Worauf sollten wir unser Denken und Handeln in der gegenwärtigen Situation richten? Die Antwort auf diese Frage lautet schlicht und einfach: auf das Notwendigste. Bei dem heutigen Tempo des Lebens kann sich jedoch das, was am notwendigsten ist, schnell – nach Maßstäben der kulturellen Entwicklung – ändern. Im Leben des einzelnen Menschen kann sich plötzlich eine Situation ergeben – zum Beispiel ein drohender Verkehrsunfall –, in der nur ein Bruchteil seines Wissens und seiner Erfahrung relevant ist, etwa das Erkennen der Schleudergefahr seines Fahrzeugs. In gleicher Weise glaube ich, dass im gegenwärtigen Stadium der Geschichte ein großer Teil unserer Kultur irrelevant ist; am notwendigsten ist heute die Organisation des Friedens.
Weltregierung notwendig
Der technische Fortschritt hat die Stabilität der physischen Welt, in der wir leben, erschüttert. Der deutsche Philosoph von Weizsäcker sprach in diesem Zusammenhang von der „Unvermeidlichkeit des Friedens“. Die Wahl seiner Worte ist noch treffender, wenn er sagt: „Das heutige Problem stellt uns die Aufgabe, die Bedingungen wollen zu müssen, unter denen allein wir in der technischen Welt zusammenleben können.“ Er sagt zu Recht, dass wir nicht länger frei sind in unserem Willen, in unseren Neigungen, sondern dass wir, um weiter in Frieden leben zu können, gewisse Neigungen lernen müssen, von denen unsere weitere Existenz abhängt.
Die Organisation des Friedens erscheint als eine hoffnungslose Aufgabe. So viele Wege, die zu ihr führen, scheinen auf den ersten Blick blockiert zu sein. Deshalb neigen Pragmatiker dazu, das Problem zu umgehen – eine Haltung, die große Ähnlichkeit mit derjenigen gewisser großer Vögel hat, wenn sie eine Gefahr herannahen sehen. Ein Teil meiner Ausführungen wird vielen als „Science fiction“, und zwar als „social science fiction“ erscheinen. Es tröstet mich zu wissen, dass ich mich dabei in Gesellschaft von Jules Verne und George Orwell befinde – abgesehen davon natürlich, dass diese eine größere Einbildungskraft als ich besaßen.
Gemeinsam mit den alten Rechtsphilosophen aus der Ära des Völkerbundes und gemeinsam mit von Weizsäcker konnte ich zu keiner anderen Schlussfolgerung gelangen, als dass die einzige Grundlage für eine Organisation des Friedens die Bildung einer Weltregierung und einer einzigen internationalen bewaffneten Macht sowie eines Abstimmungsverfahrens über deren Einsatz ist. Es ist offensichtlich, dass die bestehenden Neigungen der Politiker, die weitgehend die Ereignisse in unserer Welt bestimmen, sich im Widerspruch zu dieser Organisationsform befinden und dass sich deshalb die Frage stellt, ob es möglich ist, diese Neigungen zu ändern. Die kurzfristige Antwort darauf liegt auf der Hand. Die Tatsache, dass praktisch denkende Leute es dabei belassen, ist verständlich; denn kurzfristige Entwicklungen sind ihr Schlachtfeld, falls ich mir diese militärische Metapher erlauben darf. Die Tatsache jedoch, dass viele Vertreter der politischen Wissenschaft kaum mehr auszusagen haben, erscheint mir weniger befriedigend.
Wissenschaft muss Bedingungen des Friedens erforschen
An dieser Stelle möchte ich einige Bemerkungen über die unterschiedliche Haltung einfügen, die Vertreter verschiedener Wissenschaften einnehmen. Das Spektrum der Wissenschaften reicht von den weitest entwickelten, zu denen ich die Naturwissenschaften rechne, zu den am wenigsten entwickelten, zu denen die jüngeren Gebiete der Soziologie gehören und die die politische Wissenschaft sowie viele ältere Zweige der Geisteswissenschaften umfassen. Vorherrschend sind im unterentwickelten Stadium Beschreibung, reine Neugier und Intuition. Im weiter entwickelten Stadium dominieren die durch Messungen verifizierte Analyse und die dadurch ermöglichten konkreten Anwendungen, die auf ein zu erreichendes Ziel gerichtet sind. Messungen ermöglichen einen Vergleich von Theorie und Wirklichkeit und somit eine Verbesserung der Theorie. Erfreulich ist, dass in den weniger entwickelten Bereichen der Wissenschaft Messungen ständig an Boden gewinnen und so die Frontlinie zwischen Wissen und Intuition verschieben. Daraus folgt, dass über eine zunehmende Anzahl von Themen in objektiver Art und Weise Gedanken ausgetauscht werden können. Nichtsdestoweniger bleibt das, was ich mit dem Wort Intuition umschrieben habe, eine wertvolle Quelle der Inspiration. Zu berücksichtigen ist auch, dass bis zu einem gewissen Grade die weniger entwickelten Wissenschaften die schwierigsten Gegenstände zu behandeln haben.
Was immer man hierüber denken mag, so glaube ich, dass ich ein Postulat im Hinblick auf die Wissenschaft von der Politik verteidigen kann. Es wäre gut, wenn sich diese Wissenschaft von dem zweckbewussten Denken inspirieren ließe, das besonders die angewandten Naturwissenschaften und in einem gewissen Maße auch die angewandten Wirtschaftswissenschaften charakterisiert. Im Vergleich zur beschreibenden Wissenschaft ist für sie ein Prozess des „Zurückdenkens“ vom angestrebten Resultat zu den Vorbedingungen typisch, die für seine Erzielung notwendig sind. Wie müssen wir unsere Neigungen ändern, um in die Lage versetzt zu werden, den Frieden organisieren zu können? Sollte an dieser Stelle irgendjemand ausrufen: Also der Verzicht auf Prinzipien, um mit dem Leben davonzukommen, ein neues München! – so würde ich ihn daran erinnern, dass das, was hier auf dem Spiele steht, nicht das Leben derjenigen ist, die lieber für ihre Prinzipien sterben würden, sondern das Leben aller zukünftigen Generationen und damit die Möglichkeit, überhaupt irgendwelche Prinzipien verwirklichen zu können. Auf jeden Fall betreffen meine Überlegungen beide Parteien, den Osten und den Westen.
Wie ich bereits feststellte, ist der direkte Weg zur Organisation des Friedens versperrt. Eine Weltregierung und eine internationale Kampftruppe, die der organisatorische Ausdruck der bereits von allen anerkannten gemeinsamen Interessen wäre, könnte nur akzeptiert werden, wenn ein Minimum gegenseitigen Vertrauens bestünde. Dieses Minimum gibt es gegenwärtig nicht einmal zwischen einzelnen Ländern und noch weniger zwischen den drei oder vier größeren Machtblöcken. Ich beziehe mich hier auf die Mächtegruppierungen, die gegenwärtig allgemein als Ost-, West- und Südblock bekannt sind oder in der Terminologie des Westens die kommunistischen Länder, die entwickelten und die unterentwickelten Länder genannt werden. Ich lasse die Möglichkeit von vier anstatt von drei Blöcken offen, da der Ferne Osten beginnt, trotz der ihn verbindenden Ideologie einige Risse aufzuweisen. Vietnam jedoch liefert neuen Kitt.
Gegenseitiges Vertrauen durch Kenntnis der Spannungsursachen
Unsere Anstrengungen müssen darauf gerichtet werden, dieses Minimum an gegenseitigem Vertrauen zu gewinnen. Zu diesem Zweck müssen wir die Ursachen der bestehenden Spannungen kennen, und hier besonders die allgemeingültigen. Wir neigen dazu, dem besonderen historischen und kulturellen Hintergrund jedes einzelnen Konfliktherdes zu viel Aufmerksamkeit zu schenken – wenn auch dieser Hintergrund nicht ohne Bedeutung ist. Was sind aber die allgemeinen Spannungsursachen? Die älteste ist ganz einfach der Machthunger, jener furchtbare Schatten der Tatsache, dass Macht notwendig ist, um regieren zu können. Dieser kann nur innerhalb der besseren Weltordnung, die ich vorher nannte und die die Möglichkeit unabhängiger Aktionen ausschließt, unschädlich gemacht werden. Das Machtstreben einzelner nationaler Herrscher oder Regierungen kann am besten durch eine Weltordnung im Zaume gehalten werden; die Schaffung einer Weltordnung aber hängt hauptsächlich von der Beseitigung der anderen Spannungsursachen ab. Natürlich braucht man nicht an eine weltweite Ordnung zu denken, um regional bedingte Konflikte zu lösen. In einigen Fällen kann eine Ordnung innerhalb eines begrenzten Gebietes sehr wichtig sein.
Ein zweiter Spannungsherd ist der ideologische Unterschied zwischen Ost und West im Hinblick auf das Gesellschaftssystem. In der Terminologie des Ostblocks handelt es sich um den Konflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Nach meiner Terminologie ist es der Gegensatz zwischen einem primitiven Sozialismus und einem gemischten System dem Wege zu einem ausgereiften Sozialismus. Es darf nicht vergessen werden, dass dieser Gegensatz – so sehr er auch aufgebauscht und verzerrt worden sein mag – seine Wurzeln in den sozialen Problemen des 19. Jahrhunderts hat und somit durch das mangelnde Verständnis der herrschenden Klassen für die Opfer der sogenannten freien Gesellschaft hervorgerufen wurde.
Eine dritte Spannungsursache ist der ideologische Unterschied in der Beurteilung der Regierungsform, in der modernen westlichen Terminologie die Kluft zwischen Diktatur und Demokratie.
Einen vierten Spannungsherd, der den sozialen Problemen des Westens im 19. Jahrhundert verwandt ist, stellt die wachsende Wohlstandskluft zwischen dem Süden und den anderen Gebieten der Erde dar.
Milderung der Spannungen
Gibt es überhaupt Wege, auf denen man diese Spannungen mildern kann? Ich sehe einige wenige und möchte sie kurz rekapitulieren. Die ideologischen Differenzen werden übertrieben. Was die Gesellschaftssysteme anbelangt, so findet eine deutliche Wiederannäherung statt.
Die ideologische Kluft zwischen Ost und West ist durch die ständigen Änderungen in den Gesellschaftssystemen während der letzten fünfzig Jahre schmaler geworden. Das ist empirisch feststellbar, und die Theorie des optimalen sozial-ökonomischen Systems erklärt diese Prozesse und setzt uns in die Lage, bis zu einem gewissen Grade ihre weitere Entwicklung vorauszusagen. Ich kann hier nicht weiter darauf eingehen, aber als Beispiele darf ich die vermehrte Planung im Westen und die zunehmende Dezentralisierung im Osten erwähnen. Es wird behauptet, dass ein fundamentaler Unterschied im Eigentum an Produktionsmitteln bleibt. Ich meine, dass wir zunehmend – und mit Recht – Eingriffe in das private Eigentum an Produktionsmitteln vornehmen, und dieser Prozess wird sich fortsetzen. Auch dieser Unterschied verringert sich also.
Die ideologischen Unterschiede hinsichtlich der Regierungsform werden ebenfalls übertrieben. Es gibt im Westen keine absolute Demokratie; zeitweise wird es sogar notwendig, vorübergehend von der Demokratie abzuweichen. Und es gibt im Osten keine absolute Diktatur. Vertreter der politischen Wissenschaften könnten uns helfen, die gegensätzlichen Positionen weniger absolut zu betrachten. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass wir in der Verringerung dieser Kluft nicht weit fortgeschritten sind. – Schließlich gibt es einige Entwicklungsländer, in denen die parlamentarische demokratische Regierungsform gegenwärtig undenkbar wäre. Vor 1913 gab es sie ja nicht einmal in den Niederlanden. So irritierend Herrscher auch sein mögen, so sind sie, besonders unter schwierigen Umständen, doch notwendig.
Erforschung der Annäherung von Ost und West
Nach diesem kurzen Hinweis darauf, worin mir die beiden ideologischen Hauptunterschiede zwischen Ost und West zu bestehen scheinen, möchte ich zur Methode des zweckgerichteten Denkens zurückkehren. Die Wissenschaften, die sich mit diesem Gebiet befassen, können den größten Beitrag zur Organisation des Friedens leisten, indem sie systematisch die Mittel erforschen, mit denen die Standpunkte des Ostens und des Westens einander angenähert werden könnten. Eine gemeinsame Einsicht oder ein gemeinsamer Ansatz könnte als Basis für eine noch unbekannte Weltordnung dienen. So würde ein Beispiel dafür gegeben, wie man lernen kann, die Neigungen zu erwerben, die von Weizsäcker als Vorbedingungen für unsere weitere Existenz bezeichnete.
Die gesuchte Weltordnung – und hier kommen wir zum Kern der Angelegenheit – muss die vernünftigen Ansprüche der Führer des Ostens, des Westens und des Südens, soweit sie ausgereifte Ansichten vertreten, gleichzeitig befriedigen. Das wissenschaftliche Denken kann bei der Feststellung helfen, was als vernünftig und was als ausgereift zu bezeichnen ist. Viele in den vergangenen Jahrzehnten auf allen drei Seiten gewonnenen Einsichten dürften vernünftiger oder ausgereifter sein als das früher von den Repräsentanten der drei Blöcke Geglaubte und Verkündete. Wir haben gesehen, wie Dutzende von Dogmen des Laissez-faire und des Marxismus ohne viel Aufhebens über Bord geworfen wurden. Steigende Wohlfahrt könnte uns helfen, auch verschiedene andere Dogmen loszuwerden; aber ohne zusätzliches scharfes Nachdenken wird das nicht möglich sein.
Gedankengängen im Stile von Clark und Sohn zum Beispiel ist ein großer Wert beizumessen, genau so viel Wert wie zum Beispiel der Gedankenarbeit, die zum Vertrag von Rom führte. Ich würde dasselbe zu den Ideen Fred Warner Neals sagen, die er kürzlich auf der Konferenz „Pacem in Terris“ in Genf formulierte. Hier versuchte er, eine kurzfristig mögliche Form der Koexistenz zu formulieren, die auf einem Übereinkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion beruht, wobei jede Seite die geopolitischen Interessen der anderen Seite voll respektiert. Der Abbau der Raketenbasen auf Kuba ist ein Beispiel dafür, was in dieser Hinsicht möglich zu sein scheint. Ein weiteres Beispiel ist das Abkommen von Laos. Freilich ist die amerikanische Aktion in Vietnam den Möglichkeiten einer Koexistenz nicht dienlich.
Die erwähnten Autoren suchen den Beitrag zu einer echten Koexistenz auf dem Gebiet politisch-militärischer Übereinkommen, während sie die ideologischen Unterschiede als unabänderlich ansehen. Meiner Ansicht nach können jedoch dauerhaftere Beiträge zur Koexistenz durch eine Veränderung der Ideologien geleistet werden. Inzwischen wissen wir jedoch, dass diese Beiträge einen beträchtlichen Zeitaufwand beanspruchen werden, und wir können nur hoffen, dass uns diese Zeit noch zur Verfügung steht.
Wohlstandskluft zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern
Schneller kann zweifellos ein Beitrag zur Beseitigung des vierten Spannungsherdes – die sich vertiefende Wohlstandskluft zwischen den unterentwickelten und den entwickelten Ländern – geleistet werden. Das Problem der Armut ist ein Bestandteil fast aller Einzelkonflikte der letzten Zeit. Einerseits macht es primitiv-sozialistische Haltungen plausibel; andererseits führt es sowohl Regierungen als auch deren Opfer leicht in Versuchung, sich auf Abenteuer einzulassen, die vom eigentlichen Problem ablenken. Falls wir es versäumen, dieses Problem zu erkennen, wiederholen wir den gleichen Fehler, der im 19. Jahrhundert gemacht wurde und der zu den ideologischen Differenzen zwischen Ost und West im sozialen und wirtschaftlichen Bereich geführt hat. Viele Menschen sind noch immer unfähig, dieses Problem zu erkennen. Wohlstand scheint die Auffassungsgabe abzustumpfen. Aber jeder, der jemals die flehenden dunklen Augen asiatischer Kinder gesehen hat; jeder, der die schäbigen Hütten in den Vororten der Großstädte auf einem der armen Kontinente besuchte oder die Schinderei der Rickscha-Boys mit eigenen Augen sah, kennt das ungeheure Ausmaß menschlichen Elends, das diese Länder bedrückt.
Wenn man seinen gesunden Menschenverstand einsetzt, um einen Weg zur Milderung der schroffen Unterschiede im Wohlstand der Völker zu finden, muss man zu dem Schluss gelangen, dass es sich hier tatsächlich um eine lösbare Aufgabe handelt. Natürlich kann sie nicht leicht gelöst werden. Sie wird viel harte Arbeit von vielen Menschen an allen möglichen Orten erfordern, die alle zusammenarbeiten müssen. Es wird die Arbeit aller Berufsgruppen notwendig sein, denn es handelt sich um die Entwicklung der Gesellschaft als ganzer. Dies ist die große Herausforderung unserer Zeit – und wie viel faszinierender ist sie als einige der trivialen Tätigkeiten im Wohlfahrtsstaat. Es stimmt einen optimistisch, dass so viele junge Menschen das gleiche empfinden, im Gegensatz zu anderen, die sich anscheinend bemühen, den Weg zurück ins Tierreich zu suchen.
Über die heutige Entwicklungspolitik kann man nicht realistisch reden, wenn man nicht vor allen Dingen an das große Land denkt, das genauso viele Einwohner hat wie ganz Europa oder die gesamte atlantische Ländergruppe: Indien. Da ich eine gerechte geografische Verteilung der Entwicklungshilfe vertrete, glaube ich noch einmal die Frage stellen zu müssen, warum Indien so viel weniger je Kopf der Bevölkerung erhält, als die Entwicklungsländer im Durchschnitt erhalten. Jan M. D. Little sagt hierzu: Vermutlich weil man durch die ungeheure Summe abgeschreckt würde, die man erhält, wenn man den Durchschnittssatz anwendet. Eine schärfere Kritik unserer gegenwärtigen internationalen Politik kann man sich schwer vorstellen. Hollis B. Chenery vertritt die Meinung, dass Indien aus wirtschaftlichen Gründen – weil also der volkswirtschaftliche Ertrag höher wäre – doppelt so viel an Hilfe gegeben werden sollte, wie es heute erhält. Arnold C. Harburger hat herausgefunden, dass der Kapitalmangel Indiens so groß ist, dass neue Kapitalinvestitionen einen höheren Nutzen erbringen als Ausbildung und Erziehung. Gewöhnlich ist es genau umgekehrt, woraus gefolgert wird, dass mehr Erziehung und Ausbildung als Kapital benötigt würden. Diese weit verbreitete Ansicht gilt also nicht für Indien.
Die stark angewachsene landwirtschaftliche Nachfrage nach Düngemitteln und mexikanischem Saatweizen, die in Pakistan die Entwicklungschancen so sehr verbessert hat, besteht auch in Indien, aber dieses Land hat viel weitere Gebiete mit unfruchtbaren Böden als Pakistan. Wäre es nicht sogar wichtiger, Indien mit allen Kräften zu unterstützen, um es wirtschaftlich und sozial zu stärken, statt eine Gruppe in Südvietnam?
Internationale Entwicklungsstrategie
Ein weiterer Aspekt der Entwicklungspolitik fesselt die Aufmerksamkeit vieler Wirtschaftswissenschaftler: die Notwendigkeit, eine internationale Entwicklungsstrategie oder eine weltweite Wirtschaftspolitik zu formulieren. Bei den mannigfaltigen Betätigungen aller Art, die überall in der Welt erforderlich sind, besteht die Gefahr, dass unvereinbare Situationen entstehen. In einer Branche droht Überproduktion, in einer anderen Unterproduktion. Für die industrielle Entwicklungspolitik und die Handelspolitik besteht die Gefahr, dass sie aus dem Gleichschritt geraten. Ferner droht ein Ungleichgewicht zwischen Kapitalversorgung und Erziehungs- und Ausbildungsmöglichkeiten. Um diese und viele andere ungleichgewichtige Situationen zumindest in gewissen Grenzen zu halten, wird in weltweitem Maßstab ein Plan für eine Orientierung und Koordinierung der Pläne einzelner Regierungen benötigt.
Die niederländische Regierung hat auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1966 durch ihren Sprecher für eine Entwicklungsstrategie plädiert, die einen derartigen Plan einschließt, und für einen Entwicklungsvertrag, der die für die Durchführung einer geeigneten Politik notwendigen Rechte und Pflichten festlegt.
Bei der Ausarbeitung eines derartigen wegweisenden Weltplanes wird es von großem Nutzen sein, wenn wir detaillierter spezifizieren können, welche Produkte in welchen Ländern am besten zu produzieren sind. Wir selbst würden dann wissen, welche Wirtschaftszweige die meisten Investitionen erfordern und welche allmählich weniger beanspruchen.
Ein großes Hindernis für die notwendigen Verpflichtungen ist, wie auch bei anderen Aufgaben, der Nationalismus, das weitverbreitete Bestehen auf nationaler Souveränität. Es handelt sich dabei um eine tiefverwurzelte Haltung, auf deren zahlreiche Aspekte ich hier nicht eingehen kann. Aber ich zögere nicht, den Nationalismus als den Erzfeind der Wohlfahrt aller Völker der Welt zu bezeichnen. Offensichtlich kann man eine Anzahl – eine große Anzahl – von Entscheidungen den nationalen, regionalen und lokalen Behörden überlassen. Aber es gibt wesentliche Entscheidungen, die zu Fehlentwicklungen führen, wenn man sie den nationalen Autoritäten überlässt. Wenn man einem wohlhabenden Lande die Entscheidung überlässt, wie viel es für Entwicklungspolitik und wie viel es für militärische Zwecke aufwenden will, so wird der Betrag für Entwicklungshilfe zu niedrig, der für militärische Zwecke zu hoch liegen. Die Empfehlung, diese Entscheidungen durch eine supranationale Autorität treffen zu lassen, stößt natürlich auf Widerstand und wird gewöhnlich als zu akademisch ad acta gelegt. Diese Empfehlung ist jedoch die einzig vertretbare.
Die Frage supranationaler Entscheidung hat so viele Aspekte, dass ich hier nur zwei von ihnen ansprechen möchte. Erstens halte ich es für nicht bewiesen, dass eine von einem Land unabhängig getroffene Entscheidung für dieses Land langfristig besser sei als eine Entscheidung, die unter Beteiligung dieses Landes supranational getroffen wird. Schließlich hat ein einzelnes Land immer nur einen Teileinfluss, unabhängig davon, ob es die eine oder die andere Form der Entscheidung wählt. Zweitens ist zusätzlich zu anderen Faktoren natürlich ein rein menschliches Element zu berücksichtigen. Die Verteidigung der Unabhängigkeit auf einem niedrigen Niveau schließt kleinliche menschliche Regungen ein. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen: Es ist die Pflicht eines Beamten, den von Regierung und Parlament seines Landes definierten Interessen und nicht bloß seinem Ministerium, seiner Abteilung, seiner Unterabteilung oder seinem Büro zu dienen. Es ist bedauerlich, dass es immer noch allzu viele Menschen gibt, die ganz in kleinlichen Interessen aufgehen. Obwohl sich niemand völlig von dieser Gewohnheit freimachen kann, werden wir diesen kleinlichen Regungen im eigenen Interesse und im Interesse unserer Kinder und Enkel Schranken setzen müssen.