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Der europäische Binnenmarkt hat zweifelsohne die Wettbewerbssituation auf nationalen Märkten für Waren und Dienstleistungen grundlegend verändert. Eines der zentralen Ziele des Binnenmarktes war die Erschließung von Effizienzpotentialen durch die Öffnung der Märkte und die dadurch induzierte höhere Wettbewerbsintensität. Größere Märkte versprachen zudem eine bessere Nutzung von Skalenvorteilen bei dem Wegfall ineffizienter Produktionen. Zu einem Zeitpunkt, an dem der europäische Binnenmarkt weitgehend hergestellt ist, wird im vorliegenden Sonderheft diskutiert, inwieweit die so prognostizierten Entwicklungen tatsächlich eingetreten sind und wie sich dies konkret für die Märkte in Deutschland darstellt. Die Beiträge beruhen auf Vorträgen, die auf der Konferenz des Wirtschaftsdienst zum Thema „Europäischer Binnenmarkt und die Entwicklung des Wettbewerbs in Deutschland“ im November 2009 in Hamburg stattfand.

Im Mittelpunkt dieses Heftes stehen sowohl allgemeine wettbewerbsökonomische und -politische Fragen als auch branchenspezifische Entwicklungen. Deutlich wird, dass die in Zusammenhang mit der Schaffung des EU-Binnenmarktes initiierten Veränderungen oft nicht direkt auf die Wettbewerbssituation in den Mitgliedsländern wirkten. Vielmehr wurden dadurch Prozesse ausgelöst, die Voraussetzung für Marktöffnungen waren, wie etwa die Auflösung von Staatsmonopolen und die Abschaffung anderer verdeckter Markteintrittsbarrieren.

Der Beitrag von Justus Haucap zeigt die Vorteile eines einheitlichen EU-Binnenmarktes für die Wettbewerbsdynamik auf. Haucap betont aber auch, dass diese Vorteile nur zum Tragen kommen, wenn für den Binnenmarkt eine einheitliche europäische Wettbewerbspolitik gilt. Zu groß sind sonst die Anreize für nationale Regierungen, durch Förderung von „national champions“ die eigene Industrie vor allzu großer Wettbewerbsintensität zu schützen. Die Konstitutionsbedingungen des EU-Binnenmarktes zogen komplexe institutionelle Änderungen, wie etwa die Schaffung nationaler Regulierungsbehörden für netzgebundene Märkte auf nationaler Ebene und auf EU-Ebene nach sich. Der Aufsatz weist auf Probleme einer eher schlichten Harmonisierungspolitik hin: geht man z.B. davon aus, dass Preisunterschiede per se auf einen unvollkommen integrierten Markt hindeuten, verkennt man die Tatsache, dass Preise aufgrund von Kostenunterschieden durch geographisch bedingte lange Distributionswege oder wegen unterschiedlicher Konsumentenpräferenzen variieren können. Hierauf mit wettbewerbspolitischen Sanktionen zu reagieren, liefe auf wettbewerbsverzerrende Markteingriffe hinaus. Dass bei der Schaffung des europäischen Binnenmarktes die Gefahr besteht, durch zu pedantisch betriebene Harmonisierung den Gegebenheiten auf den nationalen Märkten nicht gerecht zu werden, dass weiterhin der Binnenmarkt oft vorgeschoben wird, um ganz andere Ziele, z.B. auf dem Gebiet der Sozial- oder Umweltpolitik zu erreichen, gehört zu den Herausforderungen für die europäische Wirtschaftspolitik. Trotz großer Fortschritte bestehen weiterhin Märkte mit hohem Liberalisierungsbedarf, wie z.B. schienengebundener Verkehr und Energie oder die Arzneimittelherstellung. Abschließend weist Haucap darauf hin, dass der Binnenmarkt zu erheblichen Wachstumsimpulsen geführt hat, dass aber in Zukunft eine Schwerpunktsetzung nach dem Subsidiaritätsprinzip gefragt ist, wobei Verbraucherschutz eine zentrale Rolle einnehmen sollte.

Jacques Pelkmans beschreibt den Prozess der Marktintegration über verschiedene Stadien: einer reinen Preiskonkurrenz folgt Produktdifferenzierung, schließlich Innovationswettbewerb, bis sich „europäisierte“ Firmen mit ihren Wertschöpfungsketten europaweit grenzüberschreitend aufstellen. Dabei wurden im Laufe der Weiterentwicklung des europäischen Marktes die Bestimmungen in dreifacher Weise intensiviert: eine „Erweiterung“ (widening) erfährt der Wettbewerb durch die Ausdehnung wettbewerblicher Regime auf immer weitere Sachverhalte (etwa auf bisher öffentlich im außerwettbewerblichen Bereich bereit gestellte Güter); eine Vertiefung (deepening) findet durch Verschärfung der Wettbewerbsbestimmungen statt (z.B. durch Abschaffung technischer Bestimmungen, die als Markteintrittsbarrieren und damit indirekt wettbewerbsbehindernd wirken; Harmonisierung öffentlichen Beschaffungswesens); schließlich ist eine konsequentere pro-marktwirtschaftliche Haltung in allen Politikbereichen (pro-competitive impact) zu beobachten. Der Beitrag von Pelkmans zeichnet die wechselhaften Beziehungen zwischen der deutschen und der europäischen Ebene im Laufe der Schaffung des Binnenmarktes nach. Interessant ist, dass Deutschland in der Anfangsphase als der entscheidende Verfechter strenger Regelungen auftrat und damit die Säulen der heutigen Politik wesentlich mitbestimmte. In späteren Phasen übernahm jedoch die EU-Ebene immer wieder die treibende Rolle.

In der Telekommunikationsbranche erforderte die Schaffung eines Binnenmarktes eine Öffnung der nationalen Märkte, die in Europa bei zum großen Teil noch als Staatsmonopol organisierten Systemen nicht möglich gewesen wäre. Erst Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung des Netz- und Diensteangebots ermöglichten die Einführung von Wettbewerb auf den einzelnen Teilmärkten. Die entscheidenden Impulse für diese Prozesse gingen von Direktiven der Europäischen Kommission aus. Iris Henseler-Unger analysiert in ihrem Aufsatz den Beitrag verschiedener Brüsseler Vorgaben für die Marktentwicklung und erläutert die Instrumente der Wettbewerbsbeobachtung. Zudem nimmt der Aufsatz zu verschiedenen offenen Fragen Stellung, wie etwa der Übertragung der Konzepte der Telekommunikationsregulierung auf andere Netzindustrien oder die Schaffung neuer Regulierungsinstitutionen auf europäischer Ebene.

Ein einheitlicher europäischer Markt entsteht nicht nur durch die Öffnung der Produktmärkte. Auch die Harmonisierung der die Faktormärkte betreffenden nationalen Bestimmungen prägt entscheidend den Konvergenzprozess. Die beiden folgenden Beiträge thematisieren diese Entwicklung. Gerhard Bosch beschreibt den Wandel des deutschen Arbeitsmarktes im Zuge der „Europäisierung“ von Regulierungsmustern; Stephan Paul und André Uhde diskutieren die Wettbewerbsdynamik im Bankensektor. Der Aufsatz von Gerhard Bosch weist darauf hin, dass der Wettbewerb auf den europäischen Arbeitsmärkten nicht nur durch von Brüssel initialisierte „Reformen“ dieser Märkte verändert wurde, sondern mindestens ebenso tiefgreifend durch die Deregulierung der Produktmärkte. Während diese tendenziell zu einer Ausweitung höherwertiger auf Kosten gering bewerteter Tätigkeiten hinausliefen, wurden gleichzeitig als sicher angenommene mit sehr guten Arbeitsbedingungen ausgestattete Beschäftigungsverhältnisse durch schlechter abgesicherte ersetzt. Bosch betont jedoch mit Verweis auf einschlägige Studien, dass hier die Spielräume für nationale Regulierungen in unterschiedlichem Maße genutzt wurden, so dass die deregulierenden Effekte, die indirekt über die Produktmärkte wirksam wurden, unterschiedlich intensiv sind. Ein weiteres in der Literatur ausführlich diskutiertes Thema, das später auch von Lutz Trettin in Zusammenhang mit dem Handwerk aufgegriffen wird, ist die durch die Marktöffnung stimulierte Arbeitsmigration. Hier wurden entscheidende Weichenstellungen durch die europäische Dienstleistungsrichtlinie vorgenommen. Als problematisch sieht Bosch die zunehmende Aushöhlung des Territorialprinzips durch den Europäischen Gerichtshof an, der den Geltungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie durch Berufung auf Wettbewerbsbestimmungen zunehmend enger fasst.

Paul und Uhde analysieren den Stand der europäischen Finanzmarktintegration vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise der Finanzmärkte und deren Regulierung. Sie problematisieren den Integrationsbegriff und weisen darauf hin, dass dieser nicht auf die Schaffung „gleicher“ Verhältnisse ausgerichtet sein darf, denn dies würde Unterschiede im Nachfrageverhalten der Wirtschaftssubjekte ignorieren. Am Beispiel des Retail-Banking werden die einzelnen Integrationsschritte aufgezeigt und Probleme bei der Integrationsmessung kritisch gewürdigt. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Bankensektor in Deutschland von einer relativ hohen Wettbewerbsintensität geprägt ist, dies aber nicht nur auf die von Brüssel ausgehende Finanzmarktintegration, sondern vor allem auf die Marktstruktur im deutschen Bankensektor zurückzuführen ist. Zudem weisen die Rettungsmanöver der aktuellen Krise auf eine weiterhin starke Orientierung der Banken auf ihre Heimatmärkte hin.

Der zweite Teil des Heftes enthält Analysen einzelner Produkt- und Dienstleistungsmärkte. Zunächst beschäftigt sich Lutz Trettin mit der Entwicklung auf den europäischen Handwerksmärkten. Er weist auf die für das Handwerk besonders bedeutsame Osterweiterung der EU und die damit verbundenen (erwarteten) Migrationsbewegungen hin. Insbesondere die letzte Erweiterung auf 27 Mitgliedsländer war gerade im Handwerk von der Befürchtung bestimmt, dass ein kaum zu verkraftender Strukturwandel initiiert werde. Problematisch sind dabei insbesondere die hohen Leistungs- und Entlohnungsunterscheide zwischen den alten und den neuen EU-Ländern. Erschwerend für die Analyse der Wettbewerbswirkungen ist hier die große Heterogenität des Handwerks, in dem oft Kleinbetriebe mit der Industrie konkurrieren, aber auch kleine lokal orientierte Familienbetriebe im Wettbewerb stehen. Auf der Grundlage der Auswertung einschlägiger Studien kommt Trettin jedoch zu dem Schluss, dass die EU-Erweiterung sich im Handwerk insgesamt nicht nachteilig auswirken wird, da den negativen Wirkungen durchaus positive (etwa im Bereich des Vorleistungsbezugs) entgegenstehen und die Marktöffnung deutschen Handwerkern hilft, neue Märkte in den angrenzenden Ländern zu erschließen.

Neben der Telekommunikationsindustrie ist der Verkehr ein Bereich, in dem netzgebundene Systeme in der Vergangenheit Staatsmonopole rechtfertigten, die im Zuge der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes aufgelöst werden. Der Aufsatz von Bernhard Wieland zeigt für die Verkehrsträger Schiene und Straße, dass diese Auflösung zu tiefgreifenden Veränderungen führte, ohne dass bereits ein Stadium funktionierenden Wettbewerbs in allen Teilmärkten erreicht wurde. Dabei geht es nicht nur um den Wettbewerb der einzelnen Akteure eines Verkehrssystems untereinander, sondern insbesondere auch um die Verteilung des Verkehrsaufkommens unter den verschiedenen Verkehrsträgern, den sogenannten Modal Split. Lange Zeit wurden hier explizit verkehrspolitische Ziele (Förderung des Bahnverkehrs, Anlastung von Umweltschäden bei den Verursachern) verfolgt, da dem unregulierten Wettbewerb hier keine „optimale“ Steuerung zugetraut wurde. Schließlich erwies sich wiederum die EU als wichtiger Motor für Veränderung. Erst deren Eingreifen führte etwa zu wesentlichen Schritten bei der Öffnung des Güterfernverkehrs für den Wettbewerb. Fraglich bleibt allerdings, ob der damit ausgelöste starke Wettbewerbsdruck, der sich in teilweise die Verkehrssicherheit gefährdenden Geschäftsmodellen niederschlägt und zu einer Ausweitung des Verkehrs aufgrund niedriger Preise für den Gütertransport geführt hat, zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt. So schließt der Autor denn auch mit einem Hinweis auf ein mögliches Umdenken in Bezug auf die Internalisierung externer Effekte des Verkehrs, das den „deregulatorischen Zeitgeist der 80er Jahre“ relativieren könnte.

Ein ebenfalls heftig regulierter Markt ist der für Arzneimittel. Ausgehend von einer Darstellung der Besonderheiten dieses Marktes analysiert Jan Bungenstock die durch die Schaffung des EU-Binnenmarktes ausgelösten Entwicklungen. Schon durch das Auseinanderfallen von Konsumenten und Kostenträgern im Gesundheitswesen ergibt sich eine äußerst komplexe Marktsituation. Zwischen Anbieter und Nachfrager treten die Krankenkassen, und damit werden Wettbewerbsüberlegungen mit einer zusätzlichen Analyseebene konfrontiert. Bungenstock stellt zunächst die Entwicklung des deutschen Arzneimittelmarktes dar: trotz der von einigen Regierungen angestrebten Begrenzung der Arzneimittelausgaben der GKV wuchsen die Umsätze der Pharmaindustrie im letzten Jahrzehnt mit beeindruckenden Raten. Obwohl wegen der Überlagerung der Wettbewerbssituation auf den Arzneimittelmärkten durch die Regulierung des Gesundheitswesens Einflüsse der europäischen Ebene auf den deutschen Markt nur schwer identifiziert werden können, leitet Bungenstock einen merklichen Einfluss des Binnenmarktes etwa aus dem gestiegenen Grad der Internationalisierung des Marktes ab. Allerdings gehen auch wesentliche Impulse für eine Intensivierung des Wettbewerbs von nationalen Regulierungsbestrebungen aus.

Viele Verlautbarungen der Europäischen Kommission betonen, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt letztendlich dem Verbraucher dient. Der Beitrag von Franziska Rischkowsky zeigt auf, dass das eine relativ neue Entwicklung ist. Zunächst galt der Binnenmarkt als Instrument zur Verbesserung der Angebotsbedingungen durch die Ausschöpfung von Produktivitätspotentialen im Wettbewerb. Erst allmählich bildeten sich die einzelnen Elemente des Verbraucherschutzes heraus. Wesentlich ging es dabei um die Förderung des Vertrauens der Verbraucher in den gemeinsamen Markt. So wurde auch die Vermutung, das schleppende Vorankommen des EU-Binnenmarktes hänge mit der zögerlichen Haltung der Verbraucher gegenüber grenzüberschreitenden Transaktionen oder gegenüber ausländischen Anbietern zusammen, zum Anlass genommen, eine neue Verbraucherschutzrichtlinie auf den Weg zu bringen. Im Zentrum steht eine Vereinheitlichung der Verbraucherrechte sowie der Mechanismen zu ihrer Umsetzung; insbesondere sollen dem Verbraucher mehr Informationen über (zunehmend auch über das Internet) angebotene Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden. Eine darüber hinausgehende Vereinheitlichung der verbraucherpolitischen Maßnahmen oder eine weitere Zentralisierung von Kompetenzen auf europäischer Ebene können allerdings aus Sicht der Autorin nicht ökonomisch begründet werden.

Ein Bereich, in dem sich die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes als besonders schwierig erwies, ist der Einzelhandel. Michael Wortmann führt dies auf die grundsätzlich verschiedenen, zum großen Teil durch entsprechende Regulierungen bewahrten Marktkonfigurationen in den EU-Mitgliedsländern zurück. Er zeichnet die Internationalisierungsstrategien einzelner Kategorien von Anbietern nach. Auffällig ist, dass europäische Initiativen zum Abbau von Markteintrittsbarrieren, wie sie in anderen Märkten in großem Umfang zu beobachten sind, im Einzelhandel keine allzu große Rolle spielen. Die Europäisierungsstrategien der Unternehmen folgen vielmehr einer auf Effizienzsteigerung und Marktexpansion beruhenden Internationalisierungsstrategie, die nur sehr indirekt vom EU-Binnenmarkt beeinflusst wird.

Mit den vorliegenden Beiträgen wurden Integrationsprozesse auf einzelnen Märkten beispielhaft skizziert und die Rolle der EU-Binnenmarktpolitik hierbei analysiert. Es zeichneten sich sehr unterschiedliche Wirkungsmuster ab: von einer vom Binnenmarkt relativ unabhängigen Entwicklung (Einzelhandel) über wesentlich durch indirekte Einflüsse geprägte Wirkungsketten (Arbeitsmarkt) und EU-initiierte und getriebene Bereiche (Telekommunikation und Verkehr) bis hin zu trotz hoher Marktintegration fortbestehenden spezifisch nationalen Strukturen (Finanzmärkte) bietet sich ein breites Bild von Wirkungsszenarien unterschiedlicher Komplexität. Viele der nun zu beobachtenden Entwicklungen stellen sicherlich nicht intendierte Nebeneffekte der Binnenmarktpolitik dar; hierzu gehören etwa Maßnahmen, die eigentlich in anderen Politikbereichen anzusiedeln wären, aber mit wettbewerbspolitischen Argumenten leichter durchgesetzt werden können. Unbestritten ist wohl die Tatsache, dass durch die Generierung eines einheitlichen europäischen Marktes in jedem Mitgliedsland die Wettbewerbsverhältnisse sowie deren Beobachtung und politische Steuerung nachhaltig geprägt wurden.

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DOI: 10.1007/s10273-010-1026-4