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Kurt Singer

Kurt Singer war Hauptschriftleiter des Wirtschaftsdienst von 1920 bis 1927.

„Mystischer Ökonom aus Hamburg“ und bedeutender Japankenner

von Helmut Leveknecht

Kurt Singer – „Hauptschriftleiter“ beim Wirtschaftsdienst, Nationalökonom, Privatgelehrter, Finanzsachverständiger, Wirtschaftsjournalist, Kulturwissenschaftler, Dichter, Übersetzer, Philosoph – , dessen Lebensweg nach 1933 einer Odyssee gleicht und dessen Schrift „Mirror, Sword and Jewel“ heute noch als eine bedeutende Einführung in die japanische Kultur gilt. Die folgenden Ausführungen sollen ein wenig dazu beitragen, diese viel begabte Persönlichkeit mit ihrem ungewöhnlichen Lebensweg zu beleuchten.

Kurt Singer, am 18. Mai 1886 in Magdeburg geboren, ist Sohn eines deutsch-jüdischen Kaufmanns aus Schlesien und einer aus England stammenden Mutter. Seine Schulzeit verbringt Singer in Hamburg. Von 1904 bis 1910 studiert er Nationalökonomie, Philosophie, Soziologie, Literatur und Kunstgeschichte an den Universitäten Berlin, Freiburg, Genf und Straßburg. Seine Lehrer sind u.a. Georg Simmel, Heinrich Wölfflin und Gustav Schmoller. 1910 schließt Singer sein Studium mit einer Promotion bei Georg Friedrich Knapp in Straßburg über „Die Motive der indischen Geldreform“ ab.

„Mit besonderer Freude verzeichnen wir es, daß bedeutende Nationalökonomen des Auslandes, darunter John Maynard Keynes uns ihre Mitwirkung versichert haben und daß auch führende Männer der deutschen Wirtschaftszweige in wachsendem Umfang den "Wirtschaftsdienst" als diejenige Zeitschrift betrachten, in der sie ihre Gedanken über die Probleme der deutschen Wirtschaftspolitik vor einem urteilsfähigen Leserkreise vertreten können. So nähern wir uns in stetiger zäher Arbeit dem Ziel, das uns die hanseatischen Gründer der Zeitschrift gesteckt haben und das, wie alle echten Schöpfungen dieser Hafenstadt, weit hinausweist über die Bannmeile Hamburgs: die Schaffung einer deutschen Wirtschaft-Wochenschrift, die durch die Klarheit der Darstellung das Gewicht ihres Urteils und die Genauigkeit ihrer Angaben sich den älteren vorbildlichen Zeitschriften des Auslandes an die Seite stellen darf.“

Kurt SingerHauptschriftleiter des Wirtschaftsdienst von 1920 bis 1927

Auf Empfehlung Knapps wird Singer von 1912 bis 1913 Privatsekretär des Bankdirektors der Hypothekenbank in Hamburg, Friedrich Bendixen. Ab September 1913 wird er als Wirtschaftsredakteur Leiter des Handelsteils des „Hamburgischen Correspondenten“. Vom Wintersemester 1913/14 an hält er Vorlesungen im Rahmen des Allgemeinen Vorlesungswesens in Hamburg.

Schon als Kind entbrennt seine Liebe zur griechischen Kultur. Sein Studienfreund, der später bekannte Romanist Ernst Robert Curtius, begeistert ihn für die von Stefan George gegründete Zeitschrift Blätter für die Kunst und führt ihn zum Kreis um George, dessen Gedanken ihm auch zum geistigen Vorbild werden. „Er liebte den deutschen Geist, der George hervorgebracht hatte, und das apollinische Griechentum, wurde aber gleichzeitig tief berührt von Bubers Forderung einer Erneuerung des Judentums: dieses gegensätzliche Miteinander gibt eine Vorstellung davon, welche Spannungen damals in der Seele eines hochbegabten deutschen Juden möglich und vorhanden waren.“1

Von Mai 1917 an arbeitet Singer auf Empfehlung des Bankiers Max M. Warburg, der auch Leiter des kaufmännischen Beirats des Hamburgischen Kolonialinstituts bzw. des HWWA ist, als „Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter” bei der Zentralstelle des Instituts. Nach der Gründung des Wirtschaftsdienst 1916 durch die Zentralstelle des Hamburgischen Kolonialinstituts (seit 1919 „Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv“) wird zunächst Paul Heile Hauptschriftleiter. Von 1920 bis 1927 kommt Kurt Singer hinzu, wo er gemeinsam mit Paul Heile und zeitweise (1924-1925) allein die Redaktion leitet. Wegen seiner vielen Kontakte kann Singer während seiner Arbeit beim Wirtschaftsdienst einige hochkarätige außen stehende Autoren gewinnen, darunter John Maynard Keynes.

Nach einem Empfang im Anschluss seines Vortrages im Jahre 1926 in Berlin erinnert sich einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, in einer kurzen – ziemlich despektierlichen – Notiz2 namentlich nur an wenige Anwesende; darunter befinden sich Albert Einstein, der Bankier Carl Fürstenberg und schließlich Kurt Singer:

„He [Einstein] was the nicest, and the only talented person I saw in all Berlin, except perhaps old Fuerstenberg, the banker [...], and Kurt Singer, two foot by five, the mystical economist from Hamburg.“

John Maynard Keynes(1883-1946) war ein britischer Ökonom, Politiker und Mathematiker. Hier äußert er sich über den Schriftleiter des Wirtchaftsdienst Kurt Singer.

1920 – ein Jahr nach der Gründung der Hamburger Universität – folgt seine Habilitation bei der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät („Das Geld als Zeichen“, Jena 1920), eine Gastprofessur für Nationalökonomie und seit 1924 die Ernennung zum außerordentlichen Professor (Privatdozent). Vom Sommersemester 1928 bis zum Wintersemester 1930/31 erhält er ebenso dort einen vierstündigen Lehrauftrag über „Weltwirtschaftslehre”.

Sein geistiger Horizont ist aber weiter gesteckt. Dies belegt u.a. 1930 die Überreichung des Walther-Rathenau-Preises für sein Buch „Platon der Gründer” (München 1927). Außerdem interessiert er sich schon sehr lange für das ferne Japan. 1931 erhält er die „ehrenvolle Einladung“, an der damaligen Kaiserlichen Universität Tokio als Gastdozent für Nationalökonomie zunächst für zwei Jahre zu lehren.

1933 beginnt sein Leben einen unbestimmten Kurs einzunehmen. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten wird Singer die Lehrbefugnis entzogen. Sein Aufenthalt wird von den Gastgebern bis 1935 verlängert, doch der nationalsozialistische Einfluss wird in Japan immer stärker. Singer kehrt Japan 1935 bis 1936 für zwei Jahre den Rücken, um in China seine begonnenen Studien über die japanische Kultur fortzusetzen. 1936 kehrt er nach Japan zurück und wird als Deutschlehrer an einem Gymnasium in Sendai an der Nordostküste der Insel Honshu geduldet. Dort freundet er sich mit dem Philosophen Karl Löwith an, der ebenso im japanischen Exil lebt und am selben Ort an der Universität lehren darf.

Doch 1938 wird Singer entlassen. Er verlässt Japan 1939 in Richtung Australien. Dort wird er, da der Zweite Weltkrieg begonnen hat, von Juni 1940 bis September 1941 als Angehöriger einer feindlichen Macht interniert, bevor sein Status als jüdischer Emigrant anerkannt wird. Danach erhält Singer in Sydney ein Forschungsstipendiat bei der Dyason Foundation for the Study of Conflict. Singer verfasst seine Studie „The Idea of Conflict“, die 1949 in Melbourne erscheint und Martin Buber gewidmet ist. Von 1946 bis 1956 erhält er zunächst einen Lehrauftrag ("fellowship"), später eine Dozentenstelle an der University of New South Wales in Sydney. 1957 erhält Singer die australische Staatsbürgerschaft.

Nach zwei Anträgen aus dem fernen Australien und erst mit Hilfe eines Anwalts aus Hamburg erhält Kurt Singer 1957 die Anerkennung auf Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts mit der Rechtsstellung eines emeritierten ordentlichen Professors und rückwirkend eingeschränkte "Emeritenbezüge".

Nur einmal noch reist Singer nach Deutschland, um im Herbst 1957 seine Schwester Edith zu suchen, die wahrscheinlich im „KZ Litzmannstadt“ (Łódź) ermordet worden ist. Anfang 1958 unternimmt er noch Kurzreisen in die Schweiz und nach Rom, und Mitte 1958 wird Athen sein neuer Wohnsitz, wo er am 14. Februar 1962 stirbt.

Erst elf Jahre nach Singers Tod erscheint 1973 sein bedeutendes Buch „Mirror Sword and Jewel“3 in London. Es ist eine kulturgeschichtliche Studie aufgrund seiner Beobachtungen, Erfahrungen und Analysen zwischen 1931 und 1939 im Land der aufgehenden Sonne, die von Fachleuten hoch gelobt wird („ein moderner Klassiker der europäischen Japanliteratur“4 ).

Bei der deutschen Version ("Spiegel, Schwert und Edelstein") handelt es sich um eine Rückübertragung ins Deutsche. Das Manuskript ist zwar auf Deutsch geschrieben worden, doch es ist verloren gegangen, als Singer es vergeblich deutschen Verlegern angeboten hat.

  • 1 Schaeder, Grete (Hg.): Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Band I: 1897-1918. Mit einem Geleitwort von Ernst Simon und einem biographischen Abriß von Grete Schaeder. Heidelberg: 1972 (1. Aufl.): S. 53.
  • 2 Hession, Charles H.: John Maynard Keynes. A Personal Biography of the Man Who Revolutionized Capitalism and the Way We Live. New York 1984: S. 225-226.
  • 3 Singer, Kurt: Mirror Sword and Jewel. A Study of Japanese Characteristics. Edited with an Introduction by Richard Storry. London 1973.
  • 4 Wolfgang Wilhelm im Vorwort der deutschen Erstveröffentlichung Spiegel, Schwert und Edelstein. Strukturen des japanischen Lebens, die erst 1991 in Frankfurt am Main erscheint (S. 8).