Monopolgewinne, unsinnige Industriezüchtung und durchdachte Agrarpolitik und das Überhandnehmen bürokratischer und rentnerhafter Gesinnungen im Wirtschaftsleben wenden. Hierin kann sich indessen der Wille zur Aufhebung des Monopolismus nicht erschöpfen. Er fordert nicht nur Abstellung offenkundiger Mißstände, sondern Abkehr von dem einzigen konjunkturpolitischen Gedanken, der bisher, in Deutschland wenigstens, auf beinahe allgemeine Zustimmung rechnen konnte. Es treibt bewußt aus der Stockung in die Krisis.
Unter Krisis verstehe ich, im Gegensatz zu dem laxen Sprachgebrauch der Öffentlichkeit, aber im Einklang mit der älteren Literatur, eine Störung der Wirtschaft, die sich in massenhaften Zusammenbrüchen von Unternehmungen äußert, verbunden mit Zerrüttung des Preissystems und Zerreißen der Kreditkette als Wirklichkeit oder doch als drohende Wahrscheinlichkeit. Ein solcher Zustand hat sich in den Konjunkturen des 19. Jahrhunderts immer am Ende eines Aufschwungs herausgebildet; die Vereinigten Staaten haben im Jahr 1907 das vor dem Krieg letzte Beispiel einer solchen Katastrophe gegeben. In Deutschland war man seit einem Menschenalter stolz, daß man den Übergang von Aufschwung in Stockung mit weniger gewaltsamen Methoden zu vollziehen gelernt hatte; und kein Zufall kann darin gesehen werden, daß die Abschwächung der Preisausschläge in Aufschwung und Stockung, die Verminderung der Insolvenzen, die Sicherung des Kreditgebäudes seit dem Durchdringen des Kartellierungsgedankens gelungen war.
Folgt man Löwe und Lederer, so soll dies alles falsche Politik gewesen sein, Flucht des Kapitalismus vor seinen eigenen Möglichkeiten und Notwendigkeiten, nicht Zeichen der Reife, sondern der Vergreisung. Man kämpfe den Konkurrenzkampf zwischen Unternehmung und Unternehmung, Bauernschaft und Bauernschaft aus, ohne schwächliche Rücksicht auf das Wirtschaftsschicksal des Unterliegenden, die Sicherheit der Banken, die Rückwirkungen auf die Beschäftigten: besser radikale Klärung als langsames Versinken im Sumpf. Nachdem die neuen Standorte gefunden, die neuen Gestehungskosten herausgebildet, die neuen Betriebsgrößen hergestellt sind, alles unter dem einzigen Gesichtspunkt der Herstellung der klassischen Marktmechanik, wird die Bedarfsdeckung auf einer sehr viel höheren und sichereren Stufe angelangt sein als heute.
Nun wäre es vermessen, die Folgen der Entfesselung eines Kampfes aller gegen alle voraussehen zu wollen. Eins aber wird mit einiger Sicherheit vorauszusagen sein: daß ein neuer Beharrungszustand sich erst nach geraumer Zeit herausstellen wird; daß inzwischen Arbeitslosigkeit und soziale Gärung verhängnisvoll anwachsen werden; und daß am Ende mächtigere Monopolstellungen entstanden sein werden als je in Deutschland. Es sind seit je und aus guten Gründen nicht die konkurrenzkräftigsten Unternehmer, die zum Kartell zu drängen pflegen: jene zögen das Erreichen einer Truststellung vor. Welche politische Macht mit solchen Stellungen verbunden ist und wie chimärisch das Streben sein muß, sich dieser politischen und wirtschaftlichen Macht zu entwinden, zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten. Wenn man einen Zustand schaffen will, in dem das Verlangen nach gemeinwirtschaftlicher Lenkung und Planung infolge der Mißbräuche von Monopolgewalten hundertmal stärker sein muß als heute, wo die breitesten Schichten des Bürger- und Bauerntums noch nicht der selbständigen Verfügung über erwerbende Habe beraubt sind: so mag man die Krisis in aller Radikalität herbeizwingen. Die Unternehmungen aber, die hier vorerst einen Bundesgenossen gefunden zu haben wähnen, werden sich bald über die Geschenke der neuen Danaer nicht lange täuschen können.
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Einstweilen muß es als durchaus fraglich erscheinen, ob die Politik unserer Kartelle und das Bestehen anderer Bindungs- und Stetigungsformen überhaupt in erheblichem Umfang für den Einbruch und die Andauer der Stockung verantwortlich zu machen sind. Es ist möglich, es ist wahrscheinlich, daß von den Kartellen und Syndikaten, Valorisationsausschüssen und Regierungsstellen in den letzten Jahren Irrtümer gehegt und Fehler begangen worden sind, ebenso wie von den Gewerkschaften und den freien Unternehmen. Daß aber diese Fehler in der Regel zu übermäßigen Monopolgewinnen geführt haben, finde ich nirgends von ihren Kritikern bewiesen. Sie begnügen sich mit dem Hinweis auf die größere Preissenkung der Fertigwaren und der nichtgebundenen Roh- und Hilfsstoffe in den letzten Jahren, aber dieser Hinweis ist kein hinreichendes Argument, geschweige denn ein Beweis.
Was die Rohstoffe betrifft, so ist nicht einzusehen, warum Kohle, Eisen und Zement die Preisbewegung für Kupfer, Kautschuk, Baumwolle und Weizen nachahmen sollen, obwohl die Marktverhältnisse für sie durchaus nicht gleichmäßig geartet sind. Die Berufung auf den angeblich „steigenden Geldwert“9 ist völlig unzulässig und höchstens ein neues Argument gegen die Verwendung dieses problematischen Begriffs in solchen Diskussionen. Denn Änderungen des „Geldwertes“ sind gleichbedeutend mit Änderungen des Durchschnitts der Preise. Dieser Durchschnitt kann aber nicht ohne circulus vitiosus als verbindlich angenommen werden für Stand oder Bewegung von Einzelpreisen.
Wenn die „freien“ Preise im August 1930 gegen den Durchschnitt des Jahres 1926 um 22,7 % gefallen, die „gebundenen“ um 3 % gestiegen waren, so kann ich darin kein „sensationelles Mißverhältnis“10 sehen: die überseeische Landwirtschaft, deren Produkte im Index der freien Preise überwiegen, steht 1930 und stand 1926 unter anderen Angebots- und Nachfragebedingungen als die kartellierte deutsche Industrie. Es geht also nicht an, auf Grund jener Zahlen zu argumentieren: da der „Anteil der gebundenen Preise am Verbrauch industrieller Rohstoffe und Halbfabrikate“ auf 50 % zu schätzen sei, so sei also „die Hälfte der Kosten bei der Gewinnung dieser Waren“ (der Rohstoffe und Halbfabrikate oder nicht vielmehr der Fertigfabrikate? K. S.) um 25 % überteuert; die „Verteuerung der Ware“ belaufe sich im ganzen demgemäß durchschnittlich auf 12 bis 13 %. Denn erstens ist, wie oben dargelegt, das Gebiet des tiefsten Preisfalls keine Norm für minder desorganisierte Marktgebiete; zweitens aber macht die „Verteuerung“ der Fertigwaren durch die Monopolpolitik nach jenen Zahlen höchstens 4 % aus, denn von den Kosten der Fertigwaren entfällt nur etwa ein Viertel auf Roh- und Hilfsstoffkosten.
Dies ist, auch wenn man eine Vergrößerung dieses Aufschlages durch Weiterwälzung annimmt, ganz unbeträchtlich, gemessen an den Erhöhungen des Lohnniveaus in diesen Jahren, die sich doch ebenfalls weiterwälzen und vielfach induzieren. Die Stundenlöhne gelernter Arbeiter haben sich nach einem Index der Reichskreditgesellschaft von 1926 bis 1930 von 141 auf 170 erhöht, also um 20,7 %, die Wochenlöhne ungelernter Arbeiter nach Feststellungen des Statistischen Reichsamts von 145 auf 180, also um 24 %. Währenddessen haben sich die Lebenshaltungskosten – in denen nicht weniger Auswirkungen als Folgen der Lohnsteigerung zu sehen sind – von 141 auf 147 erhöht (nach vorübergehendem Steigen bis auf 154 im Jahre 1929). Wenn man irgendeine Größenbewegung als sensationell bezeichnen will, so ist es diese außerordentliche Steigerung des Reallohnes, bei einer Zunahme der Vollarbeitslosigkeit von 9,8 % der Gewerkschaftsmitglieder im Jahr 1927 auf 24,4 % im Jahr 1930. Es sei gern angemerkt, daß Heimann11 nicht zögert, eine „Überteuerung der Löhne“ wenigstens für die Fertigindustrie ausdrücklich zuzugeben12. Warum nicht auch für die Rohstoffe und Halbfabrikate? Es reicht auch nicht aus, den stärkeren Rückgang der Preise für fertige Konsumwaren mit dem langsameren der fertigen Produktionsmittel und der Rohstoffe und Halbfabrikate seit ihren konjunkturellen Höhepunkten zu vergleichen, um daraus zu schließen, daß die Fertigindustrien durch die überhöhten Preise der stärker kartellierten Industriezweige erdrückt werden. Der Index für die Konsumgüter steht, verglichen mit 1913, auch im Jahre 1930 noch mit 159,3 erheblich nicht nur über dem Index für industrielle Rohstoffe und Halbfabrikate überhaupt (120,1), sondern auch über dem der inlandsbestimmten Rohstoffe (131,2) und der von diesen stärker bestimmten fertigen Produktionsmittel (137,9). Durch den starken Fall der Konsumgüterpreise von 174,9 (1928) auf 159,3 (1930) wird nur die starke Steigerung des einen Jahres 1928 wieder ausgeglichen, denn noch in 1927, dem ersten Jahr des Aufschwungs, hatte dieser Index auf 160,2 gestanden. Die inlandsbestimmten Rohstoffe sind damals nur von 131,5 auf 135,5 gestiegen, haben dieses Niveau im Jahre 1929 behauptet und sind 1930 wieder auf den Stand von 1927 zurückgeführt worden, ganz ähnlich wie die Preise der Konsumgüter. Da im Gang der wirtschaftlichen Wechsellagen die Umsätze von Rohstoffen und Produktionsmitteln viel stärkere Ausschläge zeigen als die von Fertigwaren, ist die Preisbildung dieser Jahre als Anzeichen für die Wirksamkeit einer intensiven Störung von der Seite exzessiver Massenkaufkraft her anzusehen.
| Preisbewegung in Deutschland | 1924 | 1925 | 1926 | 1927 | 1928 | 1929 | 1930 |
|---|---|---|---|---|---|---|---|
| Industr. Rohst. u. Halbfabrik. | 142,0 | 141,0 | 129,7 | 131,0 | 134,1 | 131,9 | 120,1 |
| Fertigwar.: Produktionsmittel | 128,5 | 135,9 | 132,2 | 130,2 | 137,0 | 138,6 | 137,9 |
| Fertigwar.: Konsumgüter | 177,1 | 172,4 | 162,2 | 160,2 | 174,9 | 171,6 | 159,3 |
| Inlandsbestimmte Rohstoffe | 131,5 | 135,5 | 135,7 | 131,2 | |||
| Auslandsbestimmte Rohstoffe | 131,4 | 135,4 | 125,3 | 101,2 |
Ob die Kartelle durch frühere und entschiedenere Senkung ihrer Preise die Nachfrage nach Produktionsmitteln wirklich so stark anzuregen imstande gewesen wären, daß für sie wenigstens das Produkt aus Preis und Absatzmenge konstant gehalten werden konnte, muß bei der Andauer der übrigen Stockungsfaktoren als höchst ungewiß betrachtet werden. Ist ein Stockungszustand eingetreten, so pflegt die Nachfrage nach Kapitalgütern sich sehr unelastisch zu verhalten13. Daß die Vorteile einer mäßigen Steigerung der Kartellpreise im Aufschwung, bei mäßiger Senkung in der Stockung gering anzuschlagen wären gegenüber den Nachteilen der mangelnden Konjunkturanregung in diesem Stadium und dem des Dumping, ist eine bisher durchaus unbewiesene Behauptung14. Ebensowenig läßt sich wahrscheinlich machen, daß die Teilbindungen der Preise die Gesamtentwicklung unstetiger gemacht haben. Die Preisstürze auf den Märkten mehr oder weniger valorisierter Waren zeigen ziemlich genau die gleichen Ausschläge wie die Warenmärkte in der Hochblüte der freien Märkte15. Der Vorstoß gegen den neuen Ismus scheint zu übersehen, daß Kartellierung und Valorisation nicht immer aus bloßer Gewinnsucht entstehen, sondern aus dem Willen zur Lösung von Marktproblemen, die mit gewissen technischen Eigentümlichkeiten der industriellen und der agraren Produktion und mit der Problematik der Preisbildung so lange gegeben sind, wie überhaupt Marktwirtschaft besteht16. Man wird sich also entschließen müssen, in diesen Gestaltungen des Wirtschaftslebens nicht Entartungen des Kapitalismus, sondern folgerichtige Fortbildungen zu sehen. Sie sind Mißbräuchen ausgesetzt, so gut wie jede markt- oder planwirtschaftliche Einrichtung oder Methode; sie können aber aus dem Gefüge unserer Wirtschaft nicht entfernt werden, ohne daß eben das eintritt, was man durch ihre Austilgung verhüten will: das Chaos. Denn solches wird immer geschehen, wenn grundsätzliches Mißtrauen in die Inhaber jedweder Machtstellung dazu führt, daß alle Machtstellungen eingeebnet werden – mit der notwendigen Folge, daß mit den letzten Resten herrschaftlicher Gestaltung der letzte Damm gegen den Einbruch des Unberechenbaren und Sinnfremden fortgeräumt wird; und daß das Aufbegehren gegen eine nicht immer gerechte Ordnung zur Herrschaft der bloßen Gewalt führt, die von den Aufbegehrenden zwar nicht gewollt, wohl aber heraufbeschworen wird.
- 1 Kurt Singer, Zur Diagnosis der Weltwirtschaftsstockung, 14. März 1930; John Maynard Keynes, Die industrielle Krise, 16. Mai 1930; Paul Berkenkopf, Zur Preispolitik der Kartelle, 6. Juni 1930; Kurt Singer, Zur amerikanischen Zahlungsbilanz, 11. Juli 1930; Paul Berkenkopf, Goldmangel und Weltkrise, 25. Juli 1930; Kurt Singer, Weltwirtschaftskrise?, 15. Aug. 1930; Hans Bayer, Zum Problem der Weltwirtschaftskrise, 5. Dezember 1930; John Brech, Rohstoffkrise und Weltwirtschaft, 12. Dezember 1930; John Maynard Keynes, Die große Krise des Jahres 1930, 19. Dezember 1930; Hans Richter-Altschäffer, Das monetäre Argument, 2. Januar 1931; Kurt Singer, Weltwirtschaftliche Rechenschaft, 9. Januar 1931; Alfred Tismer, Zur Preispolitik der Kartelle, 6. Februar 1931; Kurt Singer, Verteidigung des Sparens, 20. Februar 1931; sämtlich im „Wirtschaftsdienst“, ferner die regelmäßige Berichterstattung von Dr. Oberascher über die Vereinigten Staaten an dieser Stelle und die zum Teil sehr aufschlußreichen Darlegungen in den Vierteljahrsheften des Berliner Instituts für Konjunkturforschung seit August 1930.
- 2 Julius Hirsch, Die Wirtschaftskrise. Berlin: S. Fischer Verlag 1931.
- 3 Vgl. zum Beispiel die sehr behutsamen Formulierungen bei Emil Lederer, Wege aus der Krise, 2. Aufl., Stuttgart 1931, besonders S. 25.
- 4 Vgl. Eduard Heimann, Löhne, Preise und Arbeitslosigkeit, Neue Blätter für den Sozialismus, 1930, S. 535 ff., sowie Adolf Löwe, Der Sinn der Weltwirtschaftskrise, ebenda 1931, S. 53. Emil Lederer dagegen scheint anzunehmen, daß nur die rasche Durchführung gehäufter Neuerungen für das Ausbleiben von Kompensationen verantwortlich zu machen ist; hiermit ist in der Tat ein für den Charakter dieser Stockung überhaupt entscheidendes morphologisches Moment berührt. Vgl. „Wirtschaftsdienst“ vom 15. August 1930, S. 1401.
- 5 M. J. Bonn, Prosperity, Berlin 1931. S. Fischer Verlag, S. 53. Die Statistiken des Federal Reserve Board scheinen diese Annahme zu stützen. Der Index des industriellen Beschäftigungsgrades der Arbeit schwankt von 1923 bis 1929 wie folgt: 104, 96, 101, 99, 97, 101. Der Index der tatsächlich gezahlten Löhne bewegt sich in diesen Jahren folgendermaßen: 103, 96, 101, 104, 102, 102, 108, während der Index der industriellen Erzeugung folgende Bewegung aufweist: 101, 95, 104, 108, 106, 111, 119. Die Angabe Löwes (Neue Blätter für den Sozialismus, 1931, S. 53), „der Erfolg des Rationalisierungsprozesses (habe sich) in einer Produktionssteigerung um etwa 70 % im Laufe dieser Jahre“ gespiegelt, ist nicht recht verständlich. Vielleicht ist gemeint, daß die Ergiebigkeit der Arbeit gegenüber den Vorkriegsverhältnissen im Durchschnitt dieser Jahre um jenen Betrag gestiegen sein soll.
- 6 Lederer, a. a. O., S. 3.
- 7 Vgl. zum Beispiel Heimann, a. a. O., S. 541 f.
- 8 Lederer, a. a. O., S. 12 f., 28; Löwe, a. a. O., S. 56.
- 9 Vgl. Berkenkopf, a. a. O., S. 954.
- 10 Heimann, a. a. O., S. 541 f.
- 11 Heimann, a. a. O., S. 542.
- 12 An einer anderen Stelle (S. 539) wird das Bestehen eines überhöhten Lohnniveaus, wenigstens im Vergleich mit dem Ausland, mit dem relativ gut gehaltenen Stand der deutschen Ausfuhr zu widerlegen versucht. Ein solcher Beweis entbehrt schon deshalb der Bündigkeit, da er das Bestehen eines Dumpings in milderer oder krasserer Form außer Ansatz läßt.
- 13 Vgl. D. A. Robertson, Banking Policy and the Price Level, London 1926, S. 17.
- 14 Vertreten von Tismer, a. a. O. Das Institut für Konjunkturforschung stellt fest, daß die schwerere Beweglichkeit der inlandsbestimmten Preise durchaus nicht auf Deutschland beschränkt ist; die Preisbewegung der Rohstoffe und Industriewaren zeige eine ganz ähnliche Bewegung wie in anderen Ländern (mit geringerer Kartellierung): seit Herabsetzung der Kohlen- und Eisenpreise zeige der Großhandelsindex sogar stärkere Senkung als in Großbritannien.
- 15 Vgl. die interessanten Zusammenstellungen des Instituts für Konjunkturforschung, a. a. O., S. 67.
- 16 Vgl. John Maynard Keynes, Staatliche Rohstoffkontrolle, „Wirtschaftsdienst“ vom 11. Juni 1926, S. 773 ff., sowie die Rede Hermann Schumachers: „Marktprobleme“, vom 6. Juli 1930; Berlin 1930, insbesondere S. 16 ff.