War es nicht John Maynard Keynes, der in der Gedächtnisschrift für Alfred Marshall die These hinschrieb, die Zeit der großen Bücher und der systematischen Traktate sei in der Wirtschaftswissenschaft nun ein für allemal vorüber? Es gelte, Flugschriften in den Wind zu schleudern und den Ruhm des Folianten Adam Smith zu überlassen. Die Nationalökonomie sei in allem wesentlichen fertig, hieß es in Keynes’ Vorrede zu den kleinen Cambridge Textbooks; die künftige Arbeit habe dem pädagogischen Problem ihrer Übermittlung an die Jüngeren und der Durchdringung des empirischen Stoffes mit den überlieferten Werkzeugen der Theorie zu gelten.
Inzwischen ist weniger als ein Jahrzehnt vergangen. Vor uns liegt ein zweibändiges Werk über die Grundlagen der Geldtheorie und Bankpolitik1, das umfangreichste der europäischen Literatur, und der Verfasser, eben derselbe John Maynard Keynes, spricht am Schluß von seiner Wissenschaft als von einer durchaus unentwickelten Disziplin, die bisher kaum den Anspruch erheben könne, von der Praxis gehört und angewandt zu werden. So wenig hat der klügste Zeichendeuter im Bereich heutiger Wirtschaft, dem kaum je eine zahlenmäßige Vorschätzung mißlungen zu sein scheint, den Gang seines eigenen Werkes und die nächste Zukunft seiner eigensten Wissenschaftsprovinz auch nur auf kurze Sicht vorauszusehen vermocht...
Aber er behält auch diesmal recht, wenn auch gegen sich selbst. Dies ist in der Tat keine Zeit der großen Architektur im Bezirk der öffentlichen Gestaltung... damit aber fehlt auch der analysierenden Wissenschaft vom Gegenwärtigen die Möglichkeit geschlossener Systeme. Der Verfasser selbst nennt sein Buch mehr eine Sammlung von Material als ein fertiges Werk; er vergleicht sein Entstehen dem Versuch, sich durch ein Sumpfdickicht durchzufinden, und bekennt, daß auf manchen Seiten die Häute liegen geblieben sind, die er während dieser Arbeit abgestreift habe (I, S. VI). So trägt das Buch nicht nur die Spuren langsamen und unstetigen Werdens durch viele Jahre hindurch, die unter dem Druck vieler anderer Beschäftigungen standen, sondern zugleich die Zeichen eines ebenso mühsamen wie kühnen Übergangs aus einer scheinbar gut gesicherten Stellung in ein offenes Gelände voll von lockenden Zielen und unbekannten Gefahren. Die beiden Bände lesen sich in der Tat wie ein Bericht über eine Forschungsexpedition, für die der Führer nicht nur seine eigenen Karten entwerfen, sondern auch vielfach seine Waffen und Werkzeuge erst zu schaffen hatte.
Dieser Bericht ist durchaus nicht leicht zu lesen. Es ist auch nicht einzusehen, warum die Lektüre einer nationalökonomischen Abhandlung weniger geistige Anstrengung verursachen soll als die einer physikalischen, ja es läßt sich bemerken, daß, nicht nur in unserer Disziplin, die glatt geschriebenen Bücher im Durchschnitt schlechter gelesen werden als die unbequem geschriebenen: um wieviel besser ist Kant verstanden worden als Schopenhauer... Dieses mag also auf die Dauer gesehen eher ein Vorteil für die Wirkung des Buches sein. Nicht der geringste Reiz der Lektüre liegt in der Notwendigkeit, aus den dargebotenen Stoffen und Ansätzen ein inneres Ganzes erst zu schaffen, anscheinende und wirkliche Widersprüche aufzulösen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden und dem Autor in der Weise gerecht zu werden, wie es jede richtige Kritik eines Werkes verlangt: „expanding it to the full measure of its intentions“.
Die Aufgabe ist synthetisch und konstruktiv: es gilt aus den wichtigsten Funden der Staatlichen Theorie des Geldes von G. F. Knapp, der Kredittheorie Knut Wicksells und den mannigfachen Fortschritten der Konjunkturtheorie, die Tugan-Baranowski und Spiethoff, Pigou und Robertson, Schumpeter und Mitchell verdankt werden, unter Anwendung sämtlicher Methoden der qualitativen und quantitativen Analysis systematisch begründete Ergebnisse zu gewinnen, die für die Führung der Bankpolitik im besonderen, der Wirtschaftspolitik im allgemeinen von praktischem Belang sind. Hierbei verfährt der Verfasser durchaus nach englischer Weise. Er wahrt den Anschluß an die überlieferte Theorie soweit wie irgend möglich, und setzt also voraus, daß seine Leser den methodischen Apparat der Nationalökonomie mit Anstand beherrschen, wie sie in Cambridge seit Marshall gelehrt wird... so unwillig er bisweilen gegen den „orthodox stuff“ gestimmt scheint, der die Gewinnung neuer wichtiger Einsichten oft eher hemme als fördere. Denn was jetzt zu leisten sei, das gehe weit über die Tragweite der Marshallschen Gleichgewichtslehre hinaus: mit einer großen Zahl kontinentaler Forscher sieht er das heutige Ziel im Aufbau einer „dynamischen“ Wirtschaftstheorie.
Doch ist die Herrschaft der herkömmlichen Sehweise, trotz erfrischend heftiger Worte gegen die Verwendung falscher physikalischer Analogien in der Nationalökonomie (I, S. 80), auch über ihn noch so stark, daß von einer eigentlichen Theorie der bewegenden Kräfte selbst hier nur wenig zu finden ist: er bleibt (wenn wir für einen Augenblick die unpassende Terminologie zur Erleichterung einer schnellen, wenn auch ungenauen Verständigung annehmen dürfen) mitten zwischen Statik und Dynamik in einem Gebiet, das man am besten Kinetik nennen wird, denn es ist ihm im wesentlichen nur um Übergänge von einem Gleichgewicht zum anderen zu tun. Das gelobte Land, das Marshall als ökonomische Biologie, noch hinter der echten Dynamik schimmern sah2, bleibt auch hier in unerreichbarer Ferne.
Dies scheint von Keynes nicht als Mangel empfunden zu werden, denn es ist ihm nicht um die Gewinnung eines Bildes von Gestaltungen zu tun, sondern um Methoden der Beherrschung von Vorgängen, die also mechanischer Art sein müssen. So eminent seine analytische Begabung ist und so intensiv er sich an allem, was „intellectually delightful“ ist, erfreuen kann, so beginnt und endet sein Interesse im Praktischen. Daher erhellt seine Theorie ihren Gegenstand nicht mit dem gleichmäßig strahlenden Licht der Idee, sondern tastet ihn scheinwerferhaft auf die Stellen hin ab, wo das Handeln ändernd, ordnend, helfend einsetzen kann. Kein Wunder, wenn unter der Wirkung dieses wandernden Strahlenkegels vieles überraschend, manches überscharf, einiges verzeichnet erscheint.
Die akademische Kritik wird einige Zeit damit beschäftigt sein, den Ertrag des Buches zu sichten, zu systematisieren und fortzubilden. An dieser Stelle ist es uns heute nur um die Aufweisung des Grundgedankens zu tun. Aber eben hier beginnt die eigentliche Schwierigkeit des Werkes, denn eben dieser Grundgedanke scheint im Verlauf der Arbeit, unter der Einwirkung innerer wie äußerer Entwicklungen, verschiedenen Achsendrehungen unterworfen gewesen zu sein.
Das Buch beginnt mit einer raschen Übersicht über die Fundamente alles Zahlungswesens, in geschichtlicher und systematischer Betrachtung, gestützt auf die Lehre von der Nominalität der Werteinheit und auf die Anerkennung der staatlichen und rechtlichen Grundlagen des Geldwesens, gemäß der Theorie Georg Friedrich Knapps, die Keynes mit dem Realitätssinn des Engländers, unangefochten durch die bizarren Fehldeutungen ihrer kontinentalen Gegner, als das erkannt hat, was sie in Wirklichkeit ist: die Analyse des Grundgedankens und der Grundformen alles neueren Zahlungswesens schlechthin. Erst nachdem dieses Fundament gesichert ist, kann eine methodisch richtige Erforschung der Beziehungen der Zahlungsmittel zu den Vorgängen der Wirtschaft einsetzen.
Die ältere Theorie glaubte im Begriff des „Geldwerts im allgemeinen“ einen Generalschlüssel für die Erkenntnis aller dieser Beziehungen zu besitzen. Auch Keynes erklärt diesen Begriff für ein Mythologem: es gibt keinen allgemeinen Geldwert. Der Begriff der „Kaufkraft des Geldes“ ist unmöglich ohne genaue Beziehung auf bestimmte Personen oder Personengruppen mit bestimmtem Bedarf; er fällt also zusammen mit dem Begriff von Preisindizes für Haushaltsgüter, die nach den Verbrauchsmengen der Waren gewogen sind. Auch andere Preisniveaus können sinnvoll gebildet werden, zum Beispiel das der Rohstoffe und Nahrungsmittel, das Keynes mit Recht als Preisniveau der Betriebskapitalgüter bezeichnet. Aber es darf nicht angenommen werden, daß dieser sogenannte Großhandelspreisindex und die von Keynes als Verbrauchsstandard definierte Kaufkraft des Geldes am Ende auf dasselbe hinauskommen. Die Erfahrung zeigt, daß sie sowohl auf lange wie auf kurze Sicht erheblich in ihrem Lauf voneinander abweichen können, und diese Abweichungen dürfen zumal bei der Analyse der Konjunkturen nicht vernachlässigt werden: die nicht-parallele Bewegung beider Größen macht das Wesen jener Schwankungen des Wirtschaftslebens aus. „Den Großhandelsindex als Maß für alle anderen (sc. Preisniveaus) zu nehmen, heißt das Problem selber wegerklären, das zur Untersuchung steht“ (Bd. I, S. 75 und S. 91).
Mit dieser Art, das Problem des „sogenannten Geldwerts“ zu behandeln, wäre auch Knapp durchaus einverstanden gewesen. Aber es scheint mir, daß Keynes selber im weiteren Verlauf seiner Argumentation die eigenen Warnungen vor dem „Ungetüm in der Höhle“ zu leicht nimmt. Da es sich schließlich herausstellt, daß eine international gleichmäßige Regelung der Geldschöpfung das zweckmäßigste ist und da die Kaufkraft des Geldes nach seiner eigenen Definition als Verbrauchsstandard einer konkreten Wirtschaftsgruppe wahrscheinlich in verschiedenen Volkswirtschaften verschiedene Bewegungen einschlagen wird, empfiehlt der Verfasser am Ende doch die Stabilisierung des Großhandelspreisniveaus, diesmal ohne Versuch einer Widerlegung seiner früheren Argumente, die uns gewichtiger erscheinen als die später vorgebrachten (II, S. 391 ff.). Wenn man selbst übereinkommen sollte, daß nichts anderes übrigbleibt, als die Orientierung einer internationalen Kreditpolitik an den Großhandelspreisen – eine Annahme, die ich nicht teile –, selbst dann scheint es folgerichtiger, hier von einem kleineren Übel zu sprechen, statt die Ergebnisse der theoretischen Analyse abzubiegen.
Diese Analyse erreicht ihren Höhepunkt in dem Unternehmen, die Bestimmungsgründe der Kaufkraft des Geldes mit Hilfe einer neuen Verkehrsgleichung festzustellen, die nicht nur wie die bisher gebrauchten formal richtig ist, sondern auch diejenigen kausalen Faktoren aufweist, die für die Entstehung eines Ungleichgewichts und des Übergangs zu einem neuen Gleichgewichtszustand verantwortlich sind. Auch Pigou, der in seiner Charakteristik des Keynes’schen Werkes in der Londoner „Nation“ das Prädikat „ambitious“ voranstellt, gibt zu, daß hier ein beträchtlicher Fortschritt erzielt ist. Es läßt sich mit Hilfe des neuen Instruments in der Tat auf sehr elegante Art dartun, daß das Niveau der Kleinhandelspreise der Verbrauchsgüter und also nach der Definition die Kaufkraft des Geldes nicht nur abhängig ist von Änderungen des Gesamteinkommens3 und der Gesamtproduktion, sondern auch von Mißverhältnissen zwischen dem Zuwachs des Sparkapitals und der Kapitalinvestition. Keynes versucht zu zeigen, daß der Aufschwung entsteht, indem die Investition der Ersparnis voraneilt, dadurch das Niveau der Konsumgüterpreise hebt, und somit Konjunkturgewinne für die Produzenten dieser Waren schafft. Die Erweiterung ihrer Produktion, die hierdurch ausgelöst wird, kann nicht aufrechterhalten werden, sobald die verstärkte Versorgung des Marktes sich in einem Preisfall dieser Konsumwaren äußert – vorausgesetzt, daß nicht aus anderen Gründen der Aufschwung schon vorher gebrochen wird. Eine Abwärtsbewegung aber kann nicht in einem Gleichgewichtszustand enden, wenn zwar die Investitionen abnehmen, die Ersparnisse aber konstant bleiben. Hierdurch wird ein Preisfall für Verbrauchsgüter und das Entstehen von Konjunkturverlusten unvermeidlich, die die Stockung weiter verschlimmern, bis neue Gewinnmöglichkeiten die Investition anreizen und das Banksystem sein Plazet dazu gibt, daß diese Investitionen der Ersparnis voraneilen; hierauf beginnt ein neuer Zyklus.
Denn das Banksystem, und hiermit berühren wir den Fundamentalsatz der Keynes’schen Theorie, ist verantwortlich dafür, daß es nicht zu Diskrepanzen zwischen Investition und Ersparnis kommt. Wo sie auftreten, ist der Beweis geliefert, daß der Zinssatz derjenigen Banken, denen die Sorge für die Währungspolitik obliegt, falsch angesetzt war. Welche kreditpolitischen Folgen daraus entstehen, daß unsere Volkswirtschaften nicht geschlossene Systeme darstellen, sondern sich in eine weltwirtschaftliche Umwelt einpassen müssen, zeigt das letzte Kapitel des ersten Bandes mit großer analytischer Kraft. Ein früherer Abschnitt hatte die Art der Wirksamkeit einer Diskontänderung im Inneren behandelt und war zu dem uns nicht fremden Schluß gekommen, daß solche Änderungen nur insoweit merklich auf Preisniveau und Konjunkturbewegung einwirken, wie sie zu hinreichend großen Änderungen des Zinssatzes für langfristige Darlehen führen. Jetzt wird zum erstenmal eine wirklichkeitsnahe Theorie der Diskontpolitik in Verbindung mit einer realistischen Theorie des internationalen Handels entworfen, die zwischen den Anlässen von Diskontänderungen und den Möglichkeiten ihrer Auswirkung sehr wichtige Beziehungen aufweist, die von den meisten Notenbanken bisher kaum beachtet worden sind, und deren Bagatellisierung den Hauptfehler aller derer ausmacht, die eine Lösung des deutschen Transferproblems durch den Mechanismus einer schematischen Diskontpolitik lösbar glaubten.
Rationelle Bankpolitik aber setzt in theoretischer Grundlegung wie in praktischer Amtsführung hinreichende Kenntnis der zahlenmäßig faßbaren Daten voraus. Der gegenwärtige Stand der Dinge läßt so gut wie alles zu wünschen übrig: dies ist das einzige, was sich mit Sicherheit aus den von Keynes im Beginn des zweiten Bandes unternommenen Versuchen ergibt, die verfügbaren Statistiken und Schätzungen der Zahlungsmittelmenge, der Umlaufsgeschwindigkeit, der Geschäftsaktivität und der verschiedenen Arten der Kapitalinvestierung zu verwerten und zu ergänzen. Unter diesen Umständen muß jeder Versuch der Verifikation einer Theorie im Fragment stecken bleiben. Daß aber die Hand eines Magiers auch aus den dürrsten und dürftigsten Resten und Spuren höchst interessante Landschaften und Gewächse hervorrufen kann, zeigen die historischen Analysen, die den mittleren Teil dieses Bandes ausmachen und die uns von Ur bis New York über einen Zeitraum von 4000 Jahren hinwegtragen, mitunter in solcher Phantastik, daß wir das Bedürfnis des Autors nach Entspannung von der Fron eines mit außerordentlicher Zähigkeit sich vorkämpfenden Gedankenganges wirksam fühlen.
Indessen endet das Werk nicht mit einem Satyrdrama im Stil des Dix-huitième – in dem u. a. Shakespeare als Funktion einer Profitinflation erscheint ... Schon die letzten historischen Kapitel über die Konjunkturen seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts sind von großer sachlicher Wichtigkeit. Sie leiten über zu dem letzten und vielleicht aufschlußreichsten Teil, der von den Methoden und den Grenzen der Notenbankpolitik, der nationalen wie der internationalen, handelt ... Keynes bekennt, daß die skeptischen Darlegungen der führenden Männer des amerikanischen Notenbankwesens vor dem Stabilisierungsausschuß des Kongresses ihm heute verständlicher scheinen als in der stürmischen Zuversicht des vor sieben Jahren veröffentlichten Tract on Monetary Reform4 . Er beharrt aber in dem Glauben, daß eine mit hinreichenden systematischen Einsichten und hinreichenden statistischen Unterlagen ausgerüstete Zentralbank das Preisniveau bestimmen und den Einklang von Kapitalanlage und Ersparnis veranlassen könne – wobei der Doppelsinn des englischen „control“ einen beträchtlichen Spielraum von möglicher Einflußnahme bis zu ausschließlicher Beherrschung offen läßt.
In jedem Fall ist die Wahrscheinlichkeit des Gelingens dort am weitaus größten, wo es sich um die Bewahrung eines bestehenden Gleichgewichts handelt, nicht um Änderungen des Preisniveaus mit bankpolitischen Mitteln, wie sie der heutige Stand der Dinge oft zu erfordern scheint. Und in sehr vielen Fällen wird die Diskontpolitik auch zu jenem Ende nicht ausreichen, sondern ergänzt werden müssen durch Käufe und Verkäufe der Zentralbanken von Obligationen am offenen Markte, in einem Umfang, vor dem alle Väter der neueren Notenbankgesetzgebungen zurückgeschaudert wären.
So scheint Keynes in der gegenwärtigen Stockung nichts dringlicher, als daß die Notenbanken sich zur dauernden Niedrighaltung des Diskonts und zu Obligationenkäufen à outrance verbünden, bis die Kapitalinvestierungen der Welt wieder auf die Höhe ihrer laufenden Ersparnisse gehoben und die zu hohen Ertragserwartungen der prospektiven Wertpapierkäufer auf das der Kapitalversorgung entsprechende Niveau gesenkt worden sind. Daß der außerordentliche Abstand zwischen der Verzinsung kurz- und langfristiger Anlagen durch ein Maß außenpolitischer Spannungen hervorgerufen ist, gegen das keine Geldschöpfungspolitik auch der stärksten Notenbanken ankämpfen kann, ohne die dem Kapitalisten unerträgliche Unsicherheit des Außenzustandes durch eine nicht weniger unerträgliche Beunruhigung des Binnenzustandes zu verstärken, dieser Gedanke scheint von dem Verfasser überhaupt nicht in Betracht gezogen zu sein. Hat der fachtechnische Analytiker der „Abhandlung vom Gelde“ den kräftesichtigen Geschichtsdeuter der „Wirtschaftlichen Folgen des Friedens von Versailles“ durchaus vergessen?
Seitdem jenes Kapitel geschrieben wurde, hat die Destruktion der Kapitalmärkte weitere Fortschritte gemacht: aus der Flucht von langfristigen in kurzfristige Anlagen ist die Flucht aus der kurzfristigen Anlage in die Banknote und aus der Banknote in den Metallbarren geworden ... Unter diesen Bedingungen hat der Begriff des „natürlichen Kapitalzinses“, an dem sich die Bankpolitik zu orientieren hätte, schwerlich noch einen eindeutigen Sinn. Die Keynes’sche Theorie setzt kapitalistische Wirtschaft einer hohen Stufe voraus; es ist aber seit langem bekannt, daß solche Wirtschaft an sehr bestimmte politische Voraussetzungen gebunden ist: wo die Unsicherheit der staatlich-gesellschaftlichen Umwelt ein solches Maß erreicht, daß alles Planen auf längere Sicht aleatorischen Charakter annimmt, sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben. Der Versuch, mit den Mitteln der Offenen-Markt-Politik der Zentralbanken gegen diese Lage ankämpfen zu wollen, würde dem Beginnen gleichen, durch Stromregulierungen und Dammbauten den seismischen Veränderungen zu begegnen, die Nachwirkungen oder Vorboten eines Erdbebens sind.
Im Intervall möglicher kapitalistischer Wirtschaft aber erscheinen die Keynes’schen Untersuchungen, so vielen Einwänden, Zweifeln und Bedenken sie in ihrer gegenwärtigen Form ausgesetzt sind (einige dieser Einwände werden in einem künftigen Aufsatz behandelt werden), als das wichtigste Rüstzeug aller zeitgenössischen Bankpolitik. Man kann sich keinen Leiter einer Notenbank und vielleicht nicht nur einer Notenbank denken, der nicht gewillt und nicht imstande wäre, von ihnen sehr gründliche Kenntnis zu nehmen. Vielleicht, daß die Bereitschaft zur statistischen Erhellung des Kreditwesens sich von selbst als ungewollte Folge einer solchen Lektüre einstellen wird. Solange den Banken unbekannt ist, daß sie Verantwortungen tragen, die noch weit höher sind als diejenigen, die bisher ihnen bewußt sind, wird unsere Wirtschaftsführung an den entscheidenden Stellen einen Grad von Verworrenheit der Meinungen, Undurchsichtigkeit der Sachlage, Traditionsgebundenheit des Handelns bewahren, der künftigen Generationen schlechthin unglaubhaft scheinen wird ... inmitten eines Meeres von Rationalität eine Insel des Irrationalismus, magische Bräuche in den Formen moderner Geschäftsführung feierlich bewahrend.
Inzwischen hat England für sich selber eine neue währungspolitische Lage geschaffen, die weit radikaler ist als die von Keynes bei der Niederschrift des zweiten Geldwerks noch in Betracht gezogene: es hat die Lösung seiner Geldschöpfung und seiner Währung vom Gold vollzogen und damit eine autonome nationale Geldpolitik möglich gemacht. Was auch immer die unmittelbaren Motive dieses erstaunlichen Schrittes gewesen sein mögen, stoische Schickung in das Notwendige oder koriolanischer Trotz gegen die gegenwärtigen Machthaber und Deformatoren des von England geschaffenen Goldwährungssystems – es kann als sicher angenommen werden, daß in der Bereitschaft zu einer solchen Tat eine unmittelbare Folgewirkung des Keynes’schen Buches zu sehen ist, das kein geringerer als Sir Josiah Stamp, jetzt einer der leitenden Männer der Bank of England, als das in manchen Beziehungen wichtigste und eindringendste Buch der Nationalökonomie seit Ricardo genannt hat. Aber auch dies darf angemerkt werden: die Gedanken, soweit sie bisher Tat geworden sind, sind auf unserem Boden gewachsen. Es sind die allgemeinsten währungspolitischen Folgerungen aus den Knappschen Einsichten in die Struktur der modernen Geldverfassungen; die Lehre, daß es rationellere Normen der Geldschöpfung gibt als die Bindung der Notenausgabe an völlige oder prozentual bestimmte Golddeckung, und daß die bisher geübte Bindung an das Gold im wesentlichen von der Sorge um stabile Wechselkurse bestimmt war: wo dieser Zweck vor anderen zurücktreten muß, stehen wir nicht vor dem Chaos, sondern vor der Möglichkeit eines kühneren und vernünftigeren Tuns. Dies freilich bleibt das Vorrecht eines fest in sich ruhenden und seiner Träger sicheren Gemeinwesens, und darum wiederholt sich auch in diesem Bezirk einstweilen das alte deutsche Schicksal, daß andere ernten dürfen, wo wir gesät haben.
- 1 John Maynard Keynes: A Treatise on Money. In two volumes. Vol. 1: The pure theory of money. Vol. II: The applied theory of money. London: Macmillan & Co. 1930. Eine deutsche Übertragung durch Dr. Carl Krämer ist in diesen Wochen im Verlag von Duncker & Humblot, München und Leipzig, unter dem Titel: "Vom Gelde" erschienen.
- 2 Achte Auflage der Principles of Economy, S. XIV.
- 3 Hierin nicht eingeschlossen sind die von Keynes so genannten „profits“, die ziemlich genau dem entsprechen, was der deutsche Sprachgebrauch „Konjunkturgewinne“ nennt, wobei Gewinne infolge der Einführung vorteilhafterer Produktions- und Verkaufsmethoden und infolge der Gewinnung neuer Märkte für Konsumgüter im Gefolge von Bedarfswandlungen wie billig nicht mitgemeint sind, sondern nur sekundäre, zufallshafte und bald in ihr Gegenteil verkehrte Scheingewinne.
- 4 Vgl. meine Besprechung dieser Schrift in den „Kritischen Blättern" des „Wirtschaftsdienst", 1924, S. 985 f.