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Die Macht der Ratingagenturen wird derzeit allenthalben kritisiert. Tatsächlich haben ihre Beurteilungen eine große Bedeutung bei der Kreditvergabe. Dies wurde aber vor allem durch zahlreiche Regularien vom Staat selbst verursacht. Dabei wirken sich die Länderratings aufgrund des „Sovereign-Ceiling“-Prinzips auch auf die Bewertung von Unternehmenskrediten aus.

In der jetzigen Form ist die Bewertung von Länderrisiken durch die Ratingagenturen vergleichsweise neu.1 Noch 1975 hat Standard & Poor’s (S&P) lediglich die USA und Kanada, Moody’s zusätzlich Australien bewertet. Erst im Zuge der Internationalisierung der Kreditbeziehungen in den 1990er Jahren ist die Zahl der bewerteten Länder auf heute 126 (S&P), 109 (Moody’s) bzw. 103 (Fitch) gewachsen. Auftraggeber für die Ratings sind in der Regel die bewerteten Länder selbst, wobei die Bezahlung als Fixum oder als Bruchteil der Emissionssumme vereinbart wird.2 In wenigen Fällen (beispielsweise in Deutschland und in den USA) erfolgt ein auftragsloses (unsolicited) Rating, d.h. die Agenturen ergreifen selbst die Initiative und erstellen ein Rating ohne Bezahlung durch das bewertete Land.

Die methodischen Grundlagen der Ratings sind heftig umstritten,3 was nicht zuletzt Spiegelbild der Informationspolitik der Agenturen selbst ist, denn diese berichten zwar über die von ihnen herangezogenen Kriterien, aber die Gewichtung der Kriterien bleibt ihr Geheimnis. Dies mag aus Unternehmenssicht verständlich sein, macht die Einschätzungen aber für Dritte nicht nachvollziehbar und schafft Freiräume für Spekulationen (inklusive Verschwörungstheorien).

Gemäß Afonso et al.4 sind sieben Faktoren maßgeblich für die Varianz der Rating-Urteile: BIP pro Kopf, BIP-Wachstum, staatliches Budgetdefizit, Effizienz des öffentlichen Sektors, Auslandsverschuldung, Währungsreserven, Kredithistorie. Die Informationen über diese Variablen sind in der Regel öffentlich zugänglich und de facto kostenlos verfügbar. Sofern in dem Vertrag zwischen Staat und Agentur kein Zugang zu nicht-offiziellen Daten vereinbart wird, ist die Datenbasis des Länderratings für die Agenturen also kaum anders als für andere Institutionen wie Großbanken oder Wirtschaftsforschungsinstitute. Entsprechend kritisch wird vielfach der Informationsgehalt der Rating-Urteile gesehen; sie enthielten nichts Neues und seien damit an sich ökonomisch irrelevant.

Dem ist zweierlei entgegen zu halten:

  • Erstens, die Bewertung auch allgemein zugänglicher Daten im Hinblick auf Ausfallwahrscheinlichkeiten erfordert Lernprozesse, und hier haben die Agenturen komparative Vorteile, da sie die Lernkurve bereits „heruntergerutscht“ sind.
  • Zweitens, die objektive Richtigkeit der Rating-Urteile ist eher sekundär. Für die ökonomischen Konsequenzen ist (mit-)entscheidend, dass die Mehrzahl der Akteure davon ausgeht, dass sich die meisten Akteure nach den Ratings richten bzw. richten müssen. Selbst wenn ein Investor die Rating-Urteile für völligen Nonsens hält, darf er sie nicht ignorieren, wenn er weiß, dass andere Marktteilnehmer die Ratings als Kauf- bzw. Verkaufssignal interpretieren oder Portfolioumschichtungen infolge von Gesetzesauflagen oder anderen Regulierungen vornehmen müssen.

Kein risikofreier Zinssatz

Die Diskussion um tatsächliche oder etwaige Herabstufungen auch großer Länder mit vormals bester Bonität hat eine an sich triviale Erkenntnis stärker ins Bewusstsein gerückt: Es gibt keinen risikofreien Zinssatz! Bei jeder Kreditbeziehung handelt es sich um eine Vereinbarung über zukünftige Zahlungsströme – und die Zukunft ist bekanntlich unsicher. Es verbleibt immer ein Restrisiko, dass das Zahlungsversprechen nicht eingelöst wird. Wird bei einem Schuldner mit bester Bonität ein Anstieg dieses Restrisikos konstatiert, so ist das Risiko der relativ sichersten Anlageform gestiegen. Das Nichtvorhandensein eines risikolosen Zinssatzes springt noch klarer ins Auge, seitdem neben den USA mit Frankreich kürzlich auch ein ökonomisch überaus bedeutsames europäisches Land herabgestuft wurde.5 Würde auch Deutschland herabgestuft, verblieben in der Kategorie AAA nur noch kleinere Staaten ohne substanzielles ökonomisches und politisches Gewicht. Dieses Faktum würde beispielsweise den Zinseffekt einer kollektiven Herabstufung aller Euroländer minimieren, schlicht weil es kaum Anlageformen mit geringerem Risiko gibt.

Sovereign Ceiling

Ein Länderrating bestimmt in erster Linie die Finanzierungskonditionen für den Staat, von nicht minderer Bedeutung sind jedoch die Spillover-Effekte auf die Finanzierungskonditionen inländischer Unternehmen. Ein maßgeblicher Wirkungskanal: Die Ratingagenturen nehmen die Risikoeinstufung eines Staates häufig als Obergrenze für das Rating aller im Staat ansässigen Emittenten und Emissionen. Kein inländisches Unternehmen kann kreditwürdiger sein als der Staat. Dieses als Sovereign Ceiling bezeichnete Verhalten wurde lange Zeit konsequent angewendet. Erst 1997 kam es zu ersten Ausnahmen, als Unternehmen aus den „dollarisierten“ Ländern Argentinien, Panama und Uruguay ein besseres Rating erhielten als der jeweilige Staat. Das Prinzip des Sovereign Ceiling wurde zwar seitdem aufgelockert, aber nicht gänzlich aufgegeben. So bekennt sich Fitch Ratings6 nach wie vor zu einem Vorgehen, bei dem die Höchstgrenze für andere inländische Ratings maximal drei Notenstufen oberhalb des langfristigen Länderratings liegen kann.

Bei strenger Auslegung des Sovereign Ceiling hat die Länderrating-Herabstufung fatale Konsequenzen für die inländischen Unternehmen. Obwohl sich ihre eigene finanzielle Situation de facto nicht geändert hat, müssen sie eine Erhöhung ihrer Finanzierungskosten hinnehmen. Eine kollektive Herabstufung der Firmen eines Landes ist für die internationalen Investoren ein starkes Verkaufssignal, der Preis für die jeweiligen Assets sinkt, die von den Investoren verlangte Risikoprämie steigt. Da die Risikoprämie nicht linear in den Notenstufen ist, sondern überproportional ansteigt, resultiert mit zunehmendem Downgrade ein überproportionaler Anstieg der Finanzierungskosten. Im Extremfall werden die Unternehmen vom internationalen Kapitalmarkt abgeschnitten, die Herabstufung wirkt dann wie ein Kapitalimportverbot. Dieses Szenario lässt sich gut anhand des Beispiels Griechenland verdeutlichen. Griechenland wird von S&P derzeit mit der zweituntersten Stufe „CC“ notiert, zehnjährige griechische Staatsschuldpapiere erzielten Ende Dezember 2011 eine Rendite von rund 35%. Wenn die privaten griechischen Unternehmen aufgrund des Sovereign Ceiling einen ähnlich hohen Zins zahlen müssten, wäre der internationale Kapitalmarkt für sie de facto versperrt.

Die Begründungen der Agenturen für das Sovereign Ceiling wirken zum Teil stark tradiert. Sie nennen ein gemeinsames makroökonomisches Umfeld, in dem sich inländischer Staat und inländische Unternehmen bewegen. Folglich würden sich negative makroökonomische Schocks gleichermaßen auf die finanzielle Situation von Unternehmen und dem Staat auswirken. Dieses Argument verkennt zum einen die gewachsene Bedeutung der internationalen Handelsverflechtungen, zum anderen begründet es lediglich eine positive Korrelation zwischen den Ratings von Staat und Unternehmen, aber nicht die Setzung einer Obergrenze.

Das Hauptargument für das Sovereign Ceiling ist die staatliche „power to tax“. Bevor der Staat seine Zahlungsunfähigkeit erklärt, kann er sich mittels Inflation, Steuererhöhungen, Konfiskation von Vermögen oder Kapitalverkehrskontrollen die entsprechenden Ressourcen von den Privaten aneignen. Hierzu zwei Anmerkungen: Erstens, diese Instrumente stehen in der heutigen Welt oftmals nicht mehr zur Verfügung. So kann beispielsweise Griechenland als Mitglied der EU und des Euroraums weder Inflation erzeugen noch Kapitalverkehrskontrollen implementieren. Zweitens, selbst wenn die Instrumente zur Verfügung stehen, ist es oftmals politisch nicht opportun, sie einzusetzen. Die politischen Kosten in Form von Reputationsverlusten, Handelseinbußen oder einer zu befürchtenden Abwahl der Regierung können größer sein als die Kosten des Defaults. Die immer bedeutsamer werdende Differenzierung zwischen der „ability to pay“ und der „willingness to pay“ dürfte die Ratingagenturen dazu zwingen, zukünftig weiter vom Sovereign Ceiling abzurücken.

Dieses Abrücken vom Sovereign Ceiling betrifft nicht die Geschäftsbanken, für die dieses Prinzip eine striktere Anwendung findet. Im gesamten Zeitraum von 2001 bis 2011 übersteigt keines der Bankenratings zu irgendeinem Zeitpunkt das Länderrating des jeweiligen Staates. In der europäischen Schuldenkrise ging die Herabstufung eines Landes stets einher mit einer Herabstufung der Banken. Dies ist plausibel, denn die Schulden des Staates sind maßgeblich die Aktiva der Geschäftsbanken. Die griechischen Banken sind die bedeutsamsten Halter griechischer Staatsschuldpapiere, analoges gilt für Portugal und Irland. Eine Verschlechterung der staatlichen Bonität verschlechtert instantan die Qualität der Aktivseite der Bankenbilanz. Ein Übergreifen auf Nicht-Banken droht infolge einer verminderten Kreditvergabe.7

Neben der Sovereign-Ceiling-Politik der Agenturen ist es der Staat selbst, der über Gesetze und Regulierungen Transmissionsmechanismen von den Rating-Urteilen zur Realwirtschaft geschaffen hat. Dieser die Macht der Ratingagenturen maßgeblich begründende Punkt soll im Folgenden vertieft werden.

Herabstufung innerhalb des Investment Grades

Für die Bestimmung des Mindesteigenkapitals eines Kreditinstituts stellen die Baseler Eigenkapitalempfehlungen (Basel II) explizit auf die Urteile der Ratingagenturen ab. Diese Empfehlungen sind via Bankenrichtlinie8 und Kapitaladäquanzrichtlinie9 für alle Banken und Investmentgesellschaften in der EU verbindlich. Im Rahmen des Basel-II-Standardansatzes muss das von der Bank vorgehaltene Eigenkapital mindestens dem Volumen der Aktivposition multipliziert mit dem zugehörigen Risikogewicht und dem Solvabilitätskoeffizienten (derzeit 8%) entsprechen. Die Kapitalanforderungen an Banken sollen risikosensitiv ausgestaltet werden, d.h., risikoreiche Aktiva erhalten höhere Risikogewichte als risikoarme Vermögensgegenstände. Je größer das Risiko eines Portfolios, desto höher die Anforderungen an das vorzuhaltende Eigenkapital.10 Tabelle 1 verdeutlicht die Risikogewichte für Ansprüche an Länder in Abhängigkeit von ihrem Rating.

Tabelle 1
Risikogewichte für Forderungen an Länder
in %
Rating­note AAA bis AA- A+ bis A- BBB+ bis BBB- BB+ bis B- Unter B- Kein Rating
Risiko­gewicht 0 20 50 100 150 100

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an BIS: International Convergence of Capital Measurement and Capital Standards: A Revised Framework – Comprehensive Version, 2006, S. 19, verfügbar unter www.bis.org.

Hält eine bestimmte Bank Anleihen eines Landes, so wird an dieser Stelle das Kernproblem offensichtlich, das sich im Falle einer Rating-Herabstufung ergibt: Verschlechtert sich das Rating des Landes über einen der in Tabelle 1 ersichtlichen Schwellenwerte, so erhöht sich das Risikogewicht für das entsprechende Asset auf der Aktivseite der Bankbilanz. Die Bank muss entweder mehr Kapital für den betroffenen Vermögensgegenstand vorhalten oder ihn abstoßen, sollte kein freies oder frisches Eigenkapital zur Abdeckung der zusätzlichen Risiken verfügbar sein.11

An dieser Stelle lassen sich zwei Feststellungen treffen: Zum einen geht aus den Baseler Regularien hervor, dass schon bei Downgrades innerhalb des Investment-Bereiches regulatorische Anpassungen – z.B. Asset-Verkäufe – ausgelöst werden können. Zum anderen sind die Risikogewichte für Forderungen an Banken und Unternehmen grundsätzlich ähnlich ausgestaltet – schlechtere Ratings führen zu höheren Eigenkapitalanforderungen. Bei Anwendung des Sovereign Ceiling muss sich die Bankbilanz in der Folge des Länder-Downgrades auch im Hinblick auf Unternehmenskredite anpassen, entsprechend multiplizieren sich die Effekte.

Die jüngere Vergangenheit liefert zahlreiche Beispiele für Länder-Downgrades innerhalb des Investmentbereiches. Besonders stark diskutiert wurde die Rating-Herabstufung der USA von AAA auf AA+ durch Standard & Poor’s im August 2011. Gemäß Standard & Poor’s12 gelten die unter staatlicher Kontrolle stehenden Institute Fannie Mae und Freddie Mac als prominente Beispiele für den Ceiling-Effekt, denn ihr Rating wurde ebenfalls auf AA+ gesenkt. Ebenso verloren einige US-Versicherungen ihren Triple-A-Status. Allerdings merkt S&P gleichzeitig an, dass keines der nicht-finanziellen US-Unternehmen mit einem AAA-Rating herabgestuft wurde. Dies unterstreicht die bereits oben konstatierte Tendenz zu einer großzügigeren Auslegung des Ceiling-Gedankens außerhalb des Finanzsektors.

Nachdem der zunächst befürchtete Dominoeffekt infolge der selektiven Anwendung des Ceiling-Prinzips ausblieb, reagierte der Markt nur mit einem sehr moderaten Zinsanstieg. Die Gründe:

  • Regulatorische Anforderungen unterscheiden nicht zwischen dem Rating AAA und AA+ Rating, sodass allenfalls vereinzelt mit erzwungenen Verkäufen zu rechnen war.
  • Die besondere Stellung der USA mit der hohen Liquidität ihrer Staatspapiere und dem Status des US-Dollar als Reservewährung sorgen für zusätzliche Stabilität.
  • Die Rating-Herabstufung durch bis dato lediglich eine Ratingagentur hat weniger starke Konsequenzen, als wenn die Bonitätsherabstufung durch andere Ratingagenturen bestätigt wird.

Die US-Erfahrungen lassen sich jedoch nicht generalisieren. Im Gegenteil, die gegensätzlichen Beobachtungen aus Europa mit den teils dramatischen Downgrade-Konsequenzen implizieren eine hohe Situations-Heterogenität bei Länder-Herabstufungen innerhalb des Investment-Bereichs.

Herabstufung vom Investment zum Speculative Grade

Von besonderer praktischer Bedeutung an den Finanzmärkten ist überdies die Trennung zwischen dem Investmentbereich und dem spekulativen Bereich. Bezüglich der Relevanz für Banken kann nochmals Tabelle 1 herangezogen werden. Demnach verdoppelt sich das Risikogewicht zur Mindesteigenkapitalunterlegung eines Assets von 50% auf 100%, wenn der Emittent in den spekulativen Bereich, also von BBB- nach BB+ herabgestuft wird.

Im deutschen Rechtsraum lassen sich jedoch noch weitere Rating-induzierte Handlungsanweisungen beim Sprung über die spekulative Grenze finden, beispielsweise bei Versicherungen. Gemäß § 54 I des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) müssen Versicherungen ihr zur Deckung der Versicherungspflichten notwendiges Kapital (gebundenes Vermögen) nach den Grundsätzen der Sicherheit, Rentabilität, Liquidität, Mischung und Streuung anlegen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat das VAG konkretisiert. In einem BaFin-Rundschreiben13 heißt es unter dem Grundsatz der Sicherheit unmissverständlich: „Spekulative Anlagen sind unzulässig.“ Sollte sich bei einer regelmäßigen oder anlassbezogenen Überprüfung herausstellen, dass ein im Portfolio befindlicher Vermögensgegenstand spekulativ bewertet wird, muss sich die Versicherung gemäß dem BaFin-Rundschreiben an folgende Regel halten: Bis zu 5% des gebundenen Vermögens darf die Versicherungsgesellschaft in „High-Yield-Anleihen“ investieren, sofern das Rating des Assets nicht schlechter ist als B- (nach S&P und Fitch) bzw. B3 (nach Moody’s). Ist eine solche Zuordnung nicht möglich, sind die Anteile in der Regel innerhalb von sechs Monaten zu veräußern oder in das freie Vermögen umzubuchen.

Insgesamt wird also offensichtlich, dass auch deutsche Versicherungsunternehmen Rating-abhängigen Regularien unterliegen. Unter bestimmten Umständen können auch sie gezwungen sein, Vermögensgegenstände nach einem Downgrade zu verkaufen. Somit haben sie (mindestens potenziell) einen Anteil an der Entstehung negativer Preisspiralen. Überaus interessant ist allerdings der praktische Umgang der BaFin mit eben jenen Regularien. Unmittelbar nach dem Verlust des Investment-Grade-Ratings für Griechenland merkte die Aufsichtsbehörde in ihrem Bafin-Journal14 an, dass sie passive Überschreitungen der 5%-Quote innerhalb der High-Yield-Anlagen bis auf weiteres nicht beanstanden wird. Negativen prozyklischen Entwicklungen bei griechischen Papieren (und denen weiterer Länder, falls nötig) sollte so entgegengewirkt werden. In einer aktuelleren Ausgabe des Journal15 erweiterte die BaFin ihre Zusage bis 2013 sogar soweit, dass sie auch Anleihen im Default-Status in den High-Yield-Anlagen akzeptiert. Jedoch konnten alle Aussetzungen der „Spielregeln“ nicht verhindern, dass sich deutsche Versicherer von März 2010 (5,8 Mrd. Euro) bis März 2011 (2,8 Mrd. Euro) massiv aus griechischen Staatsanleihen zurückzogen.16

Neben den Versicherungen können Investmentgesellschaften als weiteres Beispiel für die Bedeutung von Anlagebeschränkungen dienen. Problematisch daran ist allerdings, dass es eine Fülle an Investmentfonds mit teils deutlich unterschiedlichen Risikoprofilen gibt. Dort ist auch die Anlage in spekulativen Papieren grundsätzlich zulässig. Diese Schlussfolgerung ist konsistent mit den Umfrageergebnissen von Cantor et al.:17 Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Fonds-Manager in Europa und den USA nur in etwa 20% aller Investitionsentscheidungen durch regulatorische Vorgaben zur Beachtung von Ratings angehalten werden. Wesentlich bedeutsamer ist mit rund 60% der Anteil, der sich aus den spezifischen Vereinbarungen eines Fonds mit seinen Investoren ergibt. Darüber hinaus bestätigt die Studie die Vermutung, dass die spekulative Grenze ein bedeutendes Anlagekriterium für das Fondsmanagement ist.

Hat sich ein Fonds auf ein spezielles Anlagespektrum festgelegt, so muss die Einhaltung der beschlossenen Anlagerestriktionen sichergestellt werden, wie § 27 I Nr. 5 des deutschen Investmentgesetzes vorschreibt. Weitere konkretisierende Informationen finden sich überdies für Deutschland in der Investment-Prüfungsberichtsverordnung (InvPrüfbV): Gemäß § 27 I müssen Abschlussprüfer über Verstöße der gesetzlichen und vertraglichen Anlagebestimmungen berichten. Was bedeutet dies aber für den Fall eines Downgrades, in dessen Folge der herabgestufte Vermögensgegenstand nicht mehr im Fonds gehalten werden darf? Dieses Szenario ist in § 28 I der InvPrüfbV geschildert und bezeichnet eine unbeabsichtigte Anlagegrenzverletzung. Der Prüfer hat demnach nur dann über den Verstoß zu berichten, wenn dieser nicht innerhalb von zehn Börsentagen behoben worden ist. Dies beschreibt im Umkehrschluss wiederum das (sehr knappe) Zeitfenster, das einer Investmentgesellschaft im Falle einer Rating-Herabstufung bleibt, um die notwendigen Maßnahmen – beispielsweise die Veräußerung des Vermögensgegenstandes – einzuleiten.

Das Überschreiten der Grenze vom Investment zum Speculative Grade kann – oder besser muss – massive Anpassungsreaktionen der Finanzmarktakteure auslösen. Die Wirkung wird wiederum multipliziert, wenn man sich auch hier verdeutlicht, dass keine der genannten Vorgaben ausschließlich auf Staatspapiere beschränkt sind – die Anpassungszwänge gelten demnach erneut für die Emissionen inländischer Unternehmen und Banken, wenn sie im Zuge des Ceiling-Effektes mit dem jeweiligen Land herabgestuft werden.

Europäische Zentralbank

Auch die EZB, so ein populärer Vorwurf, habe sich in die Hände der Agenturen begeben.18 Wie wirken die Rating-Urteile auf die Geldpolitik? Gemäß Artikel 18.1 der EZB-Satzung sind für die Kreditgeschäfte des Eurosystems „ausreichende Sicherheiten“ zu stellen. Die Notenbankfähigkeit einer Sicherheit wird mit Hilfe des Eurosystem Credit Assessment Framework (ECAF) konkretisiert. In diesem Rahmenwerk19 ist festgehalten, dass die EZB sich bei der Beurteilung der Bonität einer Sicherheit auf mindestens eine der folgenden Informationsquellen stützen muss: externe Ratingagenturen, interne Bonitätsanalysen der nationalen Zentralbanken, interne Ratingverfahren der Geschäftspartner und Ratingtools externer Anbieter. Bedeutsamste Informationsquelle sind die externen Ratingagenturen. Genau vier Agenturen erfüllen derzeit die einschlägigen Kriterien, nur sie werden von der EZB zu Rate gezogen: S&P, Moody’s, Fitch und die kanadische Agentur DBRS.

Die Ratings dieser Gesellschaften werden umgerechnet in die von der EZB konzipierte „harmonisierte Ratingskala des Eurosystems“. Die EZB akzeptiert grundsätzlich nur Wertpapiere, die auf dieser Skala mindestens ein Rating der Kreditqualitätsstufe 3 aufweisen. Stufe 3 entspricht einer Ausfallwahrscheinlichkeit von 0,40% über einen Zeithorizont von einem Jahr. Dieser Schwellenwert korrespondiert genau mit dem Übergang vom Investment- zum spekulativen Bereich, d.h. ein Rating der Stufe 3 bedeutet ein Rating von mindestens „BBB-“ gemäß S&P und Fitch, „Baa3“ laut Moody’s oder „BBB“ laut DBRS. Kurzum, Sicherheiten, die von den Agenturen mit einem Rating im spekulativen Bereich notiert sind, werden von der EZB als nicht notenbankfähig angesehen. Divergieren die Einschätzungen zwischen den Agenturen, so nimmt die EZB das beste Rating (first-best rule) als Grundlage für ihre eigenen Entscheidungen. Für Asset Backed Securities gelten verschärfte Anforderungen. Während der Laufzeit des Wertpapiers muss die Kreditqualitätsstufe 2 („single A“, 0,1% Ausfallwahrscheinlichkeit) eingehalten werden, zudem findet die Second-best-Rule Anwendung, d.h. nicht nur die beste, sondern auch die zweitbeste Agentur-Beurteilung muss den Bonitätsschwellenwert erfüllen.

Die EZB-Maßnahmen zur Risikokontrolle sind ein zweiter Anknüpfungspunkt für die Nutzung von Ratings.20 Um etwaige Verluste aus den Kreditgeschäften zu vermindern, differenziert die EZB den Beleihungswert der Wertpapiere in Abhängigkeit vom Rating. Zur Ermittlung des Bewertungsabschlags („Valuation Haircut“) werden die Papiere in Liquiditätskategorien eingeordnet und nach ihrer Restlaufzeit sowie ihrer Kreditqualität sortiert. Wertpapiere mit kurzer Restlaufzeit, hoher Liquidität und geringem Risiko – gemessen über ein gutes Rating – haben die höchsten Beleihungswerte und ermöglichen daher höhere Kreditaufnahmen bei der EZB. Verschlechtert sich der Marktwert eines Papiers infolge einer Rating-Herabstufung, so kann der Kreditnehmer über einen sogenannten „Margin Call“ dazu gezwungen werden, weitere Sicherheiten zu stellen.

Der Rückgriff der EZB auf die Urteile der Ratingagenturen ist grundsätzlich vernünftig. Es wäre Ressourcenverschwendung par excellence, ein paralleles eigenes Ratingsystem für private Emittenten und Emissionen aufbauen zu wollen. Etwas anders mag es sich beim Rating staatlicher Emittenten, also beim Länderrating verhalten, denn hier hat die EZB im Zweifel gar eine bessere Datenbasis als die Agenturen. Aber die bessere Datenbasis ist abzuwägen mit der forcierten Politisierung der Rating-Urteile. Vergibt die EZB Noten für die (Wirtschafts-)Politik der einzelnen Euroländer, so schlüpft sie in die Rolle eines „Oberlehrers“, und es ist unschwer zu prognostizieren, dass sie sich im Falle von Herabstufungen massiven politischen Vorwürfen ausgesetzt sehen würde bis hin zu aufkeimenden Diskussionen um ihre politische Unabhängigkeit. Anders gewendet: Ist es denkbar, dass die EZB unter der Leitung eines Franzosen das französische Triple AAA streicht? Ist es denkbar, dass die EZB unter der Leitung von Mario Draghi Italien in den spekulativen Bereich herabstuft? Nicht-europäische und politisch unabhängige Agenturen haben in diesen Fällen einen klaren Vorteil im Aussprechen unangenehmer Wahrheiten.

Das oben skizzierte Regelwerk zur Beurteilung der Notenbankfähigkeit von Wertpapieren wurde in den Jahren 2005 und 2006 erarbeitet, es ist seit 2007 in Kraft. Ex post betrachtet war die Konzeptionsphase eine Art Schönwetterperiode, denn alle Länder der Eurozone wurden damals mit „single A“ oder besser bewertet. Single A ist gemäß S&P-Skala fünf Notenstufen vom spekulativen Bereich entfernt. Die Gefahr, dass die gängigsten Papiere bei den Kreditgeschäften des Eurosystems, Staatsschuldpapiere emittiert von den Euroländern, in den spekulativen Bereich abrutschen könnten, war überhaupt nicht gegenwärtig. Es war kein Szenario, vor dem es sich zu schützen galt.

Die EZB musste dazulernen. Nachdem alle Ratingagenturen Griechenland (und später Portugal und Irland) in den spekulativen Bereich eingestuft hatten, stand die EZB vor der Wahl: Entweder strikte Anwendung der eigenen Regeln, dann hätten die griechischen Papiere nicht mehr als Sicherheit fungieren können, was die griechischen Banken von der Liquiditätsversorgung de facto abgeschnitten hätte – mit unabsehbaren Folgen für die gesamte griechische (und europäische?) Volkswirtschaft. Oder die EZB macht von der Möglichkeit Gebrauch, die eigenen Regeln auszusetzen. Dieser Weg wurde mit allen – hier nicht zu diskutierenden – Pros und Cons beschritten.

Sobald sich die Staatschuldenkrise gelegt hat und sich die Geldpolitik wieder in ruhigerem Fahrwasser befindet, wird die EZB ihr Regelwerk reformieren (müssen), um die leidvoll erfahrene Abhängigkeit von den Ratingagenturen abzumildern.

Fazit

Eine Herabstufung der Länder-Kreditwürdigkeit durch die großen Ratingagenturen kann die Stabilität des Finanzsystems gefährden. Der prozyklische Multiplikatoreffekt basiert auf der agentureigenen Politik des Sovereign Ceiling sowie auf der Einbindung von Rating-Urteilen in die Finanzmarktregulierung inklusive der Geldpolitik. Forderungen nach einer stärkeren Regulierung der Agenturen, der Schaffung von mehr Wettbewerb oder die immer wieder vorgebrachten Absichten zur Gründung einer europäischen Agentur21 gehen damit am Ziel vorbei. Ursachenadäquat wäre eine Verminderung der Finanzmarktregeln mit Rating-Bezug.22 Dies mag der EZB vergleichsweise leicht gelingen, für den Gesetzgeber wird es schwer, alternative Risikomaße zu finden, die ein geringeres prozyklisches Potenzial haben und gleichwohl handhabbar und transparent sind. Aber niemand hat behauptet, dass intelligente Regulierung ein Leichtes ist.

  • 1 Einen guten Überblick über den Stand der Diskussion liefert das Forum „Credit Rating Agencies: Part of the Solution or Part of the Problem?“, in: Intereconomics, 46. Jg. (2011), H. 5, S. 232-262.
  • 2 So zahlt beispielsweise Österreich für die Ratings rund 700 000 Euro pro Jahr; vgl. Inside S&P – Einblick in die Arbeit der Rating-Agenturen, in: Format.at Österreichs Wochenmagazin für Wirtschaft & Geld, Nr. 03/12 vom 23.1.2012.
  • 3 Vgl. A. V. Bhatia: Sovereign Credit Ratings Methodology: An Evaluation, IMF Working Paper WP/02/170, New York 2002.
  • 4 Vgl. A. Afonso, P. Gomes, P. Rother: What ‚Hides‘ Behind Sovereign Debt Ratings?, ECB Working Paper, Nr. 711, Frankfurt a.M. 2007
  • 5 Vgl. Standard & Poor’s in der Kritik: Merkel will die Macht der Ratingagenturen begrenzen, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.1.2012, http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/standard-poors-in-der-kritik-merkel-will-die-macht-der-ratingagenturen-begrenzen-1.1257894.
  • 6 Vgl. Fitch Ratings: Sovereign Rating Methodology, 2010, verfügbar nach Registrierung unter www.fitchratings.com.
  • 7 Vgl. P. Bolton, O. Jeanne: Sovereign Default Risk and Bank Fragility in Financially Integrated Economies, NBER Working Paper Nr. 16899, 2011.
  • 8 Richtlinie 2006/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.6.2006 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute.
  • 9 Richtlinie 2006/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.6.2006 über die angemessene Eigenkapitalausstattung von Wertpapierfirmen und Kreditinstituten.
  • 10 Vgl. R. H. Weber, A. Darbellay: The regulatory use of credit ratings in bank capital requirement regulations, in: Journal of Banking Regulation, 10. Jg. (2008), H. 1, S. 1-16.
  • 11 Vgl. A. K. Kashyap, J. C. Stein: Cyclical Implications of the Basel II Capital Standards, in: Federal Reserve Bank of Chicago Economic Perspectives, 28 (2004), S. 18-31.
  • 12 Vgl. Standard & Poor’s: U.S. Sovereign Rating Downgrade Has Knock-On Effects For Some Borrowers, 2011, verfügbar nach Registrierung unter www.standardandpoors.com/ratingsdirect.
  • 13 Vgl. BaFin: BaFin-Rundschreiben 4/2011 (VA) – Hinweise zur Anlage des gebundenen Vermögens von Versicherungsunternehmen, Bonn, Frankfurt a.M.
  • 14 Vgl. BaFin: BaFin-Journal – Mitteilungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, 05/2010, Bonn, Frankfurt a.M.
  • 15 Vgl. BaFin: BaFin-Journal – Mitteilungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, 06/2011, Bonn, Frankfurt a.M.
  • 16 Vgl. Rückzug: Deutsche Versicherer halbieren Griechenland-Investments, in: Financial Times Deutschland vom 9.6.2011, http://www.ftd.de/unternehmen/versicherungen/:rueckzug-deutsche-versicherer-halbieren-griechenland-investments/60063466.html.
  • 17 Vgl. R. Cantor, O. A. Gwilym, S. Thomas: The Use of Credit Ratings in Investment Management in the U.S. and Europe, in: Journal of Fixed Income, 17. Jg. (2007), H. 2, S. 13-26.
  • 18 Vgl. G. Tichy: Did Rating Agencies Boost the Financial Crisis?, in: Intereconomics, 46. Jg. (2011), H. 5, S. 232-245.
  • 19 Vgl. EZB: The Implementation of Monetary Policy in the Euro Area – General Documentation on Eurosystem Monetary Policy Instruments and Procedures, Frankfurt a.M. 2011.
  • 20 Vgl. ebenda.
  • 21 Vgl. Europäische Ratingagentur: Nessie taucht auf, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.1.2012, http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/europaeische-ratingagentur-nessie-taucht-auf-1.1264476.
  • 22 Vgl. L. J. White: The Credit Rating Agencies, in: Journal of Economic Perspectives, 24. Jg. (2010), H. 2, S. 211-226.


DOI: 10.1007/s10273-012-1333-z

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