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Wie ein Artikel entsteht: Drama in vier Akten

Dr. Hans-Hagen Härtel war Abteilungsleiter im Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA).

Erfahrungsbericht eines langjährigen Wirtschaftsdienst-Autors

von Dr. Hans-Hagen Härtel

100 Jahre Wirtschaftsdienst, und von 1980 bis 2008 bin ich als Autor dabei gewesen, auch noch nach meiner Verabschiedung als Mitarbeiter des HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung. Dank EconBIZ und dem Archiv des Wirtschaftsdienst ist mir im hohen Rentenalter noch ein Rückblick auf meine Schriften vergönnt. Von der Quantität sind es vor allem Leitartikel und Kommentare im Wirtschaftsdienst, manchmal mehrere pro Ausgabe. Beim Durchblättern des Archivs bin ich heute fast erschrocken von der schieren Menge und von der Vielfalt der Themen. Die meisten Artikel sind in höchster Zeitnot und keineswegs für die Ewigkeit verfasst. Mich überkommen Zweifel, ob diese zeitbedingten und aktualitätsbezogenen Ergüsse wirklich aufgehoben gehören. Mit nicht wenig Herzklopfen habe ich das eine und andere Produkt aufgerufen und war erleichtert, dass ich nach der Lektüre nicht gleich im Erdboden versunken bin.

Überkommt mich im Rückblick Befriedigung oder gar Autorenstolz? Nur bedingt. Mir ist heute noch klarer als damals, dass die Leser des Wirtschaftsdienstes nicht allein den Autoren, sondern auch und insbesondere der Redaktion zu Dank verpflichtet sind, dass sie auf wissenschaftlichem Niveau und doch verständlich über alle wirtschaftspolitisch relevanten Themen informiert werden.

Um das Zusammenspiel von Autor und Redaktion zu illustrieren, möchte ich dem heutigen Leser einen Einblick über die Genese meiner Artikel im Wirtschaftsdienst geben. Es war jedes Mal ein spannungsreiches Ringen zwischen mir als Autor und den Redakteuren, vor allem mit dem Chefredakteur Klaus Kwasniewski. Dieses Ringen vollzog sich als Drama in vier Akten.

Erster Akt: Nur ausnahmsweise ging die Initiative für einen Artikel von mir aus. In der Regel ereilte mich der Anruf aus der Redaktion mit der als Bitte kaschierten Forderung auf einen Leitartikel oder auf einen Kommentar zur Unzeit, ich hatte genug mit meiner Arbeit zu tun. Ich empfand es aber als unhöflich, die Bitte der Redaktion aus Zeitmangel abzutun. Deshalb begründete ich meine Abwehrversuche mit Ausflüchten, beispielsweise das vorgeschlagene Thema ließe sich in der Kürze der Zeit nicht seriös abhandeln. Damit ließ sich die Redaktion nicht abwimmeln und argumentierte dagegen. Und schon befanden wir uns in einem Sparring, in dessen Verlauf mich der Ehrgeiz packte und Ideen geboren wurden, wie ich das Thema abhandeln könnte.

Zweiter Akt: Bei der Behandlung des Themas war ich keineswegs allein, sondern wiederum im Clinch mit der Redaktion, und zwar in Form der Zeilenvorgabe. Das war neben der inhaltlichen Auseinandersetzung eine sportliche Herausforderung. Am Anfang fiel es schwer, die leeren Seiten zu füllen. Doch bald kam ich an den Punkt, an dem jede neue Idee den Verzicht auf einen hart erarbeiteten und liebgewonnenen Gedanken erforderte. Nicht selten habe ich alles, was ich bis dahin erarbeitet hatte, in den Papierkorb geworfen und einen Neustart begonnen. Meist ergab ein solcher Neustarrt nicht nur eine kürzere, sondern auch eine bessere Version.

Dritter Akt: Präsent war die Redaktion während der Arbeit an dem Thema auch durch die Vorgabe des Abgabetermins. Es gibt glückliche Menschen, die sich angewöhnt haben, Verpflichtungen sofort nachzukommen und das Ergebnis ihrer Arbeit der Öffentlichkeit umgehend mitzuteilen. Ich gehöre leider zur anderen Kategorie, die ihr Zeitlimit bis zum letzten ausreizen. Es ist nicht so, dass ich zu spät mit dem Nachdenken und dem Niederschreiben anfange. Mein Problem ist es vielmehr, den Prozess des Gebärens zu beenden und das Kind in die Fremde auszusetzen. Wie oft habe ich dadurch die Redaktion, die ja gegenüber dem Verlag ihre Zeitvorgabe einhalten musste, zur Weißglut gebracht. Immerhin gab mir Klaus Kwasniewski eines Tages auch zu verstehen, dass sich das Warten stets gelohnt habe.

Vierter Akt: Wenn ich geglaubt hatte, das Kind endlich in trockenen Tüchern zu haben, klingelte gelegentlich das Telefon: Wir haben Probleme mit Ihrem Artikel, wir schlagen folgende Änderung vor. In einem solchen Moment ist der Stolz des Autors herausgefordert, der nach seiner Auffassung alles bedacht und auf das Genaueste ausformuliert hat. Und dann üben Leute Kritik, die sich mit der Materie nicht selbst beschäftigt haben. Dies ist ein kritischer Moment in der Zusammenarbeit von Autor und Redaktion.

Ich habe einen Onkel, der als Lektor in einem theologischen Verlag gearbeitet hat, ohne ein theologisches Studium absolviert zu haben. Er hatte aber ein Gespür dafür, wie die Texte der gelehrten Professoren beim Leser ankommen. Mein Onkel berichtete mir, dass er es mit zwei Kategorien von Autoren zu tun hatte. Die einen kämpften mit dem Lektor um jedes Komma. Die anderen waren für jeden Formulierungsvorschlag dankbar, der das Verständnis beim Leser erleichtern könnte.

Mir selbst wurde mein Autorenstolz zu Beginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn gewaltig auf die Probe gestellt. Ich war in Frankfurt Assistent am Lehrstuhl für Statistik. Mein Professor beauftragte mich, Materialien für einen Aufsatz über die Statistik der Berufs- und Erwerbstätigen zusammenzustellen. Mit Materialsammeln wollte ich mich nicht begnügen. Mein Ehrgeiz war es, meine eigenen Vorstellungen über das Thema zu entwickeln. Als ich den Aufsatz las, den mein Professor quasi über Nacht verfasst hatte, packte mich das Entsetzen: Nicht eine meiner Ideen war berücksichtigt. Mein Professor tröstete mich mit dem Ausspruch: Ich habe nichts von Ihnen berücksichtigt, habe aber alles gebrauchen können. In einer ehrlichen Stunde habe ich mir klar machen können, worin mein Professor mir überlegen war.

Zurück zum Wirtschaftsdienst. Mir war die Philosophie dieser Zeitschrift ins Blut übergegangen. Es ist ein Organ, das sich nicht an Spitzenökonomen wendet, sondern ein Sprachrohr sein will, das wissenschaftliche und wirtschaftspolitisch relevante Erkenntnisse für die interessierte und versierte ökonomische Basis aufbereitet. Deshalb erkannte ich die Redaktion als Filter an, der mir signalisierte, ob ich die Leser erreiche. Oft war ich von der Kritik keineswegs überrascht, betraf sie doch Formulierungen, an denen ich mühsam herumgebastelt hatte. Dann habe ich meinen Artikel noch einmal an mich genommen und ihn, gegebenenfalls in einer Nachtschicht, in Ordnung gebracht.

An dieser Stelle möchte ich meiner Redaktion noch einmal Dank sagen für die spannungsreiche und produktive Zusammenarbeit. Ich erhalte den Wirtschaftsdienst weiterhin als Freiexemplar, das ich auch noch studiere. Ich bin froh, dass diese Zeitschrift ihrer Aufgabe treu geblieben ist und wünsche ihr weiterhin Autoren und Redakteure, die sich ihr kooperativ widmen.