Etablierung des Wirtschaftsdienst als unabhängige Zeitschrift
Die vergangenen acht Jahre aus der Sicht der amtierenden Chefredakteurin
von Dr. Brigitte Preissl
Der Wirtschaftsdienst wird 100 Jahre alt. Das erweckt Neugier auf die Geschicke der Zeitschrift in all den Jahren. Mit Spannung lese ich die Porträts der ehemaligen Chefredakteure aus der Zeit zwischen 1916 und 1963 und die Erzählungen meiner Vorgänger aus der jüngeren Vergangenheit.
Ich selbst übernahm die Chefredaktion der Zeitschriften Wirtschaftsdienst und Intereconomics im Jahr 2007. Das HWWA war gerade aufgelöst worden, die Bibliothek mit der des IfW in Kiel verschmolzen, und die Zeitschriften waren der neu gegründeten Stiftung „Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften“ (ZBW) zugeordnet worden. Hierin lag eine große Herausforderung: Wirtschaftsdienst und Intereconomics sollten sich ohne Rückendeckung durch ein wirtschaftswissenschaftliches Forschungsinstitut als unabhängige Zeitschriften behaupten. Ist das überhaupt zu schaffen? Diese Frage stand im Raum, sie blieb aber glücklicherweise rhetorisch. Denn die Redaktionsmitglieder zeigten sich entschlossen, die Zeitschriften nicht nur fortzuführen, sondern sie prominent und unübersehbar zu positionieren. Die Unabhängigkeit bot zudem die große Chance, wirklich neutrale Plattformen aufzubauen, die nicht von spezifischen ökonomischen Paradigmen, hauseigenen Stilen oder etablierten Forschungstraditionen, wie sie in wissenschaftlichen Instituten häufig anzutreffen sind, geprägt werden. Neutralität und Pluralität erwiesen sich in diesem Sinne als großer Vorteil.
Seit 2012 ist die Redaktion Teil des neu gegründeten Programmbereichs „Wissenstransfer Wirtschaftswissenschaften“ in der ZBW. Der Programmbereich hat die Aufgabe, einen gegenseitigen Wissenstransfer zwischen den Wirtschaftswissenschaften und dem Informationsangebot der ZBW zu etablieren. Die Redaktion ist durch ihre langjährige direkte Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsforschung ebenso wie die beiden anderen Abteilungen „Publikationsdienste“ (mit dem Repository EconStor) und „Informationsvermittlung“ (mit dem Zugangsportal EconBiz) hier besonders gefragt.
Den Anforderungen moderner Wissenschaftskommunikation und nicht zuletzt den Erwartungen von Autoren und Lesern gerecht zu werden, verlangt eine konsequente Ausschöpfung der Möglichkeiten moderner Technik. Eine professionelle nutzerfreundliche Webseite erlaubt es, sich in den vielfältigen Inhalten der Zeitschrift zurechtzufinden und – soweit möglich – schnellen Zugang zu Texten zu realisieren. Die Webseiten wurden seit 2008 in mehreren Relaunches nutzerfreundlicher, transparenter, vielseitiger und informativer.
Bei beiden Zeitschriften wurde das Layout umgestaltet, Zweifarbigkeit beendete die Zeiten grauer Bleiwüsten, es wurden Rubriken umbenannt und abgeschafft oder neue eingeführt. Im Zuge der Neustrukturierung entfiel etwa die Rubrik „Wissenschaft für die Praxis“, da dies ja das Konzept der gesamten Zeitschrift darstellt, und das „Forum“ wurde in „Ökonomische Trends‘ umbenannt. Auf den Abdruck des HWWI Rohstoffindex wird seit Anfang 2015 verzichtet.
Ein weiterer Schritt, der zu erhöhter Aufmerksamkeit in Wissenschaft und Politik führte und die Rolle der Zeitschriften als Plattform für wirtschaftspolitische Diskurse unterstützt, war die vermehrte Präsenz von Mitgliedern der Redaktion auf wirtschaftswissenschaftlichen Konferenzen und Tagungen und die Organisation von eigenen Veranstaltungen. Da ist zunächst das Engagement auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, dem Verband, der einen großen Teil der Zielgruppe des Wirtschaftsdiensts vereint, zu nennen. Hier wurden Podiumsdiskussionen zu aktuellen Themen organisiert und seit einigen Jahren gibt es einen eigenen Stand.
Die jährliche Konferenz des Wirtschaftsdienst zu einem aktuellen wirtschaftspolitischen Thema findet seit 2009 statt und wird von politischen Entscheidungsträgern und Wissenschaftlern ebenso gern wie von Verbänden und Medienvertretern besucht. Seit 2012 wird die Konferenz in Berlin durchgeführt, was insbesondere die Präsenz von Vertretern der einschlägigen Ministerien erhöht und die Teilnehmerzahl permanent hat wachsen lassen. Diese Konferenzen werden jeweils mit Partnern aus der Wissenschaft durchgeführt, woraus eine intensive Vernetzung mit der Forschungsgemeinschaft entsteht.
Darüber hinaus veranstaltet die Redaktion in Hamburg für ein breites Publikum Buchvorstellungen mit Autoren von ökonomischen Sachbüchern. Mittlerweile gab es 42 solcher Veranstaltungen, und jedes Mal ist der Sitzungssaal voll. Dazu trägt vielleicht auch die besondere Nähe zu renommierten Autoren bei, die im Anschluss an die Buchvorstellungen bereit sind, die Diskussionen in informeller Atmosphäre fortzusetzen.
Seit Ende 2007 wurde die wissenschaftliche ebenso wie die wirtschaftspolitische Diskussion von Krisen, deren Ursachen, deren Bekämpfung und deren Auswirkungen beherrscht. Naturgemäß nahmen diese Themen im Wirtschaftsdienst großen Raum ein. Neuartige Krisenphänomene forderten die Wissenschaft eindringlich zum Nachdenken über gängige Interpretationen von Störungen des Wirtschaftslaufes, über die Eigendynamik sich verselbständigender Märkte, die Konstruktion von Währungsräumen und die Funktionsweise des internationalen Finanzsystems auf. Auch die Wirtschaftspolitik musste neue Instrumente entwickeln, die unmittelbar Eskalationen verhindern, aber auch langfristig die Krisenanfälligkeit des Systems verringern konnten. Um die zentralen Themen, wie die Regulierung von Finanz- und Bankensystemen, die Konstituierung eines gemeinsamen Währungsraumes, ein geeignetes Krisenmanagement sowie die Entstehung und Rückführung übermäßiger Staatsverschuldung rankten sich ganze Bündel von Themen, die von der Redaktion des Wirtschaftsdienst in Form von Zeitgesprächen aufgenommen oder durch Einreichungen von Wirtschaftsforschern aufgegriffen wurden. Die dabei zunächst aufflammende Nachdenklichkeit wich jedoch schnell einer Rückkehr der überwiegenden Mehrheit der Zunft zu den gewohnten (und als bewährt angesehenen) Denkmustern. Wichtig war für die Redaktion in diesem Zusammenhang immer, neben den durch andere Medien für die Öffentlichkeit vertrauten gängigen Argumentationsmustern auch andere Herangehensweisen zur Diskussion zu stellen und entsprechendes Hintergrundmaterial zu liefern, so z.B. im Leitartikel von Adalbert Winkler in Heft 5/2010 zur Interpretation der Griechenlandkrise.
In ähnlicher Weise rief etwa die Staatsschuldenkrise und deren Handhabung einerseits die Vertreter von Schuldenbremsen, zum andern die Kritiker von Austeritätspolitik auf den Plan. Die Staatsschuldenproblematik löste deutlich sichtbar die Sorge um extrem risikobehaftete Finanzmarktstrategien ab. Diese Entwicklungen lassen sich über die letzten Jahre mühelos anhand von Artikeln im Wirtschaftsdienst nachvollziehen. Wie bedeutsam die Krisen auf europäischer Ebene auch sein mögen, die deutsche Wirtschaftspolitik hat ihre eigenen Themen. So gab es im Wirtschaftsdienst seit 2008 z.B. 140 Artikel rund um die Gesundheitspolitik, 107 Artikel zur Rente und 63 Beiträge zum Länderfinanzausgleich. Auch hier gilt: neben der Darstellung bekannter Argumentationen wurden auch alternative Ansätze zur Diskussion gestellt, ohne die Diskursebene zu verlassen – wie etwa in einem Aufsatz von Carl-Christian von Weizsäcker zur „Vorsorgeproblematik“ (Heft 13/2013).
Oft war der Wirtschaftsdienst Vorreiter, indem er in Zeitgesprächen Themen zur Diskussion stellte, die später breiter diskutiert wurden, zu nennen sind hier etwa das Zeitgespräch zu „Nudging“ aus Heft 11/2014, das zur „Sharing Economy“ (Heft 2/2015) oder zum Demokratiedefizit in Europa (Heft 8/2008). Das Internet wurde zum zentralen Faktor der wirtschaftlichen Dynamik, Beiträge zum Breitbandausbau, zum geistigen Eigentum in digitalen Umgebungen oder zur Netzneutralität dokumentieren diese Entwicklung. Bereits in Heft 3/2014 wurde im Zeitgespräch die Zuwanderung als Chance diskutiert, und seither erschienen 12 Beiträge zur Flüchtlingspolitik als Artikel, Leitartikel oder Kommentare im Wirtschaftsdienst.
Die Entwicklung von Wirtschaftsdienst und Intereconomics in den letzten neun Jahren hat gezeigt, dass das Heraustreten aus dem Rahmen eines Wirtschaftsforschungsinstitutes den Zeitschriften nicht geschadet hat. Im Gegenteil: Ich wage zu behaupten, dass Unabhängigkeit und Neutralität neue Möglichkeiten eröffnet haben, Inhalte für wirtschaftspolitische Diskurse breit gefächert bereitzustellen und damit die wissenschaftliche, politische und öffentliche Diskussion zu bereichern.
Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die zu dieser positiven Entwicklung den wichtigsten Beitrag geliefert haben. Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Unser Dank gilt auch allen Leserinnen und Lesern, die das Angebot wissenschaftlich fundierter wirtschaftspolitischer Information angenommen und damit unsere Strategie bestätigt haben.
Beeindruckend war die Leistung der Redaktionsmitglieder. Ein hohes persönliches Engagement, Eigenverantwortung, Kreativität und Begeisterung für neue Themen kennzeichnen die Arbeit in einem nahtlos zusammenwirkenden Team. Dies gilt für die Selektion wirtschaftspolitischer Inhalte, die strategische, organisatorische und kommunikationspolitische Weiterentwicklung der Zeitschriften ebenso wie für die Einführung neuer Angebote an Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit und nicht zuletzt die zuverlässige, von hohen Qualitätsansprüchen getragene Erstellung der Hefte. Von Anfang an hat mich diese Atmosphäre begeistert, und ich danke jeder Einzelnen und jedem Einzelnen für diese wunderbare Arbeit.
Mit Rückblick auf 2007 muss man, ohne zu übertreiben, sagen: Wir haben das geschafft!