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Die anhaltenden Asylbewerber- und Flüchtlingsströme und der Antritt einer neuen Europäischen Kommission geben Anlass, die deutsche und europäische Zuwanderungspolitik zu überdenken. Die Autoren vertreten die Auffassung, dass die bisherige Abschottungspolitik nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch ökonomisch und demografisch verfehlt ist. Die Migranten sollten frühzeitiger in den Arbeitsmarkt integriert werden und könnten mittelfristig demografische Herausforderungen besser bewältigen helfen. Darüber hinaus sollten die Lasten ihrer Aufnahme unter den europäischen Mitgliedstaaten gerechter – d.h. nach einem Quotensystem – verteilt werden.

Deutschland und Europa sehen sich in jüngster Zeit mit einer neuen Welle von Flüchtlingen und Asylsuchenden konfrontiert. Bei ihrer Bewältigung prallen humanitäre Motive, die für eine schnelle und unbürokratische Aufnahme der politisch Verfolgten und der unter Kriegen und Konflikten leidenden Menschen sprechen, auf Abwehrreaktionen der einheimischen Bevölkerung und der Politik. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik europäischer Staaten setzte in den vergangenen Jahrzehnten vor allem auf Abschreckung und Abschottung. Dieser Politikansatz ist gescheitert, denn die letzten Ereignisse von den Ergebnissen der Europawahlen bis zum Erstarken nationaler Bewegungen (wie etwa der „Pegida“ in Deutschland) zeigen die Notwendigkeit eines offensiven Dialogs über die Erfordernisse und Chancen humanitär bedingter Zuwanderung. Auch deshalb bedarf es einer besseren Koordination auf europäischer Ebene, denn aus ökonomischer Sicht weist die Aufnahme von Flüchtlingen den Charakter eines öffentlichen Gutes auf: Den humanitären Interessen eines Empfängerlandes ist auch dadurch Genüge getan, dass ein anderes Land sich zur Aufnahme bereit erklärt. Ohne Koordination fällt daher die Hilfsbereitschaft einzelner Staaten zu gering aus.

Vor diesem Hintergrund klammern wir die Fragen geordneter Zuwanderung aus anderen Motiven (z.B. zur Familienzusammenführung oder aus legalen, ausschließlich ökonomischen Beweggründen) aus. Zudem interessiert uns hier nicht, ob Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge auch reine Wirtschaftsflüchtlinge sein können.1 Wir unterstellen, dass zunächst geholfen werden muss und dass ein soziales Europa und Deutschland den eigenen humanitären Standards durch wirksame Hilfe gerecht werden sollen. Dies schließt ein, dass Asylberechtigungen fair und effizient geprüft werden und Kriegsflüchtlinge eher einen temporären Aufenthalt suchen als eine permanente Zuwanderung – zumindest wenn eine Chance auf Besserung im Herkunftsland besteht.

Wir gehen des Weiteren davon aus, dass die weltweite politische Entwicklung und humanitäre Gründe für eine weitere Zunahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen sprechen. Es wird deshalb erforderlich sein, sich weiteren, bisher ungeklärten ökonomischen Fragen zu stellen: Entspricht es europäischer Solidarität, größere Unterschiede in der Lastenverteilung zwischen den europäischen Staaten hinzunehmen? Wenn nein, wie könnte eine fairere Lastenverteilung aussehen? Sollen Flüchtlinge und Asylbewerber2 an ihrer wirtschaftlichen Grundsicherung beteiligt werden, oder will man ihnen dies versagen? Dies schließt auch die Frage ein, wie viel räumliche Mobilität ihnen bis zur Anerkennung und auch danach im Aufnahmeland, aber auch in der gesamten Europäischen Union (EU) gewährt werden kann. Welche Bedeutung hat der Antritt der neuen Europäischen Kommission mit einem Migrationskommissar?

Ausmaß der weltweiten Flüchtlingsströme

Während 1992 weltweit etwa 18 Mio. Personen oder 11% aller Migranten als Flüchtlinge gezählt wurden, war diese Zahl bis 2009 auf 9 Mio. oder 4% aller Migranten gesunken.3 Zuletzt ist ihre Zahl jedoch wieder stark angestiegen. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 2013 weltweit 16,7 Mio. Flüchtlinge gezählt.4 Die große Mehrheit (86%) hielt sich in Entwicklungsländern auf. Im Jahr 2013 war Pakistan das Land, das die größte Zahl von Flüchtlingen beherbergte (1,6 Mio. Personen). Mit etwas Abstand folgten mit dem Iran, Libanon, Jordanien und der Türkei weitere Länder im Nahen Osten, die ebenfalls eine größere Zahl von Flüchtlingen aufgenommen haben. Europäische Länder sind in dieser Auflistung nicht auf den vorderen Plätzen. Die Herkunftsländer, denen die größte Zahl von Flüchtlingen entstammt, waren Afghanistan und Syrien mit jeweils rund 2,5 Mio. Flüchtlingen im Jahr 2013. Die Hälfte aller Flüchtlinge war unter 18 Jahre alt und lediglich 4% war älter als 60 Jahre.

Aber diese Zahlen sind nur als „Spitze des Eisberges“ anzusehen. Denn Flüchtlinge im engeren Sinn stellen nur eine Teilgruppe der unfreiwillig migrierenden Personen dar. So gehen die Vereinten Nationen für 2013 weltweit von mehr als 51 Mio. Personen aus, die als unfreiwillige Migranten oder Vertriebene bezeichnet werden können. Darunter waren etwa zwei Drittel (33,3 Mio.), die innerhalb ihres Herkunftslandes migrierten. Zu den Ländern, in denen sich 2013 eine große Zahl dieser Personen aufhielt, gehören Syrien (6,5 Mio.), Kolumbien (5,4 Mio.), die Demokratische Republik Kongo (3 Mio.) und der Sudan (1,9 Mio.). Insbesondere in Syrien ist die Zahl der Vertriebenen zuletzt enorm gestiegen.

Obgleich europäische Länder den Zahlen zu folge keine Hauptrolle zu spielen scheinen, rückt Europa in jüngster Zeit zunehmend in den Fokus der weltweiten Asyl- und Flüchtlingsdebatte. Nicht weit entfernt von den Außengrenzen der EU toben Bürgerkriege, herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände und werden Menschen politisch verfolgt. Syrien ist dafür nur ein Beispiel – aber unter anderem hier drängt die Zeit, eine entschlossene Reaktion Europas auf die dramatische Flüchtlingsproblematik herbeizuführen. Denn einzelne Staaten in der Region um Syrien stehen kurz vor dem Kollaps. So hat zum Beispiel allein der Libanon 2013 mehr als 1,1 Mio. syrischer Flüchtlinge aufgenommen (vgl. Abbildung 1). Hinzu kommt im Libanon eine größere Zahl weiterer Flüchtlinge, z.B. aus Palästina und dem Irak, so dass rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung des Libanon Flüchtlinge sind – mit steigender Tendenz. Der Libanon steht damit exemplarisch für viele Regionen der Welt, wo Fluchtbewegungen und Migrationsdruck besonders groß sind, die Wanderungen der Menschen aber überwiegend in der Region enden und so die bereits bestehenden humanitären und wirtschaftlichen Probleme weiter verschärfen. Vor allem in Nordafrika und im Nahen Osten zeichnet sich eine dramatische Entwicklung ab. Die Zahl der Flüchtlinge ist in diesen beiden Regionen allein 2013 um 64,7% gestiegen.

Abbildung 1
Syrische Flüchtlinge, 2013
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1 Ohne die Türkei.

Quelle: UNHCR: Syrian Refugees in Europe: What Europe Can Do to Ensure Protection and Solidarity, Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, Genf 2014.

Derzeit erreicht nur ein Bruchteil der weltweiten Flüchtlinge die Grenzen Europas. So sind zum Beispiel bislang lediglich rund 4% der syrischen Flüchtlinge nach Europa gekommen (rund 120 000 Personen; vgl. Abbildung 1). Dazu passt die Erkenntnis, dass nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge und Vertriebenen überhaupt Asyl beantragt. Nach Angaben der Vereinten Nationen waren dies 2013 weltweit rund 1 Mio. Personen. Zu den Ländern, in denen eine hohe Zahl von Anträgen auf Asyl gestellt wird, gehören die USA, Südafrika sowie Deutschland.

Entwicklung der Zahl der Asylsuchenden in Deutschland

In Deutschland hat sich die Zahl der Asylsuchenden zuletzt deutlich erhöht. 2014 waren bis einschließlich November rund 155 000 Erstanträge eingegangen.5 Dies entspricht einem Anstieg um 55,4% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die Herkunftsländer mit den meisten Erstanträgen sind Syrien, Serbien und Eritrea. Dennoch erreicht die Zahl der Asylanträge in Deutschland keine Dimension, die einen Vergleich aushält mit dem, was den Staaten in den Fluchtregionen dieser Welt an Lasten und Verantwortung aufgebürdet wird. So müssen etwa die Nachbarstaaten Syriens derzeit ein Vielfaches der aktuellen deutschen Zahlen bewältigen (vgl. Abbildung 1).

Auch historisch gesehen bleibt die Zahl der Asylanträge in Deutschland auf einem vergleichsweise geringen Niveau (vgl. Abbildung 2). In den vergangenen 25 Jahren wurden die meisten Anträge 1992 registriert (knapp 440 000). Danach war ihre Zahl stark rückläufig und erreichte im Jahr 2007 einen Tiefststand von rund 20 000 Erstanträgen. Bis 2013 zeigte sich ein erneuter Anstieg, der sich auch 2014 fortgesetzt hat. In der Betrachtung seit Beginn der 1990er Jahre stellt die Zahl für 2013 (rund 110 000 Erstanträge) den vorläufig höchsten Wert seit 1996 dar. Dieser Wert wurde jedoch 2014 noch übertroffen (vorläufige Schätzungen belaufen sich auf 200 000). Für 2015 rechnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit etwa 230 000 Menschen.6

Abbildung 2
Asylanträge in Deutschland, 1990 bis 2013
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Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Das Bundesamt in Zahlen 2013 – Asyl, Nürnberg 2014, http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Flyer/flyer-schluesselzahlen-asyl-jahr-2014.pdf?__blob=publicationFile (5.2.2015).

Überfällige Reformen in Deutschland und Europa

Die derzeitige Situation rund um Syrien ist vermutlich nur eine erste Andeutung dessen, was Europa künftig zu erwarten hat. Jüngste Vorfälle im Mittelmeer, wo vermehrt Flüchtlinge aus Nord- und Zentralafrika versuchen, sich auf dem Seeweg nach Europa durchzuschlagen, sind weitere Indizien für eine sich verschärfende Gesamtsituation.7 Denn die Welt steht insgesamt womöglich am Beginn einer neuen großen Migrationswelle, deren Hauptursachen Kriege, Hunger, Naturkatastrophen, Krankheit, Armut und die Verfolgung von Minderheiten sind. Vor diesem Hintergrund ist eine Reform der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik überfällig. Die bisherige Politik ist vom „Festungsdenken“ geprägt – wie auch die europäische Zuwanderungspolitik insgesamt.

Der bisherige Ansatz kann jedoch die Menschen weder von der Flucht in Richtung Europa abhalten noch eine angemessene Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU verwirklichen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass sich verschärfte Grenzkontrollen keineswegs als Allheilmittel erwiesen haben.8 Die betroffenen Flüchtlingsströme haben sich in der Regel schon nach kürzester Zeit Ausweichrouten gebahnt und Wege gefunden, die Kontrollen zu umgehen. So zeigt eine Studie für die USA, dass die enormen Ausgabensteigerungen auch unter der Regierung von Präsident Obama nur zu einer risikoreicheren illegalen Einwanderung geführt, Einwanderung insgesamt aber nicht verhindert hat. Die Untersuchung ermittelt zudem in einer kontrafaktischen Analyse, dass ohne diese kostspieligen Maßnahmen erheblich weniger Mexikaner illegal in den USA leben würden.9

Aber die europäische Abschottungspolitik ist auch ökonomisch verfehlt. Sie versucht vergeblich, eine strikte Trennung zwischen Flucht und Wirtschaftsmigration bürokratisch aufrecht zu erhalten. Stattdessen sollte die immer stärkere Verflechtung von Wanderungsmotiven und dem eigenen Arbeitskräftebedarf („Fachkräftemangel“) berücksichtigt werden. Auch wenn die Qualifikationen von Flüchtlingen und Asylbewerbern im Vergleich zu Arbeitsmigranten in Deutschland nach wie vor im Durchschnitt etwas geringer ausfallen dürften,10 so bringt doch ein beachtlicher Teil gute berufliche Qualifikationen mit, die auf vielen europäischen Arbeitsmärkten gesucht sind. Flüchtlinge dürften auch überdurchschnittlich motiviert sein, was z.B. in den USA dazu führt, dass ihre Arbeitsmarktergebnisse nach gewisser Zeit diejenigen von Arbeitsmigranten übertreffen.11 Auch in Kanada und Australien zeigt sich im Zeitverlauf eine Konvergenz der Erwerbsbeteiligung und der Verdienste von Einwanderern mit verschiedenen Einreisegründen.12

Notwendiger Schritt: erleichterter Arbeitsmarktzugang

Verbreitete Arbeitsmarkthürden und Arbeitsverbote führen jedoch dazu, dass Asylsuchende häufig als illegale Einwanderer betrachtet werden und ihre durchaus vorhandenen Potenziale nicht einbringen können.13 Flüchtlinge sollten deshalb für die Dauer ihrer Prüfverfahren eine regional beschränkte legale Arbeitsmöglichkeit erhalten. Nach ihrer Anerkennung sollte die regionale Beschränkung sogar entfallen. Damit sollten sie zumindest einen Teil ihres Lebensunterhaltes selbst erwirtschaften, statt dass sie für alle Seiten kostspielig zur Untätigkeit gezwungen werden. Das schafft im Fall ihrer späteren Anerkennung verbesserte Start- und Integrationschancen und im Fall einer Rückkehr in ihre Heimat hilft es der dortigen Wirtschaft. Auch der Übergang in ein reguläres Zuwanderungsverfahren muss für gut qualifizierte Flüchtlinge unbürokratisch möglich werden.14 Es ist ökonomisch nicht nachvollziehbar, dass bislang Wege versperrt bleiben, von denen europäische Staaten mittel- und langfristig profitieren könnten.

In Deutschland sind in dieser Hinsicht kürzlich wichtige Änderungen auf den Weg gebracht worden. So wurde unter anderem der Arbeitsmarktzugang für Asylbewerber und Geduldete erleichtert. Diese dürfen nun nach drei Monaten eine Arbeit aufnehmen. Zuvor betrug diese Frist für Asylbewerber neun Monate und für Geduldete zwölf Monate. Des Weiteren wurde die bisherige Residenzpflicht abgeschafft und die Vorrangprüfung eingeschränkt. Diese Änderungen sollten den betroffenen Personen früher die Gelegenheit geben, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten und ihre Start- und Integrationschancen erheblich verbessern. Auch wenn diese Schritte zu begrüßen sind, so werden nationale Alleingänge das Problem, vor dem Europa als Ganzes steht, nicht lösen können. Die Aufgabe der Vorrangprüfung und eine größere räumliche Arbeitsmobilität im Aufnahmeland und nach Anerkennung auch innerhalb der EU erscheinen für einen größeren Arbeitsmarkterfolg der Flüchtlinge wünschenswert.

Abbildung 3
Asylbewerber in der EU, 2013, absolut
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Quelle: Eurostat: Asyl in der EU28: Deutlicher Anstieg der registrierten Asylbewerber auf nahezu 435 000 in der EU28 im Jahr 2013, Eurostat Pressemitteilung STAT/14/46, 2014.

Verteilung der Asylsuchenden in Europa

Bisher war für Asylsuchende jeweils der EU-Staat zuständig, den die Flüchtlinge als erstes erreichen – das sollten also vor allem die Mittelmeeranrainer Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Malta und Zypern sein. Allerdings bestätigt sich diese Annahme in den Zahlen der Asylbewerber für 2013 (noch) nicht, wie Abbildung 3 verdeutlicht. Die Auflistung führen die bevölkerungsreichen Länder Deutschland und Frankreich vor Schweden an. Italien liegt nur an fünfter Stelle, wobei jedoch zu beachten ist, dass sich dort die Zahl der Flüchtlinge in den ersten neun Monaten des Jahres 2014 gegenüber dem Vorjahreszeitraum bereits mehr als vervierfacht hat (von knapp 30 000 auf 140 000 Personen).

In Abbildung 4 werden die absoluten Zahlen der Asylbewerber im Jahr 2013 ins Verhältnis zur Bevölkerung und zur Wirtschaftskraft des jeweiligen EU-Mitgliedstaates gesetzt. Nun ergibt sich ein abweichendes Bild. So verzeichneten Schweden und Malta im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl die höchsten Asylbewerberquoten. Deutschland belegt die siebte Position mit 1575 Asylbewerbern pro 1 Mio. Einwohner. Gleich eine ganze Reihe von Staaten erhielt weniger als 100 Asylbewerber pro 1 Mio. Einwohner (darunter waren z.B. auch die Mittelmeeranrainer Spanien und Portugal). Setzt man die Zahl der Asylbewerber in den EU-Mitgliedstaaten ins Verhältnis zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, befindet sich erneut Malta auf einer Spitzenposition. Deutschland liegt hier auf der achten Position. Osteuropäische Staaten sowie Spanien und Portugal haben gemessen an ihrer Wirtschaftskraft eine vergleichsweise geringe Zahl von Asylanträgen erhalten.

Unabhängig vom gewählten Indikator der Asylbewerberintensität zeigen sich erhebliche Unterschiede in der Verteilung der Asylbewerber zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Ohne Frage ist die derzeitige Regelung nicht mehr praktikabel und verantwortbar. In diesem Zusammenhang hat eine Studie ermittelt, dass es eines Transfers von bis zu 40% aller Asylanträge bedürfte, um eine faire Verteilung zwischen den EU-Staaten zu erreichen.15

Abbildung 4
Asylbewerber in der EU, 2013, relativ
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1 Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (in Mrd. Euro).

Quellen: Eurostat: Asyl in der EU28: Deutlicher Anstieg der registrierten Asylbewerber auf nahezu 435 000 in der EU28 im Jahr 2013, Eurostat Pressemitteilung STAT/14/46, 2014; sowie statistische Datenbank.

Fairness und Verlässlichkeit durch ein Quotensystem

Eine faire Verteilung wäre wünschenswert. Zu diesem Zweck sollte in der EU endlich ein verlässliches Quotensystem nach objektiven Kriterien und mit einem transparenten Verteilungsschlüssel (etwa unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft) geschaffen werden, das die Verteilung von Flüchtlingen in die einzelnen Mitgliedstaaten angemessen organisiert. Das bereits 2010 errichtete Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) sollte in diese Fragen stark eingebunden sein und insgesamt mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden.

Ganz konkret kann sich ein Verteilungsschlüssel für Asylbewerber in der EU an bereits etablierten Kriterien orientieren:

  1. Bevölkerungszahl,
  2. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit,
  3. politischer Einfluss (z.B. Zahl der Sitze im EU-Parlament),
  4. räumliche oder kulturelle Nähe zu bestimmten Flüchtlingsgruppen,
  5. Bevölkerungsdichte bzw. demografische Engpässe.

Aus ökonomischer Sicht ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der einzelnen EU-Mitgliedstaaten ein zentrales Kriterium. Auch die wichtigste Einnahmequelle des EU-Haushaltes wird anhand dieses Kriteriums berechnet („BNE-Eigenmittel“). Abbildung 5 stellt deshalb exemplarisch für 2013 dar, welche Auswirkungen die Anwendung dieses Kriteriums für die Verteilung der Asylbewerber in der EU gehabt hätte. Dem Anteil der Asylbewerber in den einzelnen Staaten 2013 werden die jeweiligen Anteile am EU-Bruttoinlandsprodukt gegenübergestellt. Entsprechen sich beide Werte, befindet sich das Land auf der 45°-Linie. Dies ist z.B. für Frankreich der Fall, das 2013 einen seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechenden Anteil an Asylsuchenden hatte. Gemessen an diesem Kriterium haben Schweden und Deutschland hingegen überdurchschnittlich viele Asylbewerber aufgenommen, während ihr Anteil in Großbritannien, Italien und Spanien zu gering ausgefallen ist.

Abbildung 5
Asylbewerber im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt, 2013
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1 Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (in Mrd. Euro).

Quellen: Eurostat: Asyl in der EU28: Deutlicher Anstieg der registrierten Asylbewerber auf nahezu 435 000 in der EU28 im Jahr 2013, Eurostat Pressemitteilung STAT/14/46, 2014; sowie statistische Datenbank.

Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung eines Quotensystems sollten jedoch auch innerhalb eines solchen Systems flexible Möglichkeiten für einzelne Staaten geschaffen werden, sich aus anderen Gründen stärker zu engagieren. Dies könnte etwa aufgrund demografischer Engpässe der Fall sein und etwa für Schweden sowie Deutschland gelten. Keinesfalls muss aus Abbildung 5 geschlossen werden, dass beide Länder „zu viele“ Flüchtlinge erhalten. Dies müsste auch unter dem Gesichtspunkt analysiert werden, ob nicht die Aufnahme von Flüchtlingen über ganz Europa hinweg angesichts der großen Probleme ausgeweitet werden sollte. Eine Quote sollte nur eine untere verpflichtende Mindestgrenze darstellen.

Dass ein Quotensystem zur Verteilung der Asylsuchenden in der Praxis funktioniert, zeigt nicht zuletzt das Beispiel Deutschland: Hier wird ein derartiges System seit Jahrzehnten zur Verteilung der Asylbewerber auf die einzelnen Bundesländer angewendet. Der sogenannte „Königsteiner Schlüssel“ wird jedes Jahr entsprechend der Steuereinnahmen (zwei Drittel) und der Bevölkerungszahl (ein Drittel) der Bundesländer berechnet. So hat etwa 2014 das bevölkerungsreiche Nordrhein-Westfalen einen Schlüssel von 21,2% und das wirtschaftsstarke Bayern immerhin noch 15,3%, während das Saarland einen Schlüssel von lediglich 1,2% hat und Bremen sogar nur 0,9%.16 Das System des „Königsteiner Schlüssels“ hatte sich zuvor unter anderem bei der Verteilung der Aussiedler auf die einzelnen deutschen Bundesländer bewährt.17

„Aufbruch“ alter Strukturen durch den Amtsantritt der neuen EU-Kommission?

Der Amtsantritt des neuen EU-Kommissars für Migration, Inneres und Staatsbürgerschaft, der ehemalige griechische Verteidigungsminister Dimitris Avramopoulos, und die Aufwertung der Migrationsthematik in seinen Kompetenzen könnte Anlass für ein Überdenken der bisherigen EU-Zuwanderungspolitik bieten. Zwar war auch schon seine Vorgängerin als Kommissarin für Inneres, die Schwedin Cecelia Malmström, für Zuwanderungsfragen zuständig und hat sich dafür bereits stark engagiert. Doch die Änderung der Bezeichnung des Kommissars ist womöglich ein erstes Zeichen, dass Zuwanderungsfragen auch inhaltlich eine Aufwertung erfahren. Die Zuordnung von Migration zum Innenressort ist noch immer die Standardlösung in den EU-Ländern. Dies führt jedoch dazu, dass der Fokus vor allem auf Rechts- und Sicherheitsfragen liegt und Fragen der Integration und des Arbeitsmarktes häufig zu kurz kommen.

Auch in Deutschland zeigen sich die grundsätzliche Abwehrhaltung und der Fokus auf rechtliche Fragen unter anderem darin, dass nach wie vor das Innenministerium für Integrationsfragen zuständig ist. So wird auf lange Sicht das Sicherheitsthema die Debatte dominieren. Durch die Schaffung eines „Ministeriums für Migration und Integration“ könnte auch in dieser Hinsicht ein Befreiungsschlag gelingen. Ein solcher Schritt ist notwendig, denn das erfolgreiche „Management“ von Zuwanderung in all ihren Facetten ist entscheidend für Deutschlands künftige wirtschaftliche Entwicklung. Die im Vergleich zu den klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada und Australien relativ geringe Tradition und Popularität Deutschlands als ökonomisch gewähltes Zuwanderungsland für Arbeitsmigranten macht es notwendig, die Potenziale von Flüchtlingen und Asylbewerbern für die Erfüllung der Arbeitsmarktbedarfe besser zu prüfen.

Schlussbemerkungen

Ein Quotensystem zur Verteilung von Flüchtlingen in Europa schafft Verlässlichkeit für zukünftige Herausforderungen. Denn die Ausrichtung der künftigen europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik ist auch eine strategische Frage. So sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass zahlreiche Länder in Afrika trotz einiger Fortschritte in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung weiterhin am Anfang stehen. Viele dortige Staaten sind reich an Ressourcen, aber leicht verwundbar durch Naturkatastrophen, ethnische Konflikte, bewaffnete Ausein­andersetzungen und Kriege. Derartige Ereignisse, deren Auftreten künftig nicht unwahrscheinlicher werden dürfte, können sehr abrupt enorme Flüchtlingsströme hervorrufen.

Durch Entwicklungszusammenarbeit in Verbindung mit legalen Angeboten zur Ausbildungs- und Arbeitsmigration kann Europa jedoch dazu beitragen, Armut und Perspektivlosigkeit als eine Hauptursache von Flucht zu bekämpfen. Allerdings muss nüchtern zur Kenntnis genommen werden, dass eine entsprechende wirtschaftliche Entwicklung auch die Finanzmittel schafft, die Migration erst bewirken.18 Auch deshalb bedarf es einer Öffnung für zirkuläre Arbeitsmigration, um den Migrationsdruck insgesamt zu lindern.19

Entwicklungszusammenarbeit ist ein wichtiger Teil einer vorausschauenden Flüchtlingspolitik. Sie würde ihrer Aufgabe besser gerecht, wenn der Erfolg von Maßnahmen konsequent durch wissenschaftliche Evaluationen festgestellt würde, die einen Vergleich mit der sogenannten „kontrafaktischen Situation“ nicht scheuen.20 Auf Grundlage so gewonnener Erkenntnisse sind erfolgreiche Maßnahmen fortzuführen – und Programme mit geringem Erfolg einzustellen. Es ist wichtig, dass nicht der Abfluss von Geld oder die schlichte Durchführung einer Maßnahme der Nachweis ihres Erfolgs ist, sondern ihr Bestand vor der Erfolgskontrolle durch die unabhängige Wissenschaft.21

Europa ist in seinem historischen und kulturellen Reichtum das Ergebnis vielfältiger ethnischer Wurzeln. Auf dieser Grundlage müssen jetzt die Weichen für eine zukunftsorientierte Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik gestellt werden. Wie jüngst in einer gemeinsamen Erklärung von führenden Arbeitsökonomen aus zehn EU-Ländern gefordert,22 gilt es, die freie Mobilität von Arbeitskräften innerhalb Europas zu stärken und die Vorteile gesteuerter Zuwanderung aus Drittstaaten besser darzustellen. Denn die EU braucht nicht etwa weniger Zuwanderung, sondern eine bessere Steuerung des Zuzugs und zugleich eine besser abgestimmte und moderne europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik. Dies ist das Gebot humanitärer Verantwortung, aber dafür sprechen auch ökonomische und demografische Argumente. Konkrete Forderungen bestehen in der Schaffung eines verlässlichen Quotensystems mit objektiven und transparenten Kriterien zur Verteilung von Asylbewerbern in der EU und eines erleichterten Arbeitsmarktzuganges für diese Personengruppe.


Die Autoren danken Amelie F. Constant, Holger Hinte, Annabelle Krause, Margard Ody, Markus Schöneberger und Alexander de Vivie für wertvolle Hinweise und Anregungen. Dies ist eine gründliche Überarbeitung, Erweiterung und Präzisierung von Überlegungen, die wir zuvor als IZA Standpunkte, Nr. 75, zur Diskussion gestellt haben.

  • 1 Insbesondere klammern wir in diesem Beitrag die Diskussion um so genannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus anderen EU-Mitgliedstaaten (z.B. Bulgarien und Rumänien) aus. Hierzu vgl. H. Brücker, A. Hauptmann, E. Vallizadeh: Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien – Arbeitsmigration oder Armutsmigration, in: IAB-Kurzbericht, Nr. 16/2013; Zeitgespräch mit Beiträgen von C. Gathmann, N. Keller, O. Monscheuer, T. Straubhaar, H. Schäfer, K. F. Zimmermann, H. Brücker: Zuwanderung nach Deutschland – Problem und Chance für den Arbeitsmarkt, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 3, S. 159-179; sowie zuletzt H. Brücker, A. Hauptmann, E. Vallizadeh: Zuwanderungsmonitor Bulgarien und Rumänien: Positive Beschäftigungsentwicklung und moderat steigender Leistungsbezug, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg, November 2014.
  • 2 Zur Vereinfachung verwenden wir in der Folge die Begriffe Asylsuchende und Flüchtlinge synonym.
  • 3 Vgl. T. J. Hatton: Refugee and asylum migration, in: A. F. Constant, K. F. Zimmermann (Hrsg.): International Handbook on the Economics of Migration, Cheltenham, Northampton 2013, S. 453-469.
  • 4 Für diese und folgende Angaben vgl. Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR): Global Trends 2013, Genf 2014.
  • 5 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Asylgeschäftsstatistik für den Monat November 2014, Nürnberg 2014.
  • 6 Vgl. L. Hampel: Der lange Weg zur Arbeit, in: Süddeutsche Zeitung vom 8.1.2015, S. 19.
  • 7 Bei der Rettung von Flüchtlingen durch die italienische Marine in ihrer jetzt beendeten Operation „Mare Nostrum“ gab es leider keine hinreichende europäische Solidarität. Die humanitäre „Sicherung“ der EU-Außengrenze im Mittelmeer sollte aber eine gesamteuropäische Herausforderung sein. Es wird sich zeigen, wie die jetzt vorgesehenen europäischen Grenzschützer von Frontex die Aufgabe künftig bewältigen.
  • 8 Vgl. P. Orrenius: Enforcement and illegal migration, in: IZA World of Labor, Artikel Nr. 48 (2014).
  • 9 Vgl. D. S. Massey, J. Durand, K. A. Pren: Why Border Enforcement Backfired, mimeo, Princeton University, 2014.
  • 10 Vgl. A. F. Constant, K. F. Zimmermann: Immigrant Performance and Selective Immigration Policy: A European Perspective, in: National Institute Economic Review, 194. Jg. (2005), S. 94-105.
  • 11 Vgl. K. Cortes: Are Refugees Different from Economic Immigrants? Some Empirical Evidence on the Heterogeneity of Immigrant Groups in the United States, in: Review of Economics and Statistics, 86. Jg. (2004), S. 465-480.
  • 12 Vgl. A. B. Aydemir: Skill-based immigration, economic integration, and economic performance, in: IZA World of Labor, Artikel Nr. 41 (2014).
  • 13 Vgl. T. J. Hatton, a.a.O.
  • 14 Etwa im Rahmen eines Punktesystems und im Rahmen eines ausgebauten Zuwanderungsgesetzes, vgl. H. Hinte, U. Rinne, K. F. Zimmermann: Ein Punktesystem zur bedarfsorientierten Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland, in: IZA Research Report, Nr. 35, Bonn 2011.
  • 15 Vgl. Europäische Kommission, Directorate-General Home Affairs: Study on the feasibility of establishing a mechanism for the relocation of beneficiaries of international protection, Brüssel 2010, http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/e-library/docs/pdf/final_report_relocation_of_refugees_en.pdf (5.2.2015).
  • 16 Vgl. http://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Papers/koenigsteiner-schluessel-2014.pdf (15.12.2014).
  • 17 Vgl. S. Worbs, E. Bund, M. Kohls, C. Babka von Gostomski: (Spät-)Aussiedler in Deutschland: Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse, in: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Forschungsbericht 20, Nürnberg 2013.
  • 18 Vgl. M. A. Clemens: Does Development Reduce Migration?, in: IZA Discussion Paper, Nr. 8592, Bonn 2014.
  • 19 Vgl. A. F. Constant, O. Nottmeyer, K. F. Zimmermann: The Economics of Circular Migration, in: A. F. Constant, K. F. Zimmermann (Hrsg.): International Handbook ..., a.a.O. , S. 55-74; sowie K. F. Zimmermann: Circular migration, in: IZA World of Labor, Artikel Nr. 1 (2014).
  • 20 Vgl. F. Kugler, G. Schwerdt, L. Woessmann: Ökonometrische Methoden zur Evaluierung kausaler Effekte der Wirtschaftspolitik, in: IZA Standpunkte, Nr. 69, Bonn 2014; sowie B. Boockmann, C. M. Buch, M. Schnitzer: Evidenzbasierte Wirtschaftspolitik in Deutschland: Defizite und Potenziale, in: IZA Standpunkte, Nr. 68, Bonn 2014.
  • 21 Vgl. K. F. Zimmermann: Der Berater als Störenfried: wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung, in: Wirtschaftsdienst, 88. Jg. (2008), H. 2, S. 101-107.
  • 22 Vgl. K. F. Zimmermann, T. Boeri, P. Cahuc, W. Eichhorst, J. F. Jimeno, P. Kaczmarczyk, M. Kahanec, J. Ritzen, M. Roman, N. Smith, A. Winters: Arbeiten ohne Grenzen – Eine Agenda für Europas Zukunft. Übersetzungen dieser Erklärung sind abrufbar unter: http://www.iza.org/working_without_borders/index (15.12.2014).

Title:Access to Fortress Europe? Requirements of a Modern Asylum and Refugee Policy

Abstract:Continued flows of asylum seekers and refugees as well as the inauguration of the new EU Commission provide the basis for an intensified debate about Europe and Germany’s immigration policies. The policy of closed doors, which has been the approach for long, is too myopic – not only from a social, but also from an economic and demographic perspective. Asylum seekers and refugees offer potential which is yet to be adequately utilised. They should be integrated into the labour market as early as possible, and they may help cushion demographic disruptions in Europe. Finally, a transparent allocation system that is based on objective criteria is needed to distribute migrants in a fair and reasonable manner across Europe.


DOI: 10.1007/s10273-015-1787-x