WD: Prof. Galbraith, Ihr kürzlich erschienenes Buch „Die moderne Industriegesellschaft“ hat ein ungewöhnlich weites Echo gefunden. Trotz des bemerkenswerten Erfolges sind kritische Kommentare jedoch nicht zu überhören . . .
GALBRAITH: . . . Sie sollten diese Kritiken übersehen und sich auf die positiven Standpunkte konzentrieren. Trotzdem will ich Ihnen gestatten, die Kritiken zu erwähnen, so fehlgeleitet sie auch sind.
WD: Welches sind Ihrer Ansicht nach die Haupteinwände der Kritiker?
GALBRAITH: Als das Buch vor einem Jahr in den USA erschien, richtete sich die Kritik hauptsächlich auf meine Argumente am Ende des Buches. Dort behaupte ich nämlich, dass die Industriegesellschaft einen riesigen Bildungs- und Wissenschaftsapparat schafft, der – ähnlich wie das Allproletariat, das den Kapitalismus angreift – die Werte und Ziele des kapitalistischen Systems attackiert. Das heißt, die Gesellschaft schafft ein Instrument zur Zerstörung ihrer eigenen Ziele. Darüber hinaus habe ich gesagt, dass die Kritik gerechtfertigt ist wegen der einseitigen Verherrlichung von Produktion und wirtschaftlichem Erfolg und der daraus resultierenden Annahme, dass die wirtschaftlich Erfolgreichen den Staat lenken sollten. Das wurde sehr kritisiert. Aber wie diese Kritik zu bewerten ist, habe ich in den letzten sechs Monaten gesehen. Denn was ja fast in jedem Industrieland passiert ist, ist eine mehr oder weniger tiefgreifende Revolte der Studenten, die – obwohl unabhängig voneinander – eines gemeinsam haben, ob in der Tschechoslowakei oder in Berlin, in Paris oder New York, nämlich eine Kritik an den Zielen des kapitalistischen Systems.
WD: Gibt es negative Stimmen auch aus der Industrie?
GALBRAITH: So weit ich weiß, war die Reaktion in den großen Industriefirmen recht günstig. Ich glaube, es wäre ihnen lieber gewesen, ich hätte die Ziele nicht kritisiert. Aber ich glaube, sie hatten auch das Gefühl – ich weiß, dass das für einige Firmen zutrifft –, dass zum ersten Mal jemand der Technostruktur die Bedeutung beigemessen hat, die sie verdient. Sehr viel härtere Kritik kam von Ökonomen. Abgesehen von dem, was ich gerade über die Ziele erwähnt habe, monierte man, dass ich dem Markt nicht genügend Bedeutung beimesse. Die Bemerkung, dass der Markt unter die Kontrolle der Technostruktur geraten ist, dass die Planung überhand nimmt und den Markt ersetzt hat, ist etwas, womit Ökonomen nicht sehr einverstanden sind, und das aus gutem Grund. Ökonomen haben ein tief verwurzeltes Interesse am Markt. Die ganze moderne Wirtschaftsstruktur hängt von der Vorherrschaft des Marktes ab.
WD: Der US-Senat hat ein Hearing über Planung und Regulierung abgehalten, die den Wettbewerb im neuen Industriestaat ersetzen. Möglicherweise liegt darin eine Antwort auf Ihre These, dass die amerikanische Antitrust-Politik eine Farce ist. Haben die Durchführung bzw. die Ergebnisse dieses Hearings Ihre Meinung zur amerikanischen Antitrust-Politik geändert?
GALBRAITH: Nein, keineswegs! Ich möchte vielmehr hoffen, dass einige andere Leute ihre Meinung geändert haben, aber ich habe meine Ansicht sicherlich nicht geändert.
WD: Neuere empirische Studien zeigen, dass die besten wirtschaftlichen Leistungen von den Oligopolen erbracht werden, und zwar nur von weiten, nicht aber engen Oligopolen. Wir vermissen diese Unterscheidung in Ihrer Betrachtung.
GALBRAITH: Ich neige ein wenig dazu, empirischen Studien über eine so komplexe und so heiß umstrittene Angelegenheit wie diese zu misstrauen, aber ich möchte mich nicht darüber streiten, ob sie tatsächlich zutreffen. Ich will auf einen ganz anderen Punkt hinaus, nämlich dass die großen Firmen die verschiedenen Planungsinstrumente vollständiger im Griff haben als die kleinen Firmen. Ich glaube nicht, dass es darüber irgendeinen Streit geben kann. Ich behaupte nicht, dass General Motors als Neuerer notwendigerweise leistungsfähiger als irgendeine kleinere Firma ist. Worauf ich hinaus will, ist vielmehr, dass General Motors wegen seiner Größe ein wirksameres Planungsinstrument besitzt als kleinere Firmen.
WD: Sie sprechen von einem sozialen Ungleichgewicht zwischen privatem und öffentlichem Sektor. Auch die Studenten kritisieren die ungenügende Aktivität des Staates auf dem Bildungs- und Sozialsektor. Sehen Sie daher in den Studentendemonstrationen eine Bestätigung dieser These?
GALBRAITH: Ja, ich sehe die Studentendemonstrationen in diesem Frühjahr und die Unruhen in unseren Städten als eine Bewahrheitung meiner These an. Wenn wir in unsere amerikanischen Städte angemessen investiert hätten, wenn wir das Universitätssystem ebenfalls angemessen ausgebaut hätten, wenn es ein Gleichgewicht zwischen der Produktion von Autos und der Produktion von Häusern und Bildungseinrichtungen gegeben hätte, so hätten wir vielleicht nicht alle, aber doch einen großen Teil der Aufstände in unseren Städten und in der Pariser Sorbonne vermieden.
WD: Folgt man Ihrer Kritik an der Gesellschaft, so haben wir einen Überfluss an Konsumgütern. Widerspricht der Marsch der Armen nach Washington nicht Ihrem Standpunkt?
GALBRAITH: Im Gegenteil, ich würde sagen, er bestätigt sie. Zunächst einmal, ich habe nie gesagt, dass wir einen Überschuss an Konsumgütern haben. Ich habe gesagt, dass wir die Produktionsmöglichkeiten schlecht nutzen. Wir produzieren zu wenig im öffentlichen Sektor und zu viel im privaten Sektor. Aber ich habe auch argumentiert, dass eine Knappheit daraus resultiert, dass viele Leute bei ihrer Flucht aus der Armut vom öffentlichen Sektor abhängig sind – von Wohlfahrtszahlungen oder einer Art Renteneinkommen, von besserer Bildung und irgendeiner Chance, aus dem städtischen Ghetto herauszukommen. In irgendeiner Form ist öffentliches Handeln erforderlich, weil die Ressourcenallokation im Privatsektor unbefriedigend ist.
WD: Sie sagten, dass Ihre „Affluent Society“ der Rahmen für das breitere Bild des „New Industrial State“ gewesen sei. Welches sind die Unterschiede im Grad der Realisierung des neuen Industriestaates in den USA im Vergleich zu Westeuropa?
GALBRAITH: Verglichen mit den Ähnlichkeiten sind die Unterschiede geringfügig. Es ergibt sich aus der verschiedenen Tradition und Geschichte, dem stärkeren Einfluss der Sozialdemokraten unter anderem, dass Westeuropa in vieler Hinsicht eine bessere Allokation der Ressourcen zwischen öffentlichem und privatem Sektor hatte. Auf der anderen Seite hatten wir eine bessere Allokation in der höheren Bildung, in Technologie und Forschung – besser entsprechend dem System!
WD: Stimmen Sie der Behauptung zu, dass speziell das technologische Potential Europas geringer ist?
GALBRAITH: Ja, hier gibt es Unterschiede. Westeuropa war in den Jahren, die dem zweiten Weltkrieg folgten, das Opfer ziemlich schlechter Wirtschaftspolitik. Die westeuropäische Politik wurde in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg von Ökonomen aus den USA und Westeuropa formuliert. Sie wussten alles über das Gewinnen des letzten Krieges, aber sehr wenig über das Gewinnen des laufenden (Wirtschafts-)Krieges. Folglich gingen sie mit Begeisterung daran, die Gesellschaft zu schaffen, von der Adam Smith und J. B. Say schwärmten, und sie vergaßen dabei, dass die neue Industriegesellschaft von einem sehr großen, sehr starken Finanzsystem abhängig ist, das in der Lage ist, riesige Summen für Technologie, Computer, Entwicklung der Atomenergie, Entwicklung des Verkehrssystems, Luftfahrt – einen ganzen Fächer von Dingen – bereitzustellen. Und so war das, was geschah, eine der historischen Kuriositäten; Westeuropa schuf den Gemeinsamen Markt zu dem Zeitpunkt, als der Überfluss größere Märkte weniger wichtig machte. Es versagte bei der Schaffung eines Finanzsystems, das die Technologie unterstützen könnte, gerade als Technologie zunehmend wichtiger wurde. Ich bin nicht gegen den Gemeinsamen Markt, er war eine gute Idee. Aber er war eine Idee, die man früher hätte haben sollen.
WD: Glauben Sie, dass sich die technologische Lücke durch eine stärkere Konzentration der europäischen Unternehmen überwinden lässt?
GALBRAITH: Trotz einiger romantischer Kritiker zweifle ich nicht daran. Ich denke, dass größere Firmen viel eher in der Lage sind, die Belastung der immer kostspieligeren Technologie zu tragen als kleinere Firmen. Aber das ist verhältnismäßig unwichtig. Wichtiger ist, dass die moderne Technologie sozialisiert werden muss. Sie muss vom Staat unterstützt werden. Die großen Leistungen der Amerikaner sind fast ohne Ausnahme von der Regierung bezahlt worden. Die Dinge, für die wir berühmt geworden sind, in der Atomenergie, Computer, Elektronik, Verkehr, Luftfahrt, sind alle das Ergebnis einer sozialisierten Forschung.
WD: In Bezug auf den technologischen Gap sieht sich Japan denselben Problemen gegenüber. Wie beurteilen Sie die japanische Position?
GALBRAITH: Nun, die Japaner fangen auch an, die Bedeutung stärkerer staatlicher Unterstützung für die Technologie zu sehen. Außerdem hatten sie den Vorteil, dass sie die große westliche Technik mit ihrem Lebensstandard kombinieren konnten, der für asiatische Verhältnisse zwar ungeheuer hoch war, aber für europäische Verhältnisse doch relativ niedrig. In Zukunft wird Japan natürlich seine eigenen Sorgen haben. Denn Kapital für die Unterstützung der Technologie etwa in der Größenordnung wie in der UdSSR oder in den USA steht nicht zur Verfügung, und die japanischen Löhne steigen, wie Sie wissen, auf das europäische Niveau an.
WD: Um auf die europäische Situation zurückzukommen: Es gibt Stimmen, die die Schwierigkeiten in Europa nicht so sehr im technologischen Gap als vielmehr in einem Management Gap sehen.
GALBRAITH: Im Moment stimme ich dem nicht zu. Ich habe europäische, amerikanische und englische Manager gekannt, und ich glaube, es ist eine höchst dubiose Annahme, dass irgendeine Gruppe von Managern der anderen unterlegen ist. Ich würde nicht eine Sekunde lang glauben, dass deutsche Manager den amerikanischen wirklich unterlegen sind.
WD: Jean-Jacques Servan-Schreiber glaubt, dass im Jahre 2000 neben den USA und Russland die amerikanische Industrie in Europa eventuell die dritte Weltmacht bilden könnte.
GALBRAITH: Bei aller Bewunderung für Servan-Schreiber bin ich in diesem Punkt nicht ganz seiner Meinung. Ich glaube wirklich nicht, dass man so viel Aufmerksamkeit auf die endgültigen Eigentumsverhältnisse in der Industrie verschwenden sollte. Der viel wichtigere Faktor ist die stärkere industrielle Planung in der nationalen Gemeinschaft. Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass die Tatsache, dass ein großer Teil der kanadischen oder französischen Industrie in amerikanischen Händen liegt, ein Faktor ist, der aus neomarxistischen Erwägungen bei weitem überbewertet wird. Man sollte dem Tatbestand, dass General Motors in amerikanischem Besitz ist, weniger Bedeutung beimessen als dem Umstand, dass der Einfluss des amerikanischen Fernsehens oder amerikanischer Zeitschriften ständig wächst. Das ist eine Form „kulturellen Imperialismus“, die für die Zukunft weit mehr von Bedeutung sein kann.