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Der Europäische Binnenmarkt ist durch die vier sogenannten Grundfreiheiten gekennzeichnet: die Warenverkehrsfreiheit, die Personenfreizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Dabei spielte die Warenverkehrsfreiheit ursprünglich die bedeutendste Rolle, und an ihr lassen sich die Vorteile eines Europäischen Binnenmarktes aus ökonomischer Perspektive auch unter Rückgriff auf die internationale Handelstheorie besonders leicht herleiten.

Bereits die ursprünglich von Ricardo entwickelte Theorie komparativer Vorteile demonstriert die Vorteilhaftigkeit des Freihandels. Der neoklassischen Standardtheorie folgend profitieren alle Volkswirtschaften von einem Abbau von Handelshemmnissen und einer Integration der Märkte. Dies erlaubt eine stärkere Spezialisierung, durch die es vor allem zu inter-industriellem Handel kommt. Während Portugal sich dann z.B. auf die Weinherstellung spezialisiert, konzentriert sich Großbritannien auf die Tuchproduktion, sodass Portugal Wein nach Großbritannien exportiert und Tuch aus Großbritannien importiert – so das klassische Lehrbuchbeispiel. Durch das Ausnutzen komparativer Kostenvorteile entsteht im internationalen Handel ein Wohlfahrtsgewinn, der unter den beiden Volkswirtschaften geteilt wird.1

Geleitet von der Beobachtung, dass gerade zwischen Industrienationen ein Großteil des Handels nicht inter-industrieller Natur ist, sondern intra-industriell, hat die neuere Handelstheorie in den letzten 30 Jahren die Vorteile des internationalen, intra-industriellen Handels herausgearbeitet. Dieser Theorie folgend wird es durch eine Integration von Märkten möglich, Größenvorteile („economies of scale“) in der Produktion besser auszunutzen, sodass der Markt bei differenzierten Produkten eine stärkere Produktvielfalt zulässt. Dieser Theorie folgend werden z.B. Autos von Frankreich nach Deutschland exportiert und umgekehrt.2

Insgesamt lässt sich somit anhand der Theorie des internationalen Handels zeigen, dass der Abbau von Handelshemmnissen und die Schaffung eines Binnenmarktes in aller Regel Wohlfahrtsgewinne für die betroffenen Volkswirtschaften generiert.

Hinzu kommt, dass in der internationalen Handelstheorie die Vorteile einer Marktintegration, die sich auch jenseits direkter Handelsströme einfach durch die zunehmende Wettbewerbsintensität ergeben, im Gesgensatz zu den Vorteilen des inter-industriellen und des intra-industriellen Handels weitaus weniger beachtet worden sind. Da eine Marktintegration typischerweise zu einer Dekonzentration von Marktstrukturen führt, ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Wettbewerbsintensität auf Märkten zunimmt und dadurch die Preise sinken. Zudem senkt ein Abbau von Handelshemmnissen auch die Markteintrittsbarrieren, sodass auch der potenzielle Wettbewerb aus dem jeweiligen Ausland disziplinierend auf inländische Anbieter wirkt und somit eine preisdämpfende Wirkung entfaltet, von der die Verbraucher profitieren. Schließlich sind auch Wachstumsimpulse zu nennen, welche durch Marktintegration und Marktliberalisierung (insbesondere von Netzindustrien) ausgelöst worden sein dürften. Diese gehen über die oben beschriebenen, rein statischen Wohlfahrtsgewinne hinaus und dürften ökonomisch mindestens ebenso bedeutsam sein.

Wettbewerbspolitische Folgen der Marktintegration

Die Folgen der Marktliberalisierung und des Abbaus von Hemmnissen im Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital sind vielfältig. Aus wettbewerbspolitischer Sicht interessant ist zum einen die zunehmende Internationalisierung von Unternehmenszusammenschlüssen aufgrund der Freiheit des Kapitalverkehrs. Zum anderen steigen die Anreize für die Mitgliedstaaten, den Abbau von Handelshemmnissen bei Waren- und Dienstleistungen durch industriepolitische Maßnahmen zu konterkarieren. Auch wettbewerbspolitische Maßnahmen können protektionistisch wirken und eine sogenannte „strategische Handelspolitik“3 ersetzen, bei der eine Volkswirtschaft versucht, Vorteile auf Kosten einer anderen zu erlangen, indem z.B. nationale Champions unterstützt werden, um auf Märkten mit unvollständigem Wettbewerb Renten vom Ausland ins Inland zu transferieren. Das klassische Beispiel für eine solche strategische Wettbewerbspolitik zu Lasten Dritter ist die Freistellung von Exportkartellen vom Kartellverbot.

Aus diesen Gründen ergibt sich durch den Europäischen Binnenmarkt auch die Notwendigkeit einer europäischen Wettbewerbspolitik, die internationale Unternehmenszusammenschlüsse kontrolliert, internationale Kartelle verfolgt und einen etwaigen Missbrauch von Marktmacht auf dem Binnenmarkt abstellt. Eine alleinige Kontrolle auf mitgliedstaatlicher Ebene liefe Gefahr, die Interessen ausländischer Nachfrager, Zulieferer und Wettbewerber nicht hinreichend zu würdigen bzw. zu gewichten. Vielmehr könnten die Interessen der inländischen Verbraucher und Unternehmen über die Interessen ausländischer Verbraucher und Unternehmen gestellt werden.

Selbst bei einer europäischen Wettbewerbspolitik bestehen aufgrund der Freiheit des Kapitalverkehrs jedoch Anreize, in einen ruinösen Wettbewerb um Unternehmensansiedlungen und damit verbundene Arbeitsplätze und Steuereinkünfte zu treten.4 So ist denkbar, dass Länder oder Regionen in einen Subventionswettlauf um die Schaffung und/oder den Erhalt von Arbeitsplätzen treten. Die Diskussionen um die Rettung von Opel illustrieren dies sehr deutlich.

Daher ist es sinnvoll, auch die gezielte Subventionsvergabe auf mitgliedstaatlicher Ebene einer supranationalen Kontrolle zu unterziehen. Genau dies ist das eigentliche Ziel der europäischen Beihilfekontrolle, die daher den vierten Pfeiler der europäischen Wettbewerbspolitik bildet.

Eine effiziente Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten

Ganz allgemein lässt sich formulieren, dass aus ökonomischer Sicht überall dort prinzipiell ein Harmonisierungs- oder Zentralisierungsbedarf besteht, wo externe Effekte der nationalstaatlichen Politik signifikante Auswirkungen auf Bürger und Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten haben.5 Demgegenüber ist jedoch abzuwägen, inwiefern Unterschiede in nationalen und lokalen Präferenzen und Bedürfnissen einer Harmonisierung oder Zentralisierung entgegenstehen.

Zudem verhindert eine weitgehende Angleichung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen einschließlich ihres Vollzugs die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Regelungsansätzen Erfahrungen zu sammeln und so einen Lernprozess und einen Wettbewerb der Regulierungssysteme zu eröffnen. Dieses Argument steht im Gegensatz zu der Befürchtung, dass ein derartiger Wettbewerb „ruinös“ ist. Vielmehr wird unterstellt, dass ein entsprechender Wettbewerb als Lernprozess einen gegenseitigen Erkenntnisgewinn schafft.

Andererseits kann es durchaus sinnvoll sein, Kompetenzen auf die Ebene der EU zu verlagern, wenn Selbstbindungsprobleme nationaler Entscheidungsträger bestehen. Diese könnten ihre Ursache darin haben, dass die Regierungen der Mitgliedsländer aufgrund des öffentlichen Drucks bestimmter Interessengruppen nicht in der Lage sind, volkswirtschaftlich sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen. Es geht hier demnach um ein politökonomisches Argument aus der Capture-Theorie. In einer solchen Situation kann es rational und auch effizient sein, bestimmte Entscheidungskompetenzen einer anderen, vom politischen Druck weniger abhängigen Institution zu übertragen, um sich somit glaubwürdig an eine bestimmte Politik zu binden (z.B. Geldwertstabilität, Beihilfenkontrolle oder die Liberalisierung bestimmter Monopolbereiche). In der Tat hat die EU bei der Liberalisierung zahlreicher Branchen einen sehr wichtigen Impetus gegeben. Zu nennen sind hier sicherlich die Telekommunikation, die Energie, die Bahn oder die Post.

In jüngerer Zeit sind die Bestrebungen insbesondere der Europäischen Kommission, sich weitere Kompetenzen anzueignen, zunehmend in die Kritik geraten. So haben Bolkestein und Gerken in ihrer Analyse der Binnenmarktpolitik vier Befunde ermitttelt:6

  1. Der EU gelinge es nicht, sich gegen die zunehmenden protektionistischen Bestrebungen der Mitgliedstaaten erfolgreich zur Wehr zu setzen und diese abzuwehren. Der Binnenmarkt werde durch die EU-Kommission nur unzureichend geschützt.
  2. Der Binnenmarkt entwickele sich zu einer „Hochregulierungszone“, die Kommission dränge weniger auf einen Abbau von Überregulierung als auf eine möglichst weitgehende Harmonisierung „auf hohem Niveau“. Bolkestein und Gerken sprechen gar von einem Paradigmenwechsel in der Philosophie der Kommission weg vom wettbewerblichen Abbau nationaler Überregulierung hin zu deren Vereinheitlichung. Nationale Traditionen würden dabei über einen Kamm geschoren.
  3. Der Binnenmarkt werde zunehmend mit sozialpolitischen Zielen überfrachtet.
  4. Der Binnenmarkt werde auch darüber hinaus zunehmend für sachfremde Ziele missbraucht. Dabei werde die in Art. 115 EG-Vertrag angelegte Harmonisierungskompetenz immer häufiger benutzt, „um EU-Regulierungen zu schaffen, für die die EU keine Kompetenz besitzt.“ Vorgeschoben werde, „man wolle den Binnenmarkt sichern helfen, obwohl der Binnenmarkt nur marginal oder gar nicht berührt ist“. Bolkestein und Gerken sprechen gar von einer „Pervertierung des Binnenmarktauftrages“.

Diese Analyse lässt sich gut an den Vorschlägen der EU-Kommission zu Neuregulierung der Telekommunikationsmärkte illustrieren. Dort werden Bürokratie und Zentralisierung immer stärker ausgedehnt, ohne dass der Binnenmarkt mehr als marginal tangiert wäre.7 Im Gegensatz dazu sind in anderen Bereichen wie z.B. bei der Regulierung der pharmazeutischen Industrie zu wenig Kompetenzen bei der EU-Kommission verankert. Da die Preisregulierung von Medikamenten insbesondere in kleinen Ländern kaum einen Einfluss auf die Anreize hat, in Forschung und Entwicklung zu investieren, besteht hier ein klassisches Trittbrettfahrerproblem, sodass eine Harmonisierung vorteilhaft sein kann. Auch im internationalen Luft-, Schienen-, Straßen- und Seeverkehr sind diese externen Effekte nationaler Regelsysteme greifbar, doch auch hier ist es der EU vielfach nicht gelungen, sich gegen ausgeprägte mitgliedstaatliche Egoismen durchzusetzen.Bolkestein und Gerken befinden daher, dass das eigentlich Tragische sei, „dass sich die europäische Politik auf wirtschaftspolitischem Gebiet Regulierungen, die beileibe nicht EU-weit geregelt gehören, als Ersatzbefriedigung verschreibt“, während „nationale Egoismen eine europäische Politik in den Bereichen verhindern, wo sie wirklich notwendig wäre.“8

Diese Analyse ist jüngst von Roman Herzog, Frits Bolkestein und Lüder Gerken in der FAZ mit ähnlichem Befund erneuert worden.9 Die drei Autoren fordern daher von der Bundesregierung „endlich eine Kultur des kategorischen Neins für die Verhandlungen und Abstimmungen im Ministerrat zu entwickeln, wenn es um Vorhaben geht, die mit dem Subsidiaritätsgedanken unvereinbar sind oder gar gegen die europäische Kompetenzordnung verstoßen.“ Das Subsidiaritätsprinzip wird weitgehend ignoriert, die Kommission wird in Bereichen aktiv, in denen kein Harmonisierungsbedarf besteht. Als Beispiele nennen Herzog, Bolkestein und Gerken „die Schaffung eines Anspruchs auf Sozialleistungen für selbständige Frauen, die Versuche, Betriebsrenten europäisch zu regulieren, oder – schon grotesk – die Brüsseler Erwägungen zur EU-weiten Regulierung des Personennahverkehrs und von Tempolimits in Städten.“

Fazit

Insgesamt betrachtet dürfte das Binnenmarktprogramm, bestehend aus Marktintegration und Marktliberalsierung, erhebliche Wohlfahrtsgewinne ausgelöst haben. Zudem dürften erhebliche Wachstumsimpulse ausgelöst worden sein. Für die zukünftige Agenda und auch die Akzeptanz in der Bevölkerung Europas wird es wichtig sein, dem Subsidiaritätsprinzip in Europa zu einem höheren Stellenwert zu verhelfen. Allen Absichtserklärungen und rechtlichen Verankerungen zum Trotz hat es bei der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bisher de facto keine echte Rolle gespielt. Stattdessen ist die Kompetenzverteilung allein durch Machtstreben und historische Zufälligkeiten bestimmt. Dies ist sowohl aus ökonomischer als auch aus demokratietheoretischer Sicht zutiefst unbefriedigend.

  • 1 P. Krugman, M. Obstfeld: Internationale Wirtschaft. Theorie und Politik der Außenwirtschaft, München 2006; K. Rose, K. Sauernheimer: Theorie der Außenwirtschaft, 14. Aufl., München 2006.
  • 2 H. G. Grubel, P. Lloyd: Intra-Industry Trade: The Theory and Measurement of International Trade in Differentiated Products, London 1975; E. Helpman, P. Krugman: Market Structure and Foreign Trade: Increasing Returns, Imperfect Competition, and the International Economy, Boston 1987.
  • 3 J. A. Brander, J. B. Spencer: Export Subsidies and International Market Share Rivalry, in: Journal of International Economics, Nr. 18, 1985, S. 83-100; R. H. Hasse, W. Schäfer (Hrsg.): Die Weltwirtschaft vor neuen Herausforderungen – Strategischer Handel, Protektion und Wettbewerb, Göttingen 1994.
  • 4 Vgl. J. Haucap, T. Hartwich: Fördert oder behindert die Beihilfenkontrolle der Europäischen Union den (System-)Wettbewerb?, in: W. Schäfer (Hrsg.): Wirtschaftspolitik im Systemwettbewerb, Berlin 2006, S. 93-144.
  • 5 Vgl. J. Haucap, J. Kühling: Eine effiziente vertikale Verteilung der Exekutivkompetenzen bei der Regulierung von Telekommunikationsmärkten in Europa, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Nr. 55, 2006, S. 324-356.
  • 6 F. Bolkestein, L. Gerken: Protektionismus und Regulierungswut: Wie die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union gleich von zwei Seiten gefährdet wird, Handelsblatt, Nr. 58 vom 22.3.2007, S. 6.
  • 7 Vgl. J. Haucap: The Recommended Regulation of Fixed and Mobile Termination Rates: A Critical Appraisal, in: M. Cave et al. (Hrsg.): Monitoring EU Telecoms Policy 2009, Madrid 2009, S. 27-34; J. Haucap: The Regulatory Framework for European Telecommunications Markets between Subsidiarity and Centralization, in: B. Preissl, J. Haucap, P. Curwen (Hrsg.): Telecommunication Markets: Drivers and Impediments, Berlin 2009, S. 465-481.
  • 8 F. Bolkestein, L. Gerken, a.a.O.
  • 9 R. Herzog, F. Bolkestein, L. Gerken: Die EU schadet der Europa-Idee, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.1.2010, S. 6.

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DOI: 10.1007/s10273-010-1027-3